Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich. Jo Hilmsen

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Название Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich
Автор произведения Jo Hilmsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742782397



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schamlos getäuscht, indem Sie meine Gutmütigkeit ausnutzten, um meine Meinung zu einem unaufgeklärten Kriminalfall zu hören. Das konnte ich noch akzeptieren, weil mich das Schicksal dieses Mädchens berührt. Mittlerweile strapazieren Sie meine Geduld allerdings ungebührlich. Sollten Sie irgendwelchen Hirngespinsten nachhängen, bin ich ganz gewiss nicht der richtige Ansprechpartner. Also stellen Sie jetzt gefälligst Ihre Fragen zu den Jugendprojekten!“

      „Die brandenburgische NPD zeigt sich hocherfreut über diese Projekte. Sie lobte Ihre vernunftgezeichnete Weitsicht, wie sich ihr Vorsitzender ausdrückte. Wieso?“

      „Warum fragen Sie nicht den Bürgermeister von Gerswalde. Der ist, glaube ich, in der SPD. Und jetzt verlassen Sie bitte mein Haus!“

      „Sie nennen diese Jugendarbeit Redemokratisierung, Herr Graf. Ich nenne es Rekrutierung. Ihre Jugendlichen werden im Naturschutzgebiet der Uckermark geschliffen. Es gibt Fotos.“

      Die gusseisernen Flügel des Tores öffneten sich automatisch und Winterstein gab Gas. Die Lindenallee dämpfte das Licht, aber es war wunderbar. Winterstein betastete sein Diktiergerät. Das Interview war im Grunde unbrauchbar. Graf von Wiltberg würde es niemals autorisieren. Egal. Den Artikel konnte er trotzdem schreiben. Und viel wichtiger war etwas anderes. Er hatte einen neuen Anhaltspunkt für seine Recherchen: Hyperborea.

      Ob zufällig oder wegen seiner hartnäckigen Fragerei, Freiherr Graf von Wiltberg hatte ihm einen Hinweis geliefert. Was hatte es mit diesem Hyperborea auf sich?

      In der rechten Szene wurde es zunehmend bedeutender, nicht nur rassistische, fremdenfeindliche oder sonst welche Parolen zu brüllen, sondern man war bemüht, sich eine gemeinsame Identität zu geben. Eine Identität, die nicht nur in der Gesinnung begründet lag, sondern in einer historisch verbrieften Mission. Sowie er zurück war, nahm sich Daniel vor, würde er sich sofort an die Arbeit machen.

      Kapitel 3

      „Du Sackwok!“, kicherte Herr Urban.

      „Du Sojafurz!“, johlte Herr Blumentritt und schlug mit beiden Händen auf seine dicken, kurzen Oberschenkel.

      „Du Matratze!“

      „Du Nudelhals!“

      Herr Urban und Herr Blumentritt wieherten im Chor. Dann stand Herr Urban auf, strich sich über den fast kahlen Schädel und schaute zum Fenster hinaus.

      „Du Eckfahne!“

      „Du Schiedsrichter!“, konterte Herr Blumentritt und das Gelächter begann von vorn.

      Unten fuhr ein Wagen vor. Der Wagen hielt vor dem Eingang des Heims und eine Tür wurde geöffnet.

      „Ah, der Herr Benjamin“, sagte Herr Urban und pochte mit dem Zeigefinger auf die Fensterscheibe, um sich bemerkbar zu machen. Keine Reaktion. Stattdessen hörte er hinter sich: „Du Tornetz.“

      Werner Blumentritt, der älteste Mann mit Down-Syndrom im gesamten Landkreis, rutschte von seinem Stuhl, blinzelte mit den Augen, (eine Folge seines Grauen Stars) und schlurfte in Richtung seines Zimmers.

      „Ah, der Herr Benjamin“, wiederholte Herr Urban. „Sie sind ein rechter Lümich, Sie!“, sagte er und machte eine Geste, als würde er jemandem eine Verwarnung aussprechen. Dann kicherte er laut und winkte in Richtung des jungen Mannes, der gerade dem Auto entstieg. Normalerweise grüßte der Herr Benjamin immer zurück, wenn er zum Dienst kam. Mal winkte er, mal lachte er oder rief irgendetwas nach oben. Nichts passierte. Und Herrn Urbans Winken konnte er nicht sehen, weil er stur in Richtung Eingangstür starrte.

      Dennoch drehte Herr Urban gut gelaunt seinen massigen Körper vom Fenster weg und öffnete die Tür zu seinem kleinen Zimmer.

      „Du Suppensepp!“, sagte er irgendwohin, aber Herr Blumentritt, der sofort reagiert hätte, war inzwischen außer Hörweite.

      Benjamin Krause war sauer. Stinksauer. Er nahm die Stufen zur Eingangstür mit wenigen Sprüngen, riss die Tür auf und stürmte die Treppe hoch in Richtung Dienstzimmer, ein Blatt Papier vor sich her wedelnd.

      Neben dem Eingang hockte Ralf vor dem Hauskater: „Na, Felix. Wie war Ihr Tag?“

      Es war lächerlich. Selbst die Bullen in der Mastbullenanlage, bei denen die Jungs tagsüber schufteten, wurden von den Behinderten gesiezt. Ein Ärgernis, das sich Benjamin schon seit Langem vorgenommen hatte, anzusprechen.

      Im Dienstzimmer saß Corinna Baumgart, die Teamleiterin, und überprüfte ihre Fingernägel. Die anderen Kollegen waren irgendwo beschäftigt. Umso besser!

      „Was soll der Scheiß?“, fuhr Benjamin sie an und Corinna erschrocken herum. „Ich hatte mir für das nächste Wochenende ein frei eingetragen und jetzt das hier.“ Er warf ihr den Dienstplan vor die Nase und schniefte. Corinna zupfte irgendwo herum und mimte Trotz. Beide bedachten sich mit bösen Blicken. Dass sie sich nicht riechen konnten, wusste jeder.

      „Herr Jungmann hat den Dienstplan geändert. Nicht ich! Lisa ist krank geworden. Du musst einspringen.“

      „Wieso ich?“

      Schulterzucken als Antwort.

      „Warum pfuscht Jungmann ständig in unseren Angelegenheiten herum? Ich dachte, das wäre deine Aufgabe.“

      Erst seit ein paar Wochen war Corinna zur Teamleiterin aufgestiegen. Ein Ergebnis der Umstrukturierung des Hauses. Jetzt gab es zwei Gruppen mit zwei Teamleiterinnen. Zwei Frauen! Etwas anderes hatte Benjamin nicht erwartet. Er selbst war natürlich chancenlos geblieben, obwohl er sich ganz offiziell beworben hatte.

      „Ich kann nächstes Wochenende nicht arbeiten!“

      Corinna seufzte hörbar.

      „Du kannst nie arbeiten, wenn wir dich hier brauchen.“

      „Also, das ist jetzt aber wirklich Quatsch!“ Jede Diskussion mit Corinna Baumgart endete meistens in einem Wust gegenseitiger Beschimpfungen. Es war sinnlos.

      „Ich kann nächstes Wochenende nicht. Ich... ich habe wichtige Termine.“

      „Du hast wichtige Termine? Das ist ja das Allerneueste.“ Corinna tat alles, damit Benjamin sie hasste, und er bekam große Lust, ihr ein Auge auszustechen.

      „Was ist mit dir? Warum arbeitest du nicht?"

      Das war ein Fehler, dachte er, normalerweise konnte man Corinna leicht um den Finger wickeln. Eine eitle Schnepfe mit Hang zur Selbstaufopferung. Aber diesen Moment hatte er vergeigt. Jetzt half nur noch die Brechstange.

      „Mich hat Herr Jungmann gar nicht gefragt“, antwortete Corinna, fast als wäre sie darüber gekränkt. Kein Wunder, dass Jungmann sie nie in sein Büro zitierte. Die würde ihm am Ende noch den Schreibtisch aufräumen. Leute wie sie waren eine Plage und jeder wusste, dass sie in ihrer Freizeit klöppelte.

      „Okay. Hättest du denn unter Umständen Zeit?“

      „Ich? Nein!“

      „Komm, Corinna. Ich arbeite auch das Wochenende darauf für dich. Wenn du willst auch die beiden nächsten.“

      „Du weißt, Benjamin, was Herr Jungmann über die Diensttauscherei denkt.“ Ja, natürlich Herr Jungmann. Das weiß ich doch, Herr Jungmann. Genau, das habe ich auch eben gedacht, Herr Jungmann. So lief das mit allem.

      Benjamin verdrehte die Augen und äffte sie hinter ihrem Rücken nach. Corinna hatte sich über einen Fetzen Papier gebeugt und konnte ihn gerade nicht sehen.

      „Was ist mit Thomas oder Anja? Ich bin doch nicht der Einzige hier!“

      „Die fahren zusammen auf ein Open-Air.“ Benjamin wurde schmerzlich bewusst, auf welches Open-Air die beiden fuhren. Auf die Fusion. Er war letztes Jahr dort gewesen und hatte insgeheim gehofft, dass Anja in diesem Jahr mit ihm vielleicht dorthin fahren würde. Dummerweise war er nicht dazu gekommen, sie zu fragen.

      „Ach, ja? Zusammen?“