Lebt wohl, Familienmonster. Heidi Dahlsen

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Название Lebt wohl, Familienmonster
Автор произведения Heidi Dahlsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742748898



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einmal in Ruhe einkaufen. Als sie nach Hause kam, saß ich immer noch so da und war auch schon satt.

      Wenn ich schrie, wurde ich an das offene Fenster gestellt, damit ich reichlich frische Luft bekam und dann wurde geduldig abgewartet, dass ich von selbst damit aufhörte. Kuscheleinheiten würden ein Baby nur verweichlichen, meinte meine Mutter öfter.

      Sie verzichteten auf ihre Konzertbesuche genauso wenig wie auch auf Feiern mit ihren Freunden, sondern übten sich sehr früh darin, mich allein zu lassen. Wahrscheinlich sollte das meine Selbstständigkeit fördern.

      Nach meinem dritten Geburtstag kam ich in den Kindergarten. Es gefiel mir ganz gut. Ich hatte andere Kinder zum Spielen, wurde unterhalten und beschäftigt.

      Nur, wenn es früh schon hieß: „Heute wollen wir turnen”, kullerten Tränen unaufhaltsam meine Wangen hinunter. Bewegung war noch nie mein Ding, ungeschickt quälte ich mich über die Runden.

      Das Essen schmeckte auch hier ganz lecker, sodass meine kindlichen Rundungen weiterhin gut versorgt wurden.

      In meiner Kita-Gruppe gab es kleine Mädchen, die sahen so niedlich aus. Sie hatten langes, manche sogar lockiges Haar mit bunten Schleifchen darin. Bei mir reichte ein kleiner Kamm, um die spärliche Frisur zu richten.

      Dass mit meinem Aussehen etwas nicht stimmt, wurde mir bald von einem Freund deutlich klargemacht. In der Malstunde saß mir der sonst ganz nette Olaf gegenüber und war in sein Bild sehr vertieft. Er sah immer mal hoch, musterte mich ganz genau und malte angestrengt weiter.

      Als er fertig war, drehte er sein Kunstwerk zu mir um und sagte: „Gucke mal, das bist du ARSCH MIT OHREN.”

      Dieser Vorfall muss sich bis zu meiner Mutter rumgesprochen haben, denn er brachte mir kurz vor dem Schulanfang noch eine Ohrenkorrektur ein. Bei dieser OP dachte ich, man will mich schlachten. Erst wurde mein Kopf geschoren, dann schnallten mich zwei Schwestern auf der Liege fest. Äther war ein unbeliebtes Narkosemittel, das ich durch ein Sieb einatmen musste. Ich brüllte wie ein Stier. Eine Schwester fragte mich nach meinem Namen. Das wunderte mich etwas. Vielleicht waren sie sich nicht sicher, ob das richtige Kind auf der Schlachtbank lag?!? Leider war ich zu feige und schon zu schwach, sie mit der Nennung eines anderen Namens in Verwirrung zu bringen und mir einen Aufschub zu gewähren. Das wäre ein Spaß geworden, aber sicher nur ein einseitiger. Die OP habe ich überlebt. Meine Ohren liegen seitdem eng am Kopf. Schöner bin ich dadurch nicht geworden, na ja, zumindest konnte ich nicht mehr wegen der Segelohren gehänselt werden. War meine Frisur bis dahin schon dürftig, hatte ich bis zum Schulanfang das Aussehen eines wild gewordenen Handfegers angenommen. Da riss auch mein niedliches Outfit von der Nürnberger Großtante nichts mehr raus. Die Erinnerungs-Fotos sind wirklich der Hit.

      Eingereiht wurde ich neben einer Sylvia, die ständig den Finger in der Nase hatte. Und damit nicht genug – diese Sylvia wurde auch noch meine Banknachbarin.

      Wahrscheinlich habe ich von Anfang an auf die Lehrerin den Eindruck gemacht, mich von allen Kindern am wenigsten gegen dieses unsaubere Mädchen zu wehren.

      Nur gut, dass popeln nicht ansteckend ist.

      Lernen, lernen, nochmals lernen

      Schon am ersten Tag, noch bevor ich mich in Richtung Schule aufmachte, sollte ich lernen, wie wichtig es ist, lesen zu können.

      Meine Mutter schickte mich mit den Worten los: „Du holst ein Mädchen aus deiner Klasse ab und gehst mit ihr zusammen zur Schule. Sie wohnt in dem Haus neben dem Konsum, gleich im ersten Eingang.”

      Nichts Schlimmes ahnend lief ich los. Das Haus fand ich, den Eingang auch, aber die Haustür war zu. Da half kein Rütteln, es war abgeschlossen. Nun hätte ich ja klingeln können. Aber nur, wenn ich gewusst hätte, welcher der vielen Klingelknöpfe zu ihrer Familie gehört, denn für mich hätten die Namen auch in chinesischen Schriftzeichen auf den Schildern stehen können. Ich habe nichts erkannt. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, irgendwo zu läuten. Dann hätte ich ja fremde Leute gestört, aber so etwas tut man nicht. Die richtige Klingel musste es schon sein.

      Also ging ich schnell nach Hause zurück und hoffte, dass meine Mutter da war. Sie war natürlich verärgert, weil ich mich zu blöd anstellte, meine zukünftige Freundin abzuholen und brachte mich persönlich hin, um mir die passende Klingel zu zeigen. Nur gut, dass meine Mutter wenigstens lesen konnte. Erleichtert konnte ich nun endlich mit meiner neuen Freundin Martina in Richtung Schule gehen.

      Der Unterricht war abwechslungsreich und machte mir sogar Spaß.

      Leider lernten wir immer noch nicht schnell genug lesen, denn es passierte mir umgehend der nächste Patzer.

      An einem herrlichen Herbsttag standen wir nach der vierten Stunde alle auf dem Schulhof. Da die fünfte und für diesen Tag letzte Stunde in einem anderen Gebäude sein sollte, hatten wir unsere Sachen dabei. Wahrscheinlich hat die Sonne zu heiß geschienen und mich verwirrt, sodass ich zu der Überzeugung kam, dass der Unterricht für heute bereits abgearbeitet war.

      Ich überlegte: „Warum stehen wir hier alle herum? Es ist doch Schluss, und wir können eigentlich gehen”, und fragte Martina: „Kommst du mit nach Hause, oder soll ich alleine gehen?”

      Sie sah mich nur komisch an, sagte aber nichts.

      Da nahm ich all meinen kindlichen Mut zusammen und lief los. „Wer braucht denn die? Ich werde den Weg schon finden.”

      Unterwegs kam mir immerzu der seltsame Blick meiner Freundin in den Sinn, und dann, ein Geistesblitz, wir hätten ja noch eine Stunde Werkunterricht in einem anderen Gebäude gehabt. Oh je! Was nun?

      Zurück konnte ich nicht, denn die Stunde hatte schon angefangen und zu spät kommen durfte ich nicht, das wurde mir bereits eingetrichtert. Also blieb mir nichts weiter übrig, als den Heimweg fortzusetzen. Das schlechte Gewissen erdrückte mich fast. Zum Glück hatte meine Mutter den Stundenplan auch nicht im Kopf und merkte nichts.

      Nun quälte ich mich den ganzen Nachmittag, den Abend und die Nacht. Am nächsten Morgen hatte ich schreckliche Bauchschmerzen und wollte gar nicht zur Schule. Meine Mutter meinte nur streng: „Entweder Arzt oder Schule!”

      Unser Hausarzt war ein ziemlich Angst einflößender Mensch. Er blickte immer so vorwurfsvoll über seine Brille von oben herab. Da hatte ich im Wartezimmer schon Schweißausbrüche und Zitteranfälle und wünschte mir, ganz schnell gesund zu werden.

      „So schlimm ist der Schmerz eigentlich nicht, oder?”, überdachte ich meine Situation. „Dann eben Schule.”

      Am ganzen Körper schlotternd ging ich los und holte Martina ab.

      Sie begrüßte mich mit den Worten: „Also, du hast dir ja gestern was getraut ...”

      Ich konnte nicht zugeben, dass ich zu blöd war, mir den Stundenplan zu merken und dann auch noch zu feige, um schnell mit einer Ausrede auf den Lippen zurückzugehen. Deshalb äußerte ich mich zu diesem Missgeschick nicht.

      Kaum hatte die Glocke den Beginn der ersten Stunde verkündet, zitierte mich die Lehrerin nach vorn. Mit vor Wut funkelnden Augen zog sie mich zur Rechenschaft. Diese Maßnahme sollte wohl gleich zur Abschreckung für diejenigen Schüler dienen, die jemals auch nur einen Gedanken an eine Fehlstunde vergeuden sollten.

      Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher, Schulbummler, Versager ...

      Dabei war ich doch noch sooo klein.

      Mein Gott, hat mir das einen Schreck eingejagt. Wäre ich doch bloß zum Arzt gegangen – schlimmer hätte es dort auch nicht werden können. Zumindest hätte ich mich nicht so sehr blamiert.

      Ich musste schwören, so etwas nie wieder zu tun.

      Und von meiner Mutter gab es dann auch noch Ärger.

      Die Erwachsenen konnten sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass ein Schulanfänger, der gerade mal vier Buchstaben gelernt hatte, eben nicht lesen kann. Und da kann so etwas doch mal passieren, oder?

      An