Seine Sensible Seite. Amalia Frey

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Название Seine Sensible Seite
Автор произведения Amalia Frey
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752916072



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späten Nachmittag dieses Mittwochs traf ich mich entgegen unserer Dienstags- und Donnerstagsroutine mit meiner Trainingspartnerin Valeria. Sie und ich hatten uns erst vor kurzem zufällig beim Laufen kennengelernt und peilten an, zusammen am 40. Berlin-Marathon teilzunehmen, der im Folgejahr stattfinden würde. Gerne hätte sie schon an dem wenige Wochen später teilgenommen, aber eine Fußverletzung hatte sie lange ausgeknockt. »Mensch, heute doch mal? Wie kommt es?«, begrüßte sie mich in ihrer langsamen Sprechweise, in der sie vor allem die letzten Silben betonte. Valeria, der brasilianische Strich in der Landschaft, arbeitete für BASF als Laborantin. Die einzigen Gemeinsamkeiten, die unsere Leben wohl hatten, waren die bevorzugten Laufstrecken und das Ziel, es beim Marathon unter die schnellsten zehn Frauen zu schaffen. Trotzdem erzählte ich ihr von meinem Plan, dass ich am nächsten morgen früh ins Krankenhaus wollte, um, wie Woolf versprochen, mir ein neues Bild von Doktor A zu machen, und sie deswegen nicht, wie gewöhnlich um 10:00 Uhr treffen konnte. Dazu musste ich ihr im Folgenden erklären, wer Sascha und natürlich wer Doktor A war. Valeria war lieb, hatte jedoch kaum Ahnung davon, was in meinem alltäglichen Leben als Autorin so abging. Wenig involviert lauschte sie mir, während wir durch den Bürgerpark Pankow joggten, und war dankbar, als wir endlich auf Lauftechniken und neue Erkenntnisse bezüglich Muskelkomprimierung zu sprechen kamen. Am Ende konnte ich ihr einen Sportratgeber empfehlen. Sport-Ratgeber und Fachliteratur zu Chemie waren die einzigen Bücher, die sie freiwillig las. Eine Zweckfreundschaft – wenn auch eine, die, solange unsere Gespräche oberflächlich blieben, sehr lustig war. Für die wichtigen Themen des Lebens – Literatur, Sex und Weltfrieden – hatte ich Danni.

      °°°

      Tags drauf brauste ich wie geplant um 9:30 Uhr zur Charité, wo ich wie erwartet auf den Doktor nebst Vater stieß. Leider erwischte ich die beiden wohl gerade bei einem Streit. Schon von weitem hörte ich den Sohn in seiner unnachahmlich durchdringenden Stimme schimpfen. Als eine Schwester ins Zimmer eilte und um Ruhe bat, wurde sie von ihm auch noch zusammengefaltet. Ich kam in den Raum, als er Sascha die Worte entgegenspie: »Wenn ich wirklich so ein Nichtsnutz wäre, wie du mir seit Mutters Tod glauben machen willst, dann interessiert mich, warum ausgerechnet ich deine Angelegenheiten ordnen soll.«

      Sascha saß im Lehnsessel, trug einen Pyjama und einen Morgenmantel darüber – es schien ihm also besser zu gehen. Er sah gleichmütig aus dem Fenster, entgegnete ruhig: »Du hast doch angerufen und gesagt, du wolltest mir helfen. Deswegen lasse ich dich.«

      Jene Selbstgefälligkeit, zu der wohl nur Väter in der Lage sind. Ich kannte sie zu gut von meinem Dad und auch von Opa Mierl, wenn er Fio mal wieder vor den Kopf stieß.

      Doktor A schien diese Manier genauso anzufixen wie jedes Kind und fuhr dann erst recht aus der Haut: »Wenn deine Dankbarkeit dafür so aussieht, kann ich darauf verzichten ...«

      »Dankbarkeit?« Sascha lachte und sah ihn endlich an. »Du solltest dankbar sein, dass ich dich nicht enterbe, dass ich dich überhaupt noch als meinen Sohn bezeichne, dass ich dir all mein Vertrauen gebe. Letzteres wäre bei jedem anderen Anwalt genauso gut aufgehoben.«

      Doktor A starrte seinen Vater ungläubig an. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich wusste, dass es ein »Das hast du jetzt nicht gesagt« schrie. Im nächsten Moment wirbelte er herum, und dann bemerkten sie mich. Bei beiden hellte sich der Gesichtsausdruck sichtlich auf – auch bei Doktor A, weil er vermutlich gerade jede:n lieber mochte als seinen Vater, selbst mich. Während Sascha freundlich lächelte, verdunkelten sich die Augen von Doktor A jedoch schlagartig wieder, und die Wutader auf seiner Stirn pulsierte beängstigender als sonst.

      »Doktor Schneid«, nickte ich zur Begrüßung und das so herzlich wie möglich, bedachte man, dass er auf mich zukam und ich die Hosen voll hatte vor Angst.

      Er schien davon mehr als irritiert. Vermutlich wollte er nur an mir vorbeirauschen, fort aus diesem Raum, weg von seinem Vater und mir. Aber mein Gruß zwang seinen Anstand, innezuhalten und mir zum ersten Mal die Hand zu geben.

      »Hallo, Frau Lux.«

      Verwirrt schüttelten wir die Hände, und plötzlich erschauderte ich. Dafür, dass er gerade so wütend wirkte, hatte er wirklich zärtlich gesprochen. Und er fühlte sich weich und warm an. Meine Finger kribbelten komisch. Dann war der Moment vorbei, er nickte und schritt von dannen. Ich blickte zu Sascha, entschuldigte mich und eilte Doktor A nach. Mir war durch die vergangenen Minuten so vieles über ihn klar geworden und der schlimme Streit zwischen den Männern brachte mich dazu, wenigstens ein paar nette Worte zu ihm sagen zu wollen. »Augenblick bitte, Doktor Schneid?«

       Sie rief nach mir. Warum?

      Ich drehte mich um und sah auffordernd zu ihr herab. Was war das in ihrem Blick? Das war mir schon aufgefallen, als sie im Raum aufgetaucht war. Hatte sie Angst vor mir?

      »Ja?«, sagte ich.

      Sie zuckte zusammen – das war wohl etwas laut gewesen.

      Verdammt, eben wusste ich doch noch, was ich sagen wollte.

      Da stand sie und schwieg mich an. Was sollte das, was beabsichtigte sie damit? Erst Vater und nun strapazierte auch sie meine Nerven? Sie war wohl kaum gekommen, um mich zu trösten. Ich atmete tief ein, das schien sie noch mehr zu verunsichern.

      »Frau Lux, bitte sagen Sie mir einfach, was Sie wollen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

      Ihre Augenbraue zuckte. War sie jetzt beleidigt? Sie ließ den Blick über meinen Körper schweifen, also tat ich es ihr gleich. Sie trug enge Blue Jeans, die sie bis zum Knie aufgerollt hatte. Wieder blieben meine Augen an ihren strammen Schenkeln hängen. Das bemerkte sie und drehte ihre Umhängetasche vor ihren Schoß. Trotzig straffte sie die Schultern und sagte betont: »Ich wollte … Wegen gestern …«

      »Was?«, fragte ich ungeduldiger, als ich es meinte.

      Dann tauchte Vater in der Tür auf. Er hatte sich den ganzen Weg vom Sessel zum Türrahmen gekämpft, um nach seinem Liebling zu sehen. Dem Kind, der Tochter, die er nie hatte. Er warf mir einen wütenden Blick zu, woraufhin ich zu Frau Lux sagte: »Wenn das alles ist, gehe ich jetzt. Und Sie machen lieber Ihre Arbeit, der Verlag bezahlt Sie nicht fürs Nichtstun.«

      Den letzten Satz sagte ich mit Blick auf Vater, der hinter ihr stand. Sodann drehte ich mich um und ging.

      Was sollte das denn? Erst starrt er mir auf die Muschi und als Nächstes wirft er mir Faulheit vor? Ich atmete durch. Gut, das waren dann wohl genug Chancen. Ich wandte mich um und erblickte Saschas Gesicht. Seit wann stand er da?

      °°°

      Sascha bat mich, an seinem Bett mit meinem Notizblock Platz zu nehmen, und begann zu reden. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer, doch er wurde davon nicht müde. Er schmückte nicht aus, behielt das Wasserglas in der Hand, um regelmäßig zu nippen. Ich nahm alles auf, hörte zu, erfuhr so vieles, schwieg. Und unterdrückte meine Tränen. Mein Hirn war ganz voll, ich wollte nach Hause und meine Gedanken ordnen. Wie ein großer Klumpen schwoll der Text in meinem Kopf an. Jegliche Ablenkung war schlecht. So nahm ich Saschas diesmal so viel liebevollere Verabschiedung gar nicht richtig wahr: »Haben Sie vielen Dank, dass Sie sich dessen annehmen, Fräulein Lux ... Austen. Dass Sie diejenige sind, bedeutet mir viel ... Das Ergebnis wird fantastisch sein.«

      »Ach, Herr Schneid, was wäre ich ohne Ihr überschwängliches Lob.« Ich lachte und gab ihm die Hand. Er hielt sie einen Moment zu lange fest, sah mir in die Augen, nickte anerkennend, dann entließ er mich.

      Zum Glück war ich mit der Bahn gekommen, so hatte ich auf dem Heimweg genug Zeit und damit ausreichend Konzentrationskapazität, um alles zu verdauen. Erst als es draußen schon dunkel war, kam ich zu Hause an, und verschanzte mich sogleich hinter meinem Schreibtisch.

      Ich begann zu tippen. Wie immer tauchte ich dabei ab, in die tiefen Welten meiner Vorstellungskraft. Ich ordnete das Erzählte, meine Eindrücke, zog Rückschlüsse und tippte, tippte, tippte. Mein Tee wurde ungetrunken kalt, mein Magen knurrte. Abwesend griff ich immer mal in die Tüte mit babschen Keksen. Als der Morgen graute,