Die Glasbrecherin. Irene Euler

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Название Die Glasbrecherin
Автор произведения Irene Euler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738056839



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wandte sich ihrem Schreibtisch zu. „Ach, eines noch,” sagte sie über ihre Schulter. „Komm nachts nicht mehr in die Generalskanzlei – zumindest vorerst nicht. Es sind Gerüchte über uns aufgekommen, und das gefällt mir nicht.“

      Dieser neue Hieb entriss Wiralin ein gequältes Lachen. „Diese Gerüchte gibt es seit zwei Jahren.“

      „Ja sicher.“ Ulante löste die Schnallen ihres Brustpanzers. „Aber für diesen Spätwinter hat mein Mann einen Besuch hier auf Glynwerk angekündigt. Bis dahin müssen die Gerüchte verstummt sein.“

      Sie sah Wiralin gebieterisch an, bis er nickte. Draußen vor der Generalskanzlei stieg Munias Bild wie ein Rachegeist vor Wiralins innerem Auge auf. Gewaltsam schob er das Bild beiseite. Er war nicht am Ende seiner Laufbahn angelangt. Er hatte nur eine schwere Zeit durchzustehen, das war alles.

      Erdree glaubte, eine kühle Hand auf ihrer Stirn zu fühlen. Im nächsten Moment war sie nicht mehr sicher, ob die Hand wirklich da gewesen war. Vielleicht hatte sie wieder fantasiert. Viele der vagen Erinnerungsfetzen in ihrem Kopf stammten wohl aus ihren Fieberträumen, statt aus der Wirklichkeit. Das Fieber musste ziemlich hoch gewesen sein. Sie kannte dieses matte Gefühl, das sie an ihre Matratze zu ketten schien. Außerdem lebte ein Rest der wankelmütigen Fieberhitze immer noch in ihrem Körper. Ihre ausgetrocknete Kehle schmerzte, aber ihr Hals schien nicht mehr so stark zugeschwollen zu sein wie vor einiger Zeit – wann immer das gewesen sein mochte. Erst nach einigem Ringen brachte Erdree ihre Augenlider dazu, sich zu heben. Ihr Blick fiel auf eine hell getünchte Decke. Gemessen an der Größe des Raumes war diese Decke ziemlich hoch – zu hoch für ein Zimmer in einem Gasthof. Tageslicht strömte durch ein Fenster, doch Erdree konnte hinter den Scheiben nicht mehr erkennen als einen Himmel voll dünner Nebelschwaden. Wahrscheinlich lag sie wieder in einem Herrenhaus. Ein plötzliches Geräusch brachte Erdree dazu, ihren Kopf erschrocken nach rechts zu wenden. Sicher würde nun Wiralin neben ihr auftauchen und ihr befehlen, sich rasch für die Abfahrt bereit zu machen. Allein die Vorstellung jagte einen Schauer durch ihren geschwächten Körper. Erdree fühlte sich unfähig, auch nur einen Fuß aus dem Bett zu heben. Sie wartete so angespannt auf den barschen Befehl, dass sie eine unbekannte, freundliche Stimme beinahe überhörte:

      „Guten Morgen! Wie wäre es mit einem Schluck Tee?“

      Ein Mann schob sich in Erdrees Gesichtsfeld. Seine braunen Augen betrachteten sie mit milder Sorge. Er schien nicht sicher zu sein, ob sie ihn verstanden hatte. Erdree nickte und versuchte, sich aufzurichten. Sofort glätteten sich die klaren, einfachen Gesichtszüge. Der Mann half ihr dabei, sich bequem hinzusetzen und reichte ihr dann eine Schale Tee. Obwohl er das Gefäß nicht ganz aus seinem Griff entließ, achtete er sorgfältig darauf, dass Erdree selbst bestimmte, wie schnell sie trank. Zuletzt stellte er die leere Schale beiseite und setzte sich auf die Bettkante.

      „Mein Name ist Oredion. Ich bin der Oberarzt des Linländer Heers.“

      Mit unermesslicher Erleichterung sank Erdree tiefer in ihre Kissen. Also war sie schon auf Glynwerk. Sie musste heute nicht mehr in einen Wagen steigen.

      „Du hast dir auf der Fahrt eine böse Lungenentzündung zugezogen. Aber es sieht so aus, als ob du das Schlimmste jetzt überstanden hättest. Zumindest ist das Fieber endlich zurückgegangen.“

      Der Arzt streckte eine Hand aus, um Erdrees Hals zu betasten. Seine Bewegungen waren ebenso bedächtig wie sein Blick. Weder seine Gegenwart noch seine Berührungen erfüllten Erdree mit Unbehagen. Dabei war sie sogar in Mooresruh den Berührungen der anderen Glasbrecher immer ausgewichen.

      „Wie ist dein Name?“

      Erdree räusperte sich vorsichtig. Würde sie einen Ton hervorbringen, der ungefährlich für Ohren und Fensterscheiben wäre? Es gelang ihr tatsächlich, ihren Namen zu krächzflüstern. Gleich darauf wurde sie von einem Hustenanfall gepackt.

      „Ordentlich heraushusten!“ mahnte Oredion, als Erdree versuchte, den Anfall zu dämpfen. „Der Schleim in deiner Lunge muss abgehustet werden. Keine Sorge, es ist nichts Gläsernes im Raum – bis auf die Fensterscheiben, aber die sollten dick genug sein, um deinem Husten standzuhalten. Und falls sie doch nicht dick genug sein sollten, ist es auch gleich. Es wird sich Ersatz finden.“

      Dankbar, aber nicht völlig beruhigt, folgte Erdree Oredions Anweisung. Nachdem sie den Schleim in die Schale gespuckt hatte, die der Arzt ihr vor die Nase hielt, richtete Erdree ihre tränenden Augen auf das Fenster. Kein einziger Sprung lief durch die Scheiben. Erdree atmete auf.

      Oredion blickte bekümmert in die Schale. „Nun, zumindest beginnt sich der Schleim zu lösen...“ Der Arzt zückte ein Hörrohr und schob Erdrees Nachthemd zur Seite. Stirnrunzelnd lauschte er einige Atemzüge lang. „Das rasselt noch ziemlich,“ stellte er fest. „Hast du Schmerzen in der Brust?“

      Erdree hoffte inständig, dass sie nicht jedes Mal einen Hustenanfall bekommen würde, wenn sie zu flüstern versuchte. „Es tut weh, wenn ich huste – aber nicht besonders stark.“

      Oredions linke Augenbraue hob sich besorgt. „Kann ich mich darauf verlassen, dass du deine Beschwerden nicht verharmlost, Erdree? In dem Schleim, den du ausgehustet hast, ist etwas Blut – es würde mich deshalb nicht wundern, wenn deine Schmerzen heftiger wären als ,nicht besonders stark.’ Wir haben beide nichts davon, wenn du deine Beschwerden herunterspielst – du nicht, weil du leidest, und ich nicht, weil ich nicht alles für dich tun kann, was vielleicht notwendig wäre.“

      Verlegen senkte Erdree den Kopf. Die Schmerzen beim Husten waren tatsächlich stärker gewesen als sie zugegeben hatte. In Mooresruh gehörte es zum guten Ton, die anderen Glasbrecher nicht über den eigenen Gesundheitszustand zu beunruhigen. Jeder hatte genug mit sich selbst zu tun. Außerdem musste Erdree sich eingestehen, dass es noch einen weiteren Grund für ihre Lüge gab: Sie wollte dem Oberarzt des Linländer Heers nicht noch jämmerlicher erscheinen als sie ohnehin war.

      Oredion deutete das stumme Schuldeingeständnis richtig: „Also – wie steht es nun mit den Schmerzen in der Brust?“

      Fest entschlossen, diesmal eine ehrliche Antwort zu geben, lauschte Erdree in ihren Körper hinein. „Wenn ich tief einatme, sticht es manchmal hier–“ Erdree deutete auf eine Stelle links neben ihrem Herzen. „Und hier sitzt auch der schlimmste Schmerz beim Husten. Die übrige Lunge schmerzt beim Husten nur leicht – wirklich!“

      „Und der Hals? Wie geht es dir beim Schlucken?“

      „Es fällt mir noch schwer,“ wisperte Erdree. „Der Tee ging, aber alles andere... Essen würde ich heute lieber noch nichts.“

      Oredion schüttelte sanft den Kopf. „Als dein Arzt muss ich darauf bestehen, dass du schon heute etwas isst – es wird eben Suppe und Grießbrei geben. Du bist viel zu mager. Vermutlich nicht erst seit deiner Reise.“ Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: „Ich werde nun Medizin und etwas Suppe holen gehen. Wenn du gegessen hast, wirst du wahrscheinlich wieder schlafen wollen. Das wäre auch sehr empfehlenswert. Morgen würde ich dich gerne genauer untersuchen – wenn das Fieber weiterhin sinkt und ich es verantworten kann, dass du für kurze Zeit das Bett verlässt.“

      Erdree nickte. Dann erwiderte sie ratlos den nachdenklichen Blick des Arztes, der immer abwesender wurde. Endlich richteten Oredions Augen sich wieder bewusst auf sie.

      „Bist du wirklich die kräftigste unter den Glasbrechern, Erdree?“

      Niedergeschmettert zog Erdree ihre Bettdecke höher. Sogar dieser verständnisvolle Arzt, der mehr über die Glasbrecher wissen musste als alle anderen Linländer, war von ihr enttäuscht?

      „Ja, ich bin die kräftigste unter den Glasbrechern – zumindest unter den Erwachsenen.“ Erdree war so aufgewühlt, dass es ihr schwerfiel, ihre Stimme zu einem Flüstern zu dämpfen. „Glaubt Ihr denn, dass der Älteste der Glasbrecher es gewagt hätte, die Generalin zu hintergehen?“

      Oredion hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nein! Ich hätte nur nicht gedacht...“ Er ließ den Satz in der Luft hängen und schüttelte nochmals sanft den Kopf. „Ich werde gleich wieder zurück sein – mit einer Schale Suppe und mehr Tee.“ Nach einem