Stromboli. Wolf Buchinger

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Название Stromboli
Автор произведения Wolf Buchinger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742737489



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Ehren, Blut auf die Stirn geschmiert.

      Das ist das tiefe Ur-Italia. Muss man verstehen, kann man aber nicht verstehen, das sind wahrscheinlich noch Überbleibsel aus der Urzeit, als Tiere und Menschen noch eng miteinander gelebt haben.“

      Sie schweigt, setzt sich neben das Tier und verhüllt ihren Kopf mit einem Tuch.

      Blut, Schweiß und Tränen

      Welch ein archaisches Bild! Ein totes Schaf in einem vergammelten Hinterhof, eine große Schale frisches Blut, ein menschliches Wesen, zusammengesunken, zuckend vor Emotionen und ein Fremdling, der vollkommen überfordert ist, dem sich der Magen umdreht, der wegen der starken Gefühlsregungen einem Kreislaufkollaps nahe ist und der keine Ahnung von einem Plan hat, wie es jetzt weitergehen kann. Nie Ähnliches erlebt, noch nicht einmal geträumt. Wenn Jesus jetzt um die Ecke käme, würde mich das nicht wundern. Hier hat sich seit zwei Jahrtausenden kaum etwas verändert, in geschlossenen, geheimen Riten und Gewohnheiten ist hier alles beim Alten, besser noch, beim Uralten geblieben. Ich muss tief durchatmen, ge-nieße trotzdem oder gerade deswegen diese intensiven Momente und mache mir bewusst, dass ich gestern noch - aus der jetzigen Situation heraus betrachtet, - in einer miefigen, tristen und emotionsarmen Ecke unseres Planeten gehaust habe. Fünfzig Jahre lang. Und in wenigen Stunden erfahre ich hier, was Gefühle, menschliche Nähe, intime Kontakte zu Tieren und eine ländliche Umgebung an Eindrücken schaffen, die ich noch in keinem Buch gelesen habe oder gar erhoffen durfte. Ich zweifle an meiner Idee, hier etwas für mich Gewaltiges tun zu müssen, jetzt scheint es mir viel zu egoistisch, ja ausgesprochen dumm. Je länger ich über diese momentane Situation sinniere, umso gewaltiger wirkt das Erlebte, das ja noch kein Ende hat. Was wird Mia nach ihrem endlosen Schluchzen tun? Wer wird das Schaf auseinandernehmen? Wer wird es wie für den Abend präparieren? Was wird am Abend geschehen? Das sind ja fast Drohungen der brutalen Art, dass diese Sternschnuppen von gewaltigen Emotionen weiter bei mir einschlagen könnten. Und sie tun es: Mia hebt zögernd ihren rechten Arm unter ihrer Vermummung hoch, dreht mehrmals die Hand bis ich kapiere, dass ich sie nehmen soll, um sie hochziehen. Schwer ist sie, sehr schwer, ein nun willenloser Körper, der wie das tote Schaf bei Bewegung von außen einfach nur hin- und herwabbelt. Kaum halbwegs in Standhöhe, krallt sie sich an mir fest und schluchzt weiter. Langsam wechselt sie von italienischem Gebrabbel in halbwegs verstehbare deutsche Laute:

      „Scheiß Tod! Scheiß Tod. Stimmts?“

      Wieso fragt sie ausgerechnet mich? Sie hat das Tier doch umbringen lassen. Nein, unangebrachte Scheinlogik darf ich jetzt nicht voraussetzen. Auch keine Erklärungen, ich bin am Ende der Welt und am Anfang von neuen alten Erfahrungen. Ich nicke und lasse sie gewähren. Das Frage, wie es nun weitergeht, wird wie ein Deus ex machina von unerwarteter Stelle gelöst: Aus dem oberen Fenster im Haus ruft eine spitze Frauenstimme:

      „Ist es soweit? Hallo! Kommen wir?“

      Mia schafft gerade noch ein Nicken und über die Holz-treppe kommt fröhlich pfeifend ein Wesen, das geradewegs aus dem Paradies entlaufen scheint – wenn hier die Araber Jahrhunderte gelebt haben, dann ist sie wohl ein Produkt des Himmels, so müssen sie sich die 24 Jungfrauen vorgestellt haben, für die sie gerne gestorben sind. Barfuß, mit schwarz angemalten Zehennägeln, Hotpants, die über den Oberschenkeln sehr, sehr eng werden, ein lockeres, leicht durchsichtiges weißes T-Shirt, unter dem nur die Hälfte von Busen im Vergleich zu Mia bebt, was für einen scharfe Männerblick maximal daherkommt, weil alles noch stehen kann und immer in Bewegung bleibt. Ihr Gesicht strahlt wie ein Engel in katholischen Kirchen und sie hat Mandelaugen, die wahrscheinlich schon Caesar in Wallungen gebracht hätten. Frau in Perfektion. Ich muss mich zwingen, ihr nur in die Augen zu schauen, sie hopst wie ein vierjähriges Mädchen auf mich zu:

      „Hallo Marco, ich bin die Pia.“

      Sie wartet keine Antwort ab, schließlich weiß auch sie alles über mich.

      „Mama geht es nicht gut, du hast schon eine Schürze an, du bist heute Abend eingeladen, du hilfst uns, wir sagen dir, was zu machen ist!“

      Welch eine Logik! Ich bin nun als Arbeitskraft fest eingeplant und pariere ohne Chance auf einen Protest. Wie zu meinen Ehezeiten.

      „Wir machen in der Küche weiter, bring schon mal das Schaf rüber, aber bitte nicht über den Boden schleifen, gell, du musst es tragen, damit es sauber bleibt.!“

      Wunderschön: Eine Sommerküche, komplett eingerichtet, unter Olivenbäumen, davon habe ich immer geträumt. Der leichte Fallwind vom Vulkan lässt darin flirrende Schatten der Blätter entstehen, die drei Petroleumlampen an den Ästen bewegen sich kreisförmig, hier scheint immer alles in Bewegung zu sein.

      Nur das Schaf nicht. Das Vieh ist so schwer, dass man sich einen Bruch heben könnte. Wenn ich es an den Beinen hochziehe, fällt der Restkörper bleischwer nach unten und wird erst durch den Boden gestoppt. Ich versuche es, unterm Bauch auf den Arm zu nehmen, wir kommen uns sehr nahe, intensiver Schafsgeruch mal Blut mal Erde mal Scheiße, klar, es hatte dann doch Todesangst und musste als Letztes in seinem Leben noch ausreichend knoddeln. Eigentlich hat mich die Urzeit mit ihren archaischen Lebensformen immer interessiert, wenn das Literarische aber weg ist und die Realität Einzug gehalten hat wie jetzt in diesem Moment, schwindet mein Interesse rasant. Ich verzweifle an dem Tier und meiner Unfähigkeit, es vernünftig zu tragen. Ich bin so weit, dass ich meinen Koffer aus dem Zimmer holen will und mich auf französische Art

      aus dem Staub machen möchte. Geht nicht, jeder kennt hier jeden und selbst, wenn ich die Konkurrenzfähre nehmen würde, wüsste es bald die ganze Insel, sie würden mich sicher schnell finden und zurückholen.

      Also: Neue Taktik suchen! Schließlich war und bin ich Unternehmer. Ziehen darf ich nicht, heben schaffe ich nicht, rufen und um Hilfe bitten, liegt unter meiner Würde, ich versuche es nochmals mit seitlichem Anheben – zu schwer. Oh, dahinten im zerfallenen Schuppen steht so etwas Ähnliches wie eine Schubkarre, uralt mit Holzrädern und voll funktionsfähig. Ich blockiere mit dem rechten Fuß das Rad und ziehe und zerre, so gut es eben geht, das tote Tier nach oben, die Schürze rutscht weg, mit dem Knie muss ich stabilisieren, der Kopf rutscht drüber und meine hellbeige Sommerhose ist von unten bis oben mit Blut verschmiert und überraschend warm. Nun rieche auch ich komplett nach totem Schaf. Das Parfum unserer Vorfahren. Die beiden Frauen sind so mit ihren vielfältigen Utensilien beschäftigt, dass sie mich erst bemerken, als das Tier schon auf dem Küchentisch liegt.

      „Oh, schon da! Hätten wir dir nicht zugetraut, dass du so kräftig bist. Bravo!“

      Ich schiebe langsam, und ohne, dass sie es sehen können, die Schubkarre weg.

      Jetzt harmonieren die beiden Schwestern als würden sie jeden Tag Schafe auseinandernehmen. In einem gekonnten Schnitt öffnet Mia den Bauch längs zur Achse, reißt

      die Haut auf beiden Seiten in geübtem Ruck nach oben die Innereien quellen heraus. Sie beachten sie nicht, ich aber ekle mich über die selbstverständlichsten Dinge des Lebens, ich bin überrascht, dass so viele Farben im Innern eines Schafes verborgen sind, von fast weiß über gelb, hellrot bis zu dunkelstem Purpurrot. Irgendwelche Muskeln sind noch nicht erstarrt und zucken sichtbar weiter, jetzt muss ich ganz stark bleiben. Der Gedanke, dass das Tier eigentlich tot ist, aber in ein paar Teilen noch weiterlebt und somit auch Schmerzen oder sogar Gefühle erleben könnte, zwingen mich, Halt am wackligen Tisch zu suchen.

      „Hier für dich! Eine Spezialität, die du nur hier bekommst!“

      Mia reicht mir mit einem blutigen Messer Faserteile von Muskeln im Oberbauch, die sich wie Regenwürmer auf- und ab bewegen:

      „Das ist Lebensenergie! Wir glauben daran, dass sie – wenn man genug davon isst – in den menschlichen Körper übergehen und uns verjüngen.“

      Ich klaube die zwei kleinsten Teile mit den Fingern vom Messer:

      „Alles – sonst wirkt es nicht! Du willst doch auch hundert werden?“

      Ich muss weitere vier Messerladungen runterzwängen, kaue nicht, schlucke nicht, etliche Muskelteile stauen sich im Rachen, ich bekomme einen Hustenanfall und sehe jetzt offensichtlich noch käsiger