Lebt wohl, Familienmonster. Heidi Dahlsen

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Название Lebt wohl, Familienmonster
Автор произведения Heidi Dahlsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742748898



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bis sie meinem Opa endlich auf den Friedhof folgen konnte.

      Jahre später erfuhr ich von einer Freundin, die zu dieser Zeit Gemeindeschwester im Dorf meiner Oma war, dass sie sich um sie gekümmert hatte.

      Ich musste sie einfach fragen: „Wann hast du eigentlich meine Eltern kennengelernt?”

      „Erst als deine Oma gestorben war. Vorher habe ich die nie gesehen”, lautete ihre Antwort.

      Ich staunte nicht schlecht. Meine Eltern haben es nicht einmal geschafft, zu Lebzeiten meiner Oma, mit der Krankenschwester Kontakt aufzunehmen.

      Vielleicht waren meine Großeltern auch nur adoptiert?

      Wir fuhren immer noch gern ins Kinderferienlager, obwohl fast alle schon in der Pubertät waren.

      Eines Tages kam ein großes Paket für meine Freundin an. Ihre Mutter, die gute Genossin, die als Lehrerin in der Schule immer pflichtbewusst gegen den bösen Westen wetterte, hatte ihr die Überraschungen von der Tante aus Wiesbaden umgehend weitergeschickt.

      Wahrscheinlich sollte die Tochter nicht auf ihre Gummibärchen verzichten müssen.

      Oder sollte das Zeug nichts taugen und schnell verderben? So wurde es uns ja ständig erzählt.

      Meine Freundin saß wie eine Prinzessin auf ihrem Bett, hatte den gesamten Paketinhalt vor sich ausgebreitet und ließ sich huldigen. Denn die meisten Kinder hatten kein Glück, so etwas Besonderes jemals zu bekommen.

      Sie schnüffelten den herrlichen Duft ein, guckten neidisch und bemühten sich sehr, ganz nett zu ihr zu sein, um wenigstens eine Kleinigkeit zu ergattern.

      „Ihre Mutter muss ganz schön unsensibel sein”, dachte ich.

      In meinen Zeugnissen stand: „Elke muss lernen, ihre Meinung zu sagen.”

      Die sagte ich aber lieber nicht.

      Sport ist Mord

      Jede Art von Bewegung strengt mich an. Das war schon immer so. Deshalb ging ich zum Sportunterricht sehr widerwillig und nur, weil ich gleich in der ersten Klasse schmerzlich erfahren hatte, was Schülern, die sich vor dem Unterricht drücken, widerfährt. Das wollte ich nicht noch einmal durchmachen müssen.

      Vor unserem Hausarzt hatte ich immer noch Angst, sodass die Alternative – Arztbesuch – gar nicht erst zur Diskussion stand.

      Dank der leckeren Schulspeisung hatte ich weiterhin Figur- und Gewichtsprobleme. In der Essenspause schaffte ich es sogar, zweimal Nachschlag zu holen. Mindestens dreimal in der Woche trainierte ich dies und hatte Erfolg, denn es blieb im Laufe der Zeit viel an meinen Hüften hängen.

      Die Lieblingsaufforderung meiner Mutter: „Reiß dich zusammen und hab dich nicht so!!!”, verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Unter diesem Motto stand auch mein Gang in die verhasste Turnhalle.

      „Nur fünfundvierzig Minuten, dann ist alles vorbei”, murmelte ich immer wieder vor mich hin.

      Aber fünfundvierzig Minuten können lang und qualvoll werden.

      Alle Sportarten, bei denen man sich festhalten konnte oder sogar Bodenkontakt hatte, überstand ich so einigermaßen. An der Kletterstange jedoch hing ich ganz unten – wie festgeklebt. Die Erdanziehung war an dieser Stelle sicherlich besonders stark. Jede Anstrengung kam mir doppelt so schwer vor. Auch beim Lauf, egal wie weit oder lange, kämpfte ich mit meinen Massen um die Wette.

      Es war nie ein schnelles Vorwärtskommen möglich.

      Beim Hochsprung kam ich gar nicht hoch und den Bock hopste ich nur an – mir fehlte jeglicher Schwung.

      War das eine Qual.

      Mein Vater wollte mir auf die Sprünge helfen und für den notwendigen Schwung sorgen, deshalb baute er in seinem Garten nicht nur Gemüse an, sondern auch eine Hochsprunganlage für mich ganz allein, an der ich üben konnte – bis zum Umfallen.

      Über eine Höhe von dreißig Zentimeter kam ich gut rüber. Fünfzig Zentimeter schaffte ich auch noch – aber dann: Anlauf – Sprung und flutsch lag die Stange mit mir auf der Wiese.

      Meinem Vater kam eine tolle Idee, wie er seiner steifbeinigen Tochter, also mir, ganz schnell zu mehr Triebkraft verhelfen konnte.

      Er schnitt vom Johannisbeerstrauch Zweige ab. Ich ahnte nichts Schlimmes und setzte noch einmal voller Elan zum Absprung an. In diesem Moment klatschte er die Ruten kraftvoll auf meine nackigen Hinterbeine.

      Der Schreck hat mich jedoch auch nicht höher springen lassen. Den Schmerz und die Demütigung habe ich nie vergessen.

      In der Bibel soll ja stehen: „Ehre deine Eltern”, oder so ähnlich. Also wird mein Vater schon gewusst haben, wie weit er seine Erziehungsarbeit ausbauen kann.

      „Sei liebevoll zu deinen Kindern und behandle sie wenigstens etwas respektvoll”, steht wahrscheinlich nicht darin, wäre aber auch nötig.

      Schwimmen hat mir auch mein Vater beigebracht, da kannte er nichts. Sicherlich wollte er erfolgreiche Trainings-Methoden erforschen, brauchte aber noch ein Opfer zum Ausprobieren.

      Wir fuhren im Sommer zum Baden öfter an einen Kanal. Dort ging es auf großen rutschigen Steinen gleich steil rein. Ich konnte nicht lange überlegen, ob ich vielleicht doch lieber nur im flachen Wasser bleibe, denn es gab keins.

      Mit meinem bunten Schwimmring um den Bauch paddelte ich herum und fühlte mich sicher.

      Meinem Vater dauerten diese Selbstversuche viel zu lange. Er rief mich raus, nahm mir den Rettungsring weg, schubste mich ans Wasser, hob mich hoch und schmiss mich mit aller Kraft weit in die Fluten hinein.

      Bereits nach der ersten Schrecksekunde überkam mich die pure Panik. Schreiend, Wasser schluckend und spuckend kämpfte ich um mein Leben.

      Am Ufer versammelten sich viele Menschen, denn so ein Schauspiel bekamen sie nicht jeden Tag geboten. Alle guckten, ob ich es wohl schaffen würde. Vielleicht wurden sogar Wetten abgeschlossen?!

      Irgendwann stieß ich dann mit dem Knie an einen der Steine. Der Schmerz war mir in diesem Moment egal.

      Hurra, ich hatte wieder Land unter den Füßen, konnte mich aber nicht so leicht beruhigen.

      Mein Vater meinte nur höhnisch: „Du musst schon schwimmen, damit du nicht untergehst”, und wollte gleich noch einmal nach mir greifen.

      Aber der Schock und die Angst brachten mich dazu, dass ich nur noch schreien und um mich schlagen konnte. Das war ihm dann vielleicht doch zu blöd vor den vielen Gaffern und Zeugen, sodass er diese Art Schwimmunterricht auf den nächsten Badeausflug vertagte.

      Meine Mutter lernte gleichzeitig mit mir schwimmen. Mein Vater gestand ihr alle Zeit der Welt zu. Sie bekam Zuspruch, Unterstützung und Hilfe von ihm. Geduldig schwamm er im tiefen Wasser neben ihr her und gab ihr somit Sicherheit.

      Das habe ich nicht verstanden.

      Warum hat er sie nicht auch einfach ins tiefe Wasser geschmissen, und wir hätten uns dann gemeinsam an ihrem Überlebenskampf erfreut?

      Ich wäre sicher gern zum Sportunterricht gegangen, wenn wir nicht Leistungssport hätten betreiben müssen.

      Manchmal bewege sogar ich mich ganz gerne.

      Wen interessiert es, ob ich schwungvoll wie eine Gazelle über einen Bock springen kann oder die Hundert-Meter-Strecke weltrekordverdächtig laufe?

      Man hätte uns lieber beibringen sollen, was wir tun müssen, um elastisch und unbeschwert das restliche Leben gut meistern zu können. Für eine gesunde Körperhaltung und die Belastung der Herzkreislaufgefäße reicht es doch völlig, regelmäßig Ausdauersport und Gymnastik zu machen.

      Wie viele Schweißausbrüche und Angstzustände wären mir schon als Kind erspart geblieben?!?

      Dafür machte mir Musikunterricht viel Freude. Einmal sang ich mit einem Mitschüler „Freude