Название | Seine Sensible Seite |
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Автор произведения | Amalia Frey |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783752916072 |
'Doch genug davon', schalt ich meine Gedankengänge. Ich hatte mir vorgenommen, mich völlig auf Saschas Buch zu konzentrieren, und daran wollte ich mich halten. Pünktlich verließ ich die Wohnung und lief zur S-Bahn. Es war kurz nach 9:00 Uhr und die Sonne knallte bereits auf meine kurzbehosten Beine, dass es eine Freude war. Hätte ich aus Gründen heute nicht eine Slipeinlage nötig, wäre ich im Kleid und ohne Höschen gegangen …
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Mein Wecker schellte heute erst um 6:00 Uhr. Da hatte ich schon wach gelegen. Wie lange war es her, dass ich dergleichen Lüsternes geträumt hatte? Herrgott war ich nicht allmählich zu alt dafür? Ich quälte mich endlich hoch und besah, dass meine morgendliche Erektion noch immer nicht abgeklungen war. Was zum Teufel war los mit mir? Dass das überhaupt passierte, lag doch Jahre zurück ... Irgendwann, kurz nachdem Madelena mir mitgeteilt hatte, dass sie die Scheidung wünschte ... Reiß dich zusammen, Junge!
Meine seit dem Studium morgendliche Routine von zwanzig Liegestützen, zwanzig Rumpfhebern und zwanzig Kniebeugern, ließ das Symptom abschwellen. Unter der Dusche perlte hartes, eiskaltes Nass auf meine betagte Haut und beruhigte mich. Immer wenn ich eine Wohnung bezog, hatte ich die Mischbatterie verstellen lassen, so dass das Wasser so weit wie möglich heruntergekühlt wurde. Nur das weckte mich auf. Ich schloss die Augen und steckte meinen hitzigen Schädel unter den Strahl. Doch wieder schob sich ihr Anblick vor meine Sicht. In dem Traum trug sie knappe Hosen und ein Baseballtrikot. Warum ein Trikot? Berücksichtigen deine Fantasien ihre US-amerikanischen Wurzeln?
Sie kaute Kaugummi, machte eine Blase, ließ sie knallen, leckte sich über die Lippen und sah mich dann über ihre Schulter an. »Was glotzen Sie so?«
Unter anderen Umständen hätte ich gelacht. Aber mir war spätestens in diesem Moment klar, dass die nächste Zeit alles andere als lustig werden würde.
Ich hatte in der Berliner Wohnung noch etwas für Belajew nachgearbeitet, Saddei das Protokoll geschrieben und auf meine Putzfrau gewartet, die mich wie immer herzlich begrüßte. War ich nicht in dieser Stadt, kam sie nur einmal im Monat her, um eine Grundreinigung vorzunehmen. Da ich aber wohl einige Tage bleiben würde, bot es sich an, dass sie öfter kam. Wie so oft redeten wir auf Russisch miteinander. Obwohl sie bald dreißig Jahre in Berlin lebte, wollte sie sich in ihrer Muttersprache üben.
Ich fragte sie: »Können Sie meine Anzüge und die Hemden zur Reinigung bringen?«
»Die Anzüge ja, die Hemden mach ich selbst, wenn Sie gestatten.«
Mir war klar, dass sie das Geld gut brauchen konnte.
»Wie Sie möchten, Frau Nuske.«
Ich lächelte betreten und griff nach meinem Autoschlüssel.
Vater erwartete mich um 9:00 Uhr. Er hatte betont, dass wir nicht viel Zeit hätten, weil sein Fräulein Lux um 10:00 Uhr käme und sie mich ja nicht sehen wollte. Bei dem Gedanken trat ich härter aufs Gas. Diese Person! Und was glaubte mein alter Herr, für wen ich all das tat? Ich hatte weiß Gott Besseres zu tun. Doch verzichtete ich auf meinen direkten Umgang mit meinen Moskauer Kollegen, bereitete die Konferenzen via Fernleitung vor, nahm an den Besprechungen per Videokonferenz teil und flog nur zu den ganz wichtigen Terminen rüber. Und nebenbei erledigte ich seinen Kram im Verlag. Undank ist der Weltenlohn, hatte er mir immer gepredigt. Sauer stieß mir auf, dass er, sobald es um diese ansehnliche Göre ging, gar nicht mit Lob und Dank hinterherkam. Zum Glück musste ich nun wenigstens nicht mehr ertragen, das mit anzusehen. Als ob ich einem Verbot dieser altklugen Dilettantin Folge leisten würde – nein, ich war froh, dass Vater ihr recht gab und meinte, wir könnten nicht zusammenarbeiten. War besser so. Gewiss.
Die verdammten Straßen waren voll, meine abschweifenden Gedanken hatten mich daran gehindert, eine gescheite Alternativroute zu finden, und so kam ich tatsächlich zu spät. Das war mir ewig nicht passiert. Vater war erbost und noch müder als am Vortag. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, mich auf meinen Fehler hinzuweisen, mich für meine Eitelkeit zu schelten, weil ich das Navi nicht benutzt hatte, und zudem zu sagen: »Nun bleibt kaum noch Zeit, was, wenn das Fräulein früher herkommt?«
»Geht es dir nur um sie? Dann hätte ich wohl nicht extra herzukommen brauchen.«
»Wenn du sowieso in Berlin bist …«
»Das meine ich. Meinst du nicht, ich hätte in Moskau Besseres zu tun gehabt?«
Vater lachte kehlig und rau. »Willst du mir erklären, du hättest all diese Aufträge hier nur angenommen und deine Aufgaben im Russenreich verschoben, um bei mir zu sein?«
Ich ballte meine Hand zu Faust. Meine Fingernägel schnitten ins Fleisch, als ich sagte: »Wenn es so wäre?«
»Halte mich nicht für einen Narren, Alexander! Mir ist durchaus bewusst, wie wichtig du bist. Denen. Der Welt. Was schert dich das Schicksal dieses alten Mannes?«
Dröhnender Schmerz durchzog meinen Schädel. Vater wusste doch sicher genau, welchen Punkt er damit bei mir traf.
Nein, ich bin nicht wichtig. Aber ich bin so nahe an den sogenannten Wichtigen, dass sie mich mit der Droge der scheinbaren Wichtigkeit infiziert haben. Mit dieser versuche ich meine größte Krankheit, die Sucht nach Existenzberechtigung, zu lindern. Experte ja, wertvoller Berater ja. Gewichtiger Entscheidungsträger nein. Irgendwann einmal wichtig sein zu dürfen, etwas darzustellen, wesentliche Entscheidungen zu treffen, danach giere ich. Doch ich trete seit Jahren auf der Stelle. Alles, was das mühevoll errichtete Gebäude, das diese Wichtigkeit zu stützen vermag, zum Einsturz bringen könnte, dem stehe ich spätestens seit meiner Scheidung feindlich, ja aggressiv gegenüber.
Dann kam die Kunde, dass es Vater schlecht geht, er ins Krankenhaus umgezogen ist, seine Wohnung in Berlin aufgelöst hat. Dass, sollte es ihm wieder besser gehen, er in unser Haus im Kellerwald zurückziehen wird. Aber es sah nicht danach aus. Ich hatte begonnen abzuwägen. Hatte erkannt, dass er zu dem winzigen Kreis von Menschen gehörte, die mir wirklich etwas bedeuteten. Ich war bereit gewesen, bereit unsere Beziehung in Ordnung zu bringen. Doch nun sah ich, wohin mich das gebracht hatte.
Ich wurde wieder der eifersüchtige Knabe, der um seine Anerkennung bettelte.
Diesmal nicht!, entschied ich kurzerhand.
»Sag mir doch einfach, was du willst, dann sind wir schneller fertig«, entgegne ich ihm müde.
»Ich wollte mit dir heute mein Testament durchgehen.«
»Hast du das noch nicht mit einem Notar gemacht?«
»Natürlich, aber wozu nutzt mir ein Sohn im Jurahandwerk, wenn ich mit ihm nicht darüber sprechen kann?«
»Na danke. Also wo ist es?«
»Bei meinem Notar«, sagte er nach einer Weile.
Ich schnaubte. »Und was willst du besprechen? Sag bloß noch, du willst durchboxen, dass Austen Lux deinen Sitz im Aufsichtsrat bekommt.«
»Natürlich nicht, du Narr. Dazu ist sie zu jung und würde es ohnehin verabscheuen. Ich möchte, dass du darüber mit meinen Partnern sprichst. Du weißt, wie der Hase läuft.«
»Schönen Dank auch. Ich habe keine Zeit für so etwas. Mach du das doch, wenn du wieder auf den Beinen bist.«
Vater schwieg einen Moment und sah mir das erste Mal seit langem direkt in die Augen. Das hatte er so zuletzt getan, als ich ihm gesagt hatte, dass ich mit Madelena nach Moskau ziehen würde. Ich lehnte mit dem Arm am Fenster, von draußen knallte die Sonne auf mein dunkles Jackett.
Es war jetzt schon viel zu heiß, ich sehnte mich nach meinem klimatisierten Büro in der Kanzlei.
»Du irrst ...«, flüsterte Vater, »ich gedenke, bald zu sterben.«
Eines musste man dem