Название | Die Entleerung des Möglichen |
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Автор произведения | Reinhold Zobel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753181400 |
Das liegt nun gut eine Woche zurück. Oskar trinkt einen Schluck Café au lait. Er hält die Tasse, als hielte er sein Schicksal, mit beiden Händen. Es wird langsam warm auf der Terrasse. Ein Duft von Ginster und Heide reist mit dem Wind. Nebenan fährt ein Auto vor. Es ist der Nachbar. Er steigt aus, winkt kurz herüber. Sie winken zurück. Dann öffnet er die Tür zum Kofferraum und wuchtet etwas Schweres ins Freie. Es ist ein Rasenmäher.
“Siehst du das?”
“Ja...Warum hat er den nur mitgebracht? Er hat doch schon einen.”
“Der andere ist defekt.”
“Ah ja?”
“Er muss sich diesen irgendwo ausgeliehen haben, dieser Verrückte.”
Oskar setzt die Tasse ab. Sie klirrt heftig, als er das tut. In Constanzes Augen steht, als hätte sie das Ausknipsen vergessen, noch immer ein Fragezeichen. Besser, sie verlassen bald das Haus.
Die ersten Jahre haben sie ihre See-Urlaube auf der Höhe von La Baule verbracht. Dort hatten sie ein kleineres, einfaches Domizil, das aber ganz und gar für sich lag. Dann beschlossen sie irgendwann, weiter südwärts zu urlauben, der Natur wegen, die sich hier wilder zeigte. Oskar fasst sich an die Nase, die von der Sonne gerötet ist. Eventuell, überlegt er, war das ja doch keine so brillante Idee.
Anruf aus London. Es ist David, ihr Sohn. Er ist neunzehn und überrascht mit der Ankündigung, er überlege sich, das zu werden, was der Vater ist, Architekt. Seltsam. Neulich wollte er noch Rockmusiker werden. Er ist auf Besuch bei einem Freund in der britischen Hauptstadt. Er erkundigt sich, ob bei ihnen alles in Ordnung sei? Er sagt, ihm selbst gehe es gut. Good is not good enough. Oskar ahnt, dass er Geld braucht. Er fragt diskret nach und findet seine Ahnung bestätigt. Er wird David eine Geldanweisung schicken. Constanze spricht dann mit ihm, etwas länger als Oskar. Der steht auf, trägt das Geschirr ins Haus. Man könnte eine Radtour machen, denkt er, obwohl seine Frau, wie er vermutet, einen Tag am Strand vorziehen wird. Aber heute hat er drei Wünsche frei.
Oskar leert in der Küche den Abfalleimer und trägt die volle Tüte durch den Vordergarten zum Müllcontainer. Er sieht gewohnheitsmäßig nach der Post. Es ist, wie nicht anders zu erwarten, nur Werbung gekommen. Einen Moment bleibt er unter der hohen alten Zypresse stehen, die vor dem Gartentor ihren Schatten wirft. Es wird heiß werden. Es ist Ende Juli. Er kehrt langsam ins Haus zurück. Wie oft ist er diesen Weg schon gegangen? Wie viele Schritte, seit Constanze und er erstmalig hierher gekommen sind? Eine Zahl, sanft ansteigend, unterwegs zu Googol?
Sie lagen unter Bäumen. Er auf dem Rücken, sie auf dem Bauch. Sonnenboten spähten durch dichtes Blattgrün. Wind murmelte im Laub. Lichtreflexe schmiegten sich in die Höhlung ihrer Kniekehlen. Es kam alles zusammen. Die Natur, die Liebe und ein Gefühl geschenkter Zeitlosigkeit. Sie sprachen nicht, hielten einander an der Hand. Sie wusste nicht, was er dachte. Hätte sie es gewusst, hätte sie sich erschrocken. Am Vortage hatte er mit dem Gedanken gepokert, sich abzuschaffen. Eine blasse Kopie davon machte jetzt noch einmal die Runde durch seinen Schädel. Doch er war glücklich für den Augenblick. Zweimal am Tag, räsonnierte er, bin ich ohne Mut, zweimal am Tag schöpfe ich Hoffnung.
Sie machen die Radtour, kürzen sie aber ab. Der Tag bringt Hitzekämme. Selbst nach Einbruch der Dunkelheit ist es weiterhin drückend heiß. Es gibt einen Ventilator im Haus. Aber der ist defekt (wie der Rasenmäher des Nachbarn). Schade. Man hätte jetzt gut einen heilen gebrauchen können. Tief in der Nacht schreckt Oskar aus dem Schlaf auf. Er hört eine Tür im Wind schlagen. Auf einmal ist ihm merkwürdig bang.
*
Wasser sprudelte, um Lumpen herum, über den Rinnsteinen der Stadt. Die Häuser standen so eng beieinander, als frören sie, sie standen da in ihren verwaschen mausgrauen Einreihern, schläfrig, und verströmten einen verrauchten, leicht süß parfümierten Duft, der noch der eben abgeträumten Nacht entstammen musste.
Als er aufwachte, war er fünfzig. Das war am Ende nichts Besonderes. Dennoch, dieser späte Morgen tickte wie ein Nachruf zum Fenster herein, das offen stand. Ein Rest an Schlaf rollte über seine Augenlider ab. Der große Zeiger der Uhr zog an der Elf vorbei. Das Wetter zeigte sich wechselhaft. Im Radio liefen die Nachrichten, und eine tiefe männliche Stimme meldete Unruhen in Algerien. Er hatte vergessen, das Gerät auszuschalten, gestern Abend.
Oscar von der Höh ging, als er ins Bad ging, barfuss. Er fand seine handgenähten Hausschuhe nicht. Er musste sie verlegt haben. Oder hatte er sie, im Blindflug verflossener Stunden, aus dem Fenster geworfen? Wenn ja, waren sie vielleicht jetzt zwei Sterne Erster Ordnung.
Auf dem Weg durch den Flur fiel sein Blick auf einen Brief, den jemand unter der Wohnungstür hindurch geschoben hatte. Das war hier immer so, wenn Post kam. Er hatte keinen Briefkasten. Er hob den Brief auf und legte ihn, ungelesen, auf die Kommode. Er schaute nicht einmal auf den Absender. Das konnte warten, wie manches andere.
Jemand hustete im Treppenhaus. Er zuckte leicht zusammen. Ein notorischer Reflex. Doch musste er heute nicht fürchten, dass, wenn es klingelte, auf der anderen Seite der Tür der Mann stand, der die Kuckucks klebte. Nicht nur, weil Sonntag war. Er hatte seine Adresse gewechselt, und er hatte sie gründlich gewechselt. Er befand sich sozusagen in einer neutralen Zone, er befand sich im Ausland. Trunkenheit am Steuer plus Fahrerflucht. Ein halbes Jahr eingesperrt. Und nicht lange, nachdem er aus der Haft entlassen war, saß er bereits erneut in der Falle… War er abermals flüchtig? Oder noch immer? Man konnte das so sehen. Und gewisse Personen sahen das sicher so.
Jeder, stellte er für sich fest, hat eine Lebenslinie, die er nicht überschreiten sollte. Das Problem ist indessen, sie zu kennen. Er bezog den Gedanken nicht auf die monetäre Seite seiner Lage, die verheerend war. Nein, der Gedanke kam lediglich als eine Art Windbö daher, ohne festes Ziel. Er schaute kurz aus dem Fenster. An diesem Ort schien alles anders, außer es regnete. Denn regnete es, konnte, fand er, selbst Paris trübsinnig wirken. Die Erfahrung machte er, als er hier eintraf. Die ersten sieben Tage schüttete es nämlich ohne Pause. Es war seine Hotelgast-Periode. Es war tief im November…
Sein erster Gang führte ihn morgens für gewöhnlich zur Boulangerie um die Ecke. Ein frisches demi baguette zum Kaffee. Mit das Angenehmste, fand er, was man sich für den Tagesauftakt wünschen konnte. Seine irdische Existenz hatte unerwartet (unerwartet für ihn) eine gewisse Ordnung sowie einen veränderten Rhythmus angenommen.
“Ich rate Ihnen: Regeln Sie endlich einmal Ihre Angelegenheiten:”
“ Ja, vielleicht, wenn es die letzten sind.“
Das war ein Schlussdialog, der sich unvermittelt in seine Erinnerung schlich, ein Dialog, gewechselt an einem anderen Frontabschnitt.
Oscar legte den Kamm beiseite und bleckte die Zähne, während er einen prüfenden Blick in den Spiegel warf. Komme mir vor, murmelte er düster, wie Pippin der Ältere. Er verließ das Bad. Gleichmut rann durch seine Adern. Ich könnte, dachte er, die Welt mit den Augen eines Zoologen betrachten, für eine gewisse Zeit. Er summte galaktisch lautlos vor sich hin, einen selbst verfassten Zweizeiler:
Bin kein kleiner Junge mehr.
Bin fast tausend Jahre schwer.
Er streckte seine Finger. Es war eine Weile her, dass er sein Geld mit Pianospiel verdient hatte. Er betrachtete seine Hände. Es waren schöne Hände. Das bestätigten ihm nicht allein die Frauen. Er lächelte. Ihm schien, sie hätten neuerdings Ringe, seine Finger... Jahresringe. An einem hatte kürzlich noch ein Ehering geglänzt. Er hatte ihn, bei der Überfahrt nach New York,