Название | Die Glasbrecherin |
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Автор произведения | Irene Euler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738056839 |
Erdree nickte rasch. In Mooresruh gab es zwar nicht viele Bücher, aber sie wurden hoch geschätzt.
„Es sind Bücher über das Heerwesen.“ Wiralin legte eine Hand auf den kleinen Stapel, der auf dem Tisch neben ihm lag. Man sah den dünnen, kleinen Bänden an, dass sie schon oft gelesen worden waren. „Ich würde es begrüßen, wenn du mehr über die Arbeit eines Soldaten weißt – damit du im Feld weißt, worauf es ankommt, und keine Schwierigkeiten machst. Im Feld können die Soldaten keine Rücksicht nehmen – auch nicht auf eine Glasbrecherin. Lern, die Zähne zusammenzubeißen! Das schont nicht zuletzt Fensterscheiben und Trinkgefäße. Und meine Ohren. Jetzt komm mit zu Meister Agoton!“
Meister Agoton entpuppte sich als ein sauertöpfisch dreinblickender Mann um die Vierzig. Auf seiner dick wattierten, dunkelvioletten Samtjacke prangte das silbergestickte Wappen der königlichen Hochschule von Sandborn. Sein blonder Schnurrbart schien die Mundwinkel in dem hageren Gesicht noch tiefer herunterzudrücken. Über Agotons Stirn zogen sich einige tiefgründige Furchen. Auf seinem Scheitel glänzte eine kahle Stelle.
„Die Ronn bedienen sich einer unglaublich primitiven Sprache,“ beschwerte Agoton sich, sobald seine Schüler vor ihm Platz genommen hatten. „Dagegen macht selbst der vierte Unterdialekt des Alt-Tafip von der Südspitze der Plockinsel einen höchst entwickelten Eindruck. Ein Gelehrter wie ich, der es sich zu seiner Lebensaufgabe erkoren hat, den Schönheiten der komplexen Sprachen unserer Welt nachzuspüren, verschwendet mit dem Gestammel der Ronn seine Zeit! Die drei Übersetzer, die ich inzwischen ausgebildet habe, tun ihre Dienste gut genug. Ich sollte längst wieder zurück in Sandborn sein, um mich bedeutenderen Arbeiten zu widmen, statt vergeblich zu versuchen, ein vernünftiges Wort aus den gefangenen Ronn herauszubekommen. Von Sprachunterricht ganz zu schweigen! Generalin Ulante hat keinen Respekt vor der Welt des Gelehrten, sonst hätte sie schon längst meinem Ersuchen stattgegeben, Glynwerk zu verlassen und endlich an meine Hochschule zurückzukehren!“
Wiralin feuerte einen warnenden Blick in Agotons Richtung. Doch der Gelehrte warf gerade mit der Miene eines Märtyrers seinen Kopf in den Nacken. Dann zog er seine Samtjacke straff.
„Ich habe vor Kurzem meinen Traktat über die Sprache der Ronn beendet. Er ist jämmerlich dünn – nur fünfzig Seiten – aber mehr war beim besten Willen nicht herauszuholen. Diesen Traktat habe ich vor zehn Tagen mit einer Nachricht an den Rektor von Sandborn gesandt. Ich gehe deshalb davon aus, dass ich bald von hier abberufen werde. Unsere Heerführerin vergisst, dass nicht ich dem Heer diene, sondern dass die Arbeit des Heers in diesem Fall der Wissenschaft dient. Selbstverständlich nicht nur der Wissenschaft, aber auch.“ Agoton strich sich über die kleine Glatze. „Der Rektor von Sandborn wird unsere hochverehrte Generalin gewiss daran erinnern. Glaubt also nicht, dass ihr lange auf meine Dienste zählen könnt, und lernt lieber schnell! Natürlich wird sich jeder halbwegs kluge Kopf die Grundbegriffe der Sprache der Ronn rasch aneignen können.“
Agoton ließ seine blassblauen Augen hochmütig auf seinen Schülern ruhen. Es war offensichtlich, dass er sie nicht für halbwegs kluge Köpfe hielt.
„Höhere Gedanken in Ronn auszudrücken ist ohnehin unmöglich. Ich bin davon überzeugt, dass die Ronn sich nur deshalb untereinander verständigen können, weil sie keine hohen Gedanken kennen und diese also auch nicht ausdrücken müssen. Denn ihre Sprache ist so primitiv, dass sie nicht einmal die einfachsten Gesetze einhält, denen sonst jede Sprache folgt. Ein und dasselbe Wort hat in Ronn immer mehrere Bedeutungen. Dies kommt zwar auch in unserer Sprache hin und wieder vor, aber in diesen wenigen Fällen sind die Bedeutungen so weit voneinander entfernt, dass ein Missverständnis fast unmöglich ist. Ganz anders verhält es sich in Ronn. ,Jostim’ beispielsweise heißt sowohl ,Wald’ als auch ,Baum’ und ,Holz’ – haarsträubend, diese fehlende Prägnanz! Überdies unterscheiden die Ronn nicht zwischen Fragen und normalen Aussagen – weder durch die Wortstellung noch durch die Sprachmelodie. Und sie kennen keine Vergangenheits- oder Zukunftsform der Verben. Wenn ein Ronn also sagt: ,Oplin nat jostim’, kann dies ebenso gut heißen: ,Ich gehe in den Wald’ wie ,Ich ging zum Baum’ oder ,Ich werde zum Holz gehen.’ Oder sogar ,Soll ich in den Wald gehen?’ Wir müssen viel raten, wenn wir versuchen, die Ronn zu verhören, und wir haben auch große Schwierigkeiten, ihnen Fragen zu stellen. Die vier Ronn, die schon länger unsere Gefangenen sind, haben zumindest begriffen, welche Rolle die Sprachmelodie für uns Linländer spielt, und erkennen deshalb meistens eine Frage. Aber es ist äußerst mühsam, mit ihnen zu sprechen. Sie sehen einem fast nie in die Augen, diese verschlagenen Biester. Und sie wollen beim Sprechen immer die rechte Hand vor ihre Brust halten, als wäre dies eine religiöse Pflicht – als müssten sie ihre Stimme festhalten. Ich bin davon überzeugt, dass dies nichts ist als ein Trick. Die Ronn wollen damit den Handfesseln entkommen. Diese Kreaturen sind so unglaublich primitiv...“ Agoton zückte ein Taschentuch und tupfte sich damit die Stirn ab.
„So primitiv können sie nicht sein,“ bemerkte Wiralin rau. „Es ist nie klug, seinen Gegner zu unterschätzen. Die Waffen und die Kleider der Ronn sind nicht gröber oder schlechter als unsere. Und im Kampf – wenn sie sich endlich einmal einem Kampf stellen – arbeiten die Ronn perfekt zusammen.“
„Gemeinsamer Instinkt,“ winkte Agoton ab. „Auch ein Rudel Wölfe teilt sich die Aufgaben bei der Jagd perfekt. Gewiss hilft den Ronn dieser gemeinsame Instinkt auch bei der Verständigung untereinander, während wir höherentwickelten Linländer rätseln müssen, was sie meinen. Glaubt mir, die Ronn sind unfassbar primitiv. Ich habe ihre Sprache ganze zwei Jahre lang nach allen methodischen Regeln der Sandborner Schule der Sprachlehre erforscht. Und niemand in ganz Linland würde ernsthaft das Urteil eines Sandborner Gelehrten in Frage stellen wollen!“
Über Wiralins Miene breitete sich ein sardonisches Lächeln aus. Mit plötzlicher Hast ergriff Meister Agoton ein Stück Kreide und wandte sich der Schreibtafel zu.
„Fangen wir also mit ,plin’ an – gehen. Oplin: ich gehe – koplin: du gehst – toplin: er, sie, es geht – iplin: wir gehen – kiplin: ihr geht – tiplin: sie gehen...“
„Warte, Wiralin!“
Der Bogenschütze unterdrückte ein Knurren und blieb widerwillig in dem düsteren Gang stehen. Heute schien ihm kein einziger einsamer Augenblick vergönnt zu sein. Endlich war er Agotons Lektionen entkommen, und die Glasbrecherin hatte sich in ihre Schlafkammer zurückgezogen – und nun rief Oredion hinter ihm her. Der Arzt schloss zu ihm auf und streckte ihm einen dunkelgrünen Mantel entgegen.
„Nimm den bitte mit – für Erdree. Sie soll ihn anziehen, wenn sie hinausgeht – nicht diesen dünnen Wollmantel, den sie zu ihrer Uniform bekommen hat.“
Fassungslos starrte Wiralin den Mantel an. Dann ließ er einen Blick in Oredions Augen wandern, der unmissverständlich den Geisteszustand des Arztes in Frage stellte. Oredion erwiderte den Blick ungewöhnlich freimütig – beinahe selbstsicher. Erst als seine Arme unter dem Gewicht des Mantels nachzugeben begannen, wurde seine Miene wieder angestrengt.
Wiralin schnappte den Mantel mit einer Hand und hielt ihn dicht unter Oredions Nase. „Fuchspelz? Warum denn nicht gleich Hermelin?“
„Das ist kein Fuchspelzmantel,“ wehrte Oredion ab. „Nur der Kragen und die Säume sind mit Fuchspelz verziert. Das Futter ist aus Hirschfell.“
„Das ändert natürlich alles,“ höhnte Wiralin. „Schließlich tragen im Linländer Heer ja alle Soldaten Hirschfell! Im Ernst, Oredion – du kannst die Glasbrecherin nicht in Pelz hüllen! Sogar Ulante trägt ihren Pelzmantel nur beim stärksten Frost – oder an Festtagen! Der einzige, der ständig in Pelz herumstolziert,