Название | Die Glasbrecherin |
---|---|
Автор произведения | Irene Euler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738056839 |
„Ich spanne schon einmal die Maultiere an,“ zischte Wiralin in Utos Richtung. „Aber an deiner Stelle würde ich das nicht als Freibrief dafür nehmen, noch länger hier herumzutrödeln!“
Der Bogenschütze schlüpfte ungestüm in seinen Mantel und stolzierte zur Hintertür hinaus. Unschlüssig stemmte Erdree sich von ihrem Sitz hoch. Erwartete Wiralin, dass sie ihm folgte, oder sollte sie ihm besser aus dem Weg gehen?
„Der hat es ja ganz schön eilig, von hier zu verschwinden.“ Uto grinste den Küchengehilfen an und deutete mit dem Daumen zu der Tür, durch die Wiralin verschwunden war. „Man sollte meinen, dass es ihm in Redanshaim besser gefällt, wo die Hausherrin ihn doch für den schönsten Mann von ganz Linland hält...“
Der Gehilfe erwiderte das schmierige Grinsen. Die Häme der beiden Männer setzte aller Unschlüssigkeit ein Ende. Erdree flüchtete aus der Küche. Wenn Uto und der Gehilfe es wagten, den Obersten Bogen von Linland zu verspotten, wollte sie nicht wissen, was ihnen zu einer Glasbrecherin einfallen würde. Niemand eignete sich so gut als Spottobjekt wie eine benommene Glasbrecherin, die von vier Reisetagen an die Grenze ihrer Lebenskraft gedrängt wurde. Genau genommen eignete sich eine Glasbrecherin zu nichts anderem als zu einem Spottobjekt. Wiralin hatte das noch vor dem Tor von Mooresruh begriffen. Und auch die Generalin würde es bei ihrer ersten Begegnung sofort begreifen. Erdree fürchtete diese Begegnung und sehnte sie gleichzeitig herbei. So sehr ihr davor graute, die völlige Nutzlosigkeit der Glasbrecher ein für alle Mal zu beweisen – wenn sie diese Nutzlosigkeit bewiesen hätte, müsste sie sich wenigstens nicht länger quälen. Sie könnte schicksalsergeben jenes Ende erwarten, das jedem Glasbrecher fern von Mooresruh blühte. Und diese Reise wäre endlich vorbei... Ermattet starrte Erdree in den Hinterhof. Der Wagen stand schon zum Anspannen bereit. Soeben führte Wiralin die Maultiere aus dem Stall. Wie üblich schenkte er Erdree keine Beachtung, und auch ihr Blick blieb nur aus Geistesabwesenheit an ihm hängen. Trotzdem zog seine raubkatzenhafte Gewandtheit sie in den Bann. Erdree wäre nicht überrascht gewesen, wenn Wiralin blitzschnell zwischen den beiden Maultieren an der Wagendeichsel durchgeschlüpft wäre, ohne eines von ihnen zu berühren. Diesem schlanken, elastischen Körper schien jede Bewegung möglich zu sein. Doch sobald Wiralin wieder seine betont stolze Haltung annahm, fielen nur noch seine Größe und die breiten Schultern auf – und sein Gesicht. In seiner Konzentration auf die Maultiere hatten die energischen Linien von Wangen und Kinn ihre Schärfe verloren. Die entspannten Lippen ließen plötzlich ihren feinen Schwung erkennen. Selbst über der riesigen Narbe war noch der kühne Bogen seiner Braue zu erkennen. Die Adlernase gab Wiralins Gesicht nun Charakter, ohne es zu beherrschen. Nur sein Auge blieb unverändert hart und kalt. Erdree fand sich unweigerlich an Munias Begrüßung und an Utos Spott erinnert. Die Herrin von Redanshaim hielt Wiralin für den schönsten Mann Linlands. Oder zumindest hatte sie ihn einmal dafür gehalten. Gemessen an den Glasbrechern war Wiralin zweifellos schön. Aber neben den elenden Bewohnern von Mooresruh sah jeder normale Linländer wie ein strahlender Held aus. Ein klares Bild von den Männern in den Herbergen wollte sich nicht aus Erdrees Gedächtnis hervorzerren lassen. Ihre Gesichter und Gestalten waren unter der Flut von neuen Eindrücken verschwommen. Schließlich gab Erdree auf. Wenn Wiralin schön war, dann auf dieselbe Weise wie die Herrin von Redanshaim. Und diese Art von Schönheit würde sie niemals ohne Schaudern betrachten.
Ein warmer Wind hatte das Eis über Nacht weggetaut. Dafür versanken die Wagenräder auf den ungepflasterten Straßen hinter Monstedt tief im Schlamm. Zu Mittag zogen wieder schwere Wolken auf. Diesmal brachten sie dichtes, nasses Schneegestöber. Am Fuß der weiten Hochebene, an deren anderem Ende der Glynwald lag, versanken die Maultiere bereits bis über die Fesselgelenke im Schnee. Bergauf fanden die Tiere auf dem matschigen Untergrund noch schlechteren Halt. Sogar in ihrem Dämmerzustand bemerkte Erdree, dass der Wagen immer langsamer voran kam. Sie war nicht überrascht, als Wiralin irgendwann die Tür öffnete und aus dem Wagen sprang. Erst unter seiner Stimme fuhr sie zusammen:
„Steig aus, wir müssen zu Fuß gehen. Bei diesen Verhältnissen haben die Maultiere mit dem Wagen allein genug zu tun.“
Der Sinn seiner Worte drang nur langsam in Erdrees Bewusstsein vor. Noch länger dauerte es, bis ihr Körper endlich den Befehlen ihres Gehirns folgte. Während sie ungelenk aus dem Wagen kletterte, erschien ihr alles irreal – die dicken Schneeflocken, der klamme Wind und das düstere Zwielicht unter dem zugezogenen Himmel. Umso heftiger holte der erste Schritt in den Schnee sie in die Wirklichkeit. In wenigen Augenblicken waren ihre Halbschuhe völlig durchweicht. Erdree stockte der Atem. Wie weit würde sie in diesem Wetter gehen müssen? Es sah nicht so aus, als ob ein Dorf in der Nähe wäre – geschweige denn, eine Stadt. Neben ihr ragte dieselbe steile Felswand auf, an der sie schon seit Mittag entlang gefahren waren. Und dort vorne schien die Straße noch steiler zu werden. Inzwischen war auch Uto vom Kutschbock gesprungen, um die Maultiere am Zügel zu führen. Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Erdree fuhr sich mit einem Finger quer über die Stirn und nahm die Wanderung mit gesenktem Kopf auf.
Was als Kampf begann, wurde ein immer tieferer Alptraum. Utos Keuchen verriet, dass es selbst für einen gesunden Linländer anstrengend genug war, bergauf durch kniehohen Schnee zu stapfen. Für Erdree war es die reinste Tortur, obwohl sie sich hinter dem Wagen hielt und in der ausgetretenen Spur ging. Nichts in ihrem Leben hätte sie auf diesen Fußmarsch vorbereiten können. Die Glasbrecher verließen ihre Behausung so wenig wie möglich. Das abgelegene Moor verschaffte ihnen zwar Ruhe und die bitter notwendigen Moorbäder, lud aber keineswegs ins Freie ein. An den Gestank und an die Insektenschwärme hätten die Glasbrecher sich vielleicht gewöhnen können. Doch die wenigen trockenen, sicheren Wege durch das Moor waren schwer zu finden und zu leicht zu verlieren. Die schlechte Gesundheit der Glasbrecher erlaubte ihnen bestenfalls kurze Spaziergänge. Wer sich verirrte, war verloren. So sparten die Glasbrecher ihre geringen Kräfte lieber für ihre alltäglichen Arbeiten. Besonders das Stallausmisten und das Torfstechen bewältigten sie nur schwer. Strenge Abwechslung nach höchstens einer halben Stunde war hier das oberste Gebot. Erdree konnte bald nicht mehr sagen, wie viel Zeit bereits vergangen sein mochte. Ihre Beine beklagten sich bitter über die nie gekannten Strapazen. Ihre wunde Kehle schnappte mühsam nach Luft, wenn sie nicht gerade von Husten unterbrochen wurde. Ihr Herz hämmerte so heftig gegen ihre Rippen, als ob es aus dem viel zu engen Brustkorb ausbrechen wollte. Ein Kälteschauer nach dem anderen lief über Erdrees Körper, obwohl sie gleichzeitig schwitzte. Schnee und Schweiß hatten ihre Kleidung längst völlig durchweicht. Schon dreimal war Erdree auf die Knie gefallen und hatte sich unter größter Anstrengung wieder aufgerappelt. Dass die geschmolzenen Schneeflocken sich auf ihrem Gesicht mit Tränen der Verzweiflung vermischten, bemerkte sie nicht einmal. Als sie kurz nach dem Einfall der Dämmerung der Länge nach hinschlug, fühlte sie nur noch eines: Erleichterung – Erleichterung darüber, dass sie ihre Füße nicht mehr heben musste. Unter ihren geschlossenen Lidern flirrten bunte Schleier. Erdree versenkte sich in das Farbenspiel. Seltsamerweise holte der Ruck, der irgendwann durch ihren Körper ging, sie nicht aus dem Farbenspiel, sondern aus völliger Dunkelheit. Ihre Kutte spannte sich um ihren Hals. Hatte jemand sie im Nacken gepackt und an ihrem Gewand hochgezogen?