Die Glasbrecherin. Irene Euler

Читать онлайн.
Название Die Glasbrecherin
Автор произведения Irene Euler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738056839



Скачать книгу

schon!“

      Der rüde Ton fuhr Erdree bis in die Knochen. Verdattert begann sie, die ersten Worte zu flüstern, die ihr durch den Kopf gingen:

      „Eine mächtige Hand nur gebietet dem Feuer,

      eine mächtige Hand nur wie jene des Lin,

      die entfesselten Kräfte sind ungeheuer,

      weder Zögern noch Zagen wird verzieh’n...“

      Erst an dieser Stelle begriff Erdree, dass sie aus dem Epos „Die Kinder Lins“ zitierte – jene Strophen, in welchen Lin seiner Tochter Tyrda die Herrschaft über Feuer und Eisen anvertraut. Ihr Flüstern hatte keine Wirkung auf die glitzernden Fäden. Doch als Erdree unter dem ersten scharfen Ton die Schultern hochzog, schien das Glitzern stärker zu werden. Und im selben Moment, in dem Erdree ihre Hände hob, um sie über ihre Ohren zu legen, begannen die Fäden deutlich zu vibrieren. Das Vibrieren nahm gemeinsam mit der Lautstärke der grellen Stimme immer mehr zu. Gänsehaut kroch von Erdrees Nacken bis zu ihren Zehenspitzen – nicht allein wegen des unerträglichen Kreischens, das sogar durch ihre Hände drang. Es kostete Erdree ihre ganze Beherrschung, weiterzusprechen und noch lauter zu werden. Sie schrie beinahe, als die Fäden plötzlich milchig trüb wurden und in mehrere Stücke zerbrachen. Geschockt hielt Erdree inne. Wie gebannt starrte sie auf die zerstörten Fäden, die vor wenigen Augenblicken voll filigraner Schönheit gewesen waren. Die Generalin berührte mit einem Finger vorsichtig eines der Bruchstücke. Es zerfiel zu Staub.

      „Ausgezeichnet...,“ murmelte Ulante. Auf ihren Zügen mischte sich Zufriedenheit mit einem befremdlichen Hunger.

      Erdrees Ehrfurcht vor der Generalin neigte sich noch stärker zur Furcht. Um nichts in der Welt hätte die Glasbrecherin es gewagt, nach der Bedeutung dieser seltsamen Fäden zu fragen.

      Die Generalin fiel wieder in ihren geschäftsmäßigen Ton zurück: „Gut. Mehr brauche ich nicht von dir – vorerst. Solange wir hier im Winterlager auf Glynwerk sind, wirst du vor allem eines tun: Die Sprache der Ronn lernen. Ich erwarte, dass du bis zum Frühjahr zumindest die Grundbegriffe ihrer Sprache beherrschst. Wiralin wird für dich verantwortlich sein. Du bleibst immer in seiner Nähe, wenn du das Wohngebäude verlässt – und am besten bleibst du auch im Wohngebäude in seiner Nähe. Er wird ebenfalls die Sprache der Ronn lernen und deshalb ohnehin meistens bei dir sein. Folge seinen Anweisungen immer sofort und ohne Widerrede. Wenn du dich krank fühlst, geh unverzüglich zu Oredion. Mach keinen Ärger und misch dich nicht in die Angelegenheiten der Soldaten. Wenn ich deine Dienste brauche, werde ich dich rufen lassen. Das wird allerdings nicht so bald der Fall sein – voraussichtlich werde ich dich erst im Frühjahr brauchen, wenn der neue Feldzug gegen die Ronn beginnt.“

      Noch mehr Fragen, die sie nicht zu stellen wagte, begannen in Erdrees Kopf umherzuschwirren. Ulante löschte die beiden Fackeln, die in den Wandhalterungen steckten, und schritt zur Tür. Rasch huschte Erdree hinter ihr hinaus. Kaum war die Tür wieder versperrt, eilte Ulante im Sturmschritt davon. Diesmal versuchte Erdree vergeblich, das Tempo der Generalin zu halten. Zuletzt hielt sie keuchend auf der Wendeltreppe inne. Nach einer Pause nahm sie den Aufstieg viel langsamer in Angriff. Ihre Gedanken waren immer noch bei den glitzernden Fäden, die unter dem Kreischen ihrer Stimme zerfallen waren. Sie mussten aus Glas sein. Konnte man wirklich derart dünnes, feines Glas herstellen? Es schien unmöglich. Aber woher sollte ausgerechnet eine Glasbrecherin etwas darüber wissen – wie viel Glas hatte sie schon im Lauf ihres Lebens gesehen? Ein paar Trinkgefäße und die eine oder andere Fensterscheibe... Ein dumpfes Pochen hinter ihren Schläfen erinnerte Erdree daran, dass heftiges Grübeln ihrer Gesundheit schadete. Gerade jetzt war nur eine Frage wichtig: Was wurde als Nächstes von ihr erwartet? Hatte die Generalin ihr etwas befohlen? Nein. Sie hatte nur gesagt, dass Wiralin für sie verantwortlich sein würde. Und dass sie immer in seiner Nähe bleiben sollte. Der Gedanke an den kalten Blick und an die scharfe Stimme des Obersten Bogens ließ Erdrees Kehle eng werden. Zumindest war nun klar, warum sie die Uniform eines Läufers der Bogenschützen bekommen hatte. Unschlüssig biss Erdree sich auf die Lippen. Erwartete Wiralin, dass sie gleich nach ihrer Begegnung mit der Generalin zu ihm kam? Oder plante er, sie später abzuholen – aus dem Krankenquartier, wo sie bisher gewesen war? Sie wollte Wiralin keinesfalls noch mehr gegen sich aufbringen. Sein Verhalten auf der Reise hatte deutlich genug gezeigt, wie sehr er sie verabscheute. Das Pochen hinter Erdrees Schläfen wurde schneller und stärker. Mit dem Pochen wuchs auch der Wunsch, zu Oredion ins Krankenquartier zurückkehren zu dürfen. Dieser Wunsch wurde übermächtig, als ihr der Blick durch ein kleines Fenster verriet, dass sie nun in jenem Stockwerk angekommen war, in dem das Krankenquartier lag. Sofort bog Erdree in den Gang ein – nur um nach einigen Schritten erneut innezuhalten. Sie musste gleich zu Wiralin gehen. Wenn es ihm missfiel, dass sie zu früh auftauchte, konnte er sie wieder fortschicken. Aber wenn er vergeblich auf sie wartete, würde sein Zorn mit jeder Minute zunehmen. Erdree rieb sich die Augen und seufzte. Im nächsten Moment fiel ihr glühend heiß ein, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie Wiralin suchen sollte. Lag das Quartier des Obersten Bogens in der Nähe der Generalskanzlei oder ganz woanders? Und würde Wiralin zu dieser Tageszeit überhaupt in seinem Quartier sein? So schnell es in den klobigen Stiefeln ging, eilte Erdree zurück ins Krankenquartier. Oredion würde wissen, wo sie Wiralin um diese Stunde finden konnte. Und ob sie ihn tatsächlich aufsuchen sollte. Im Behandlungszimmer blieb Erdree verzweifelt stehen. Der Raum war leer. Vielleicht kümmerte Oredion sich gerade in einem der Krankenzimmer um einen Patienten. Aber sie konnte doch nicht wahllos an Türen klopfen! Nach Oredion zu rufen, war erst recht undenkbar – im Behandlungsraum standen unzählige Fläschchen mit Medizin! Und ein Flüstern würde nicht durch die geschlossenen Türen dringen... Erdree schlug ihre Arme um ihren Körper. Das unheilvolle Bild des Obersten Bogens, der irgendwo auf Glynwerk immer ungeduldiger auf sie wartete, stieg vor ihrem inneren Auge auf. Ein Geräusch in ihrem Rücken ließ Erdree herumfahren. Ihr erschrockener Blick fiel auf Kelroy. Wieder schien er wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Obwohl Erdree nun wusste, dass er Oredions Bruder war, blieb ihr der Mann unheimlich. Aus seiner ausdruckslosen Miene stachen seine Augen beinahe lauernd hervor. Erdree starrte so gebannt auf Kelroys Gesicht, dass sie seine Geste nicht gleich bemerkte. Er hielt die Fläche seiner rechten Hand nach oben gewandt. Mechanisch beantwortete Erdree die stumme Frage mit dem Zeichen für „suchen“ – ihr Finger zog einen Kreis um ihr Auge – dann stockte sie. Sie kannte kein Zeichen für „Oberster Bogen.“ Zum Glück fiel ihr gleich darauf ein, dass Kelroy zwar stumm war, aber nicht taub.

      „Ich suche den Obersten Bogen,“ flüsterte sie. „Wiralin. Das heißt – ich weiß nicht, ob ich ihn wirklich suchen soll. Wisst Ihr vielleicht, ob ich den Obersten Bogen aufsuchen soll, oder ob er mich später holen wird?“

      Kelroy schüttelte den Kopf. Nach einer kurzen Pause legte er eine Hand über sein rechtes Auge, deutete auf den Boden und winkte Erdree dann, mitzukommen. Offenbar war Wiralin in einem der unteren Stockwerke zu finden, und Kelroy würde sie zu ihm führen.

      Erdree folgte bereits Kelroys stämmiger Gestalt den Gang hinunter, als ihr bewusst wurde, wie mühelos sie sich mit dem Stummen verständigen konnte. Die Fingerzeichen der Glasbrecher wurden anscheinend nicht nur in Mooresruh verwendet. Die stummen Linländer gebrauchten sie ebenfalls. Kelroy führte Erdree einen Stock tiefer und um einige Ecken. Vor einer Tür, an der das grüne, goldbestickte Banner der Bogenschützen hing, blieb er stehen. Mit einer theatralischen Geste wies Kelroy Erdree an, durch die Tür zu schreiten. Viel zu schnell kehrte er ihr den Rücken zu und ging davon. Sie kam nicht einmal mehr dazu, ihm einen Dank hinterherzuflüstern. Was, wenn Wiralin sich doch nicht in seinem Quartier aufhielt? Dann wäre sie hier gestrandet. Erdree hob eine zitternde Hand. Sie hätte nicht sagen können, wovor sie sich mehr fürchtete: Davor, keine Antwort zu erhalten, oder davor, Wiralin wiederzutreffen. Zaghaft klopfte sie an.

      „Herein!“ befahl die kalte Stimme des Bogenschützen.

      Erdree öffnete die Tür und zerrte ihre bleiernen Füße über die Schwelle. Unter Wiralins Blick fühlte sie sich plötzlich wie ein verprügelter Hund vor seinem Herren. In der schlotternden Uniform bot sie gewiss einen noch jämmerlicheren Anblick als in der Kutte der Glasbrecher. Zumindest schien Wiralin sie erwartet zu haben. Er deutete mit dem Kopf auf eine schmale Tür zu seiner Rechten.

      „In