Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel

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Название Die Entleerung des Möglichen
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753181400



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lauten? Mann mittleren Alters, kein Einkommen, keine Aussichten. Not Wanted.

      Er kleidete sich an. Wie üblich schlüpfte er in einen seiner zwei Anzüge. Heute war es der hellgraue, dazu passend die rauchgrauen Lederschuhe, aus Echsenleder, eine Kostbarkeit aus der Schweiz, handgefertigt. Zuvor bürstete er ausgiebig, ebenfalls aus Gewohnheit, beides, Anzug wie Schuhe. In diesem Punkt herrschte bei ihm strenge Sorgfalt.

      Fügung ist die Gouvernante des Zufalls oder umgekehrt. Was war es in seinem Fall? Er hatte seit neuestem die Möglichkeit, sein still gelegtes Talent zu reanimieren. Er hatte einen Kontakt knüpfen können, beiläufig, in einer Brasserie ganz in der Nähe, mit einem Ungar namens Attila Ferenczy, der unterhalb von Montmartre eine Art Tanz-Lokal führte. Der Ungar suchte dringend einen Musiker, einen Bandoneon Spieler.

      “Sie können das? Dann sind Sie vielleicht der richtige Mann für mich.”

      Jawohl, dachte Oscar, ich werde das schon können. Kann ja immerhin Noten lesen und vom Blatt spielen.

      Ehe er die Wohnung verließ, streifte er sich seine weißgrauen, transparenten Plastikhandschuhe über. Er ging niemals ohne diese Handschuhe aus dem Haus, genauer, er ging nie ohne diese Handschuhe einkaufen. Er vermied es, unverpackte Waren oder Wechselgeld mit bloßen Händen zu berühren. Und er war bestrebt, keine, schon gar nicht eine fremde Person, mittels Handschlag zu begrüßen, etwas, wozu er sich hier, unter Franzosen, allerdings selten genötigt sah.

      “Du bist mir etwas zu alt.”

      “Da geht es dir wie mir.”

      Sie lächelte bei dieser Erwiderung, doch hätte es, wenn es nach ihm gegangen wäre, vollmundiger ausfallen können, ihr Lächeln und verbindlicher. hern wir uns, dachte er, dieser Fragestellung doch einmal von hinten. Würde sie ihn mehr schätzen, wenn sie ihn als Musiker erlebte? Sie war die Tochter von Ferenczy. Sie war zwanzig. Sie war, und das, so urteilte Oscar, konnte man vorbehaltlos sagen, eine Perle negroider Schönheit, viel Auge, viel Mund, eine dunkle Brombeere. Ihre Mutter kam aus dem Tschad. Ehe Saloua sich wegdrehte, schob sie, unbetont lässig, das Kaugummi in die andere Gaumenhälfte. Er sah ihr nach. Er hatte sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, jemanden wie ihn zu lieben. Es war keine Fangfrage gewesen, sondern ein ebenso diskret wie scherzhaft eingekleidetes Anliegen, dem Motiv nach sogar eine Art Fürbitte.

      Saloua verließ das Haus. Er verließ es nach ihr. Die Sonne stach mit Zahnstochern durch das dichte Gewölk. Er ging Richtung Chateau Rouge. Die Straße war kurz. Die Häuser äugten bleich. Hier wohnten die Ferenczys. Die Geschäfte in der Nachbarschaft wurden von Arabern und Ostjuden geführt. Man schloss in dieser Gegend keine Wetten ab auf die Zukunft.

      Aber was das Beste war: Man traf selten auf Aufzüge. Oscar mochte nämlich keine Aufzüge. Nach seinem Amerika-Aufenthalt, wo er diesen technischen Dämonen kaum auszuweichen vermocht hatte, nach Panik-Attacken und erhöhten Transaminase Werten, deren Ursachen allerdings auch anderswo zu suchen gewesen wären, fühlte er sich jetzt froh und erleichtert, an einem Ort zu weilen, der ihm die Freiheit ließ, Transportmittel dieser Art gezielt zu umgehen. Sein Ausflug nach New York war, im Wortsinn, einer Schnapslaune entsprungen. Als er ankam, wusste er nicht mehr, was er dort wollte. Er hatte es vorher schon nicht richtig gewusst. Und er blieb nicht lange.

      Oscar stieg nicht die Stufen zur Metro Station hinab. Er gedachte den Bus zu nehmen, denn er war nicht gern Untertage. Er hatte die Hände in den Taschen und seinen Vertrag. Es würde ihn nicht reich, jedoch seine Not erträglicher machen. Der alte Ferenczy, der nicht wirklich alt war, er war Oscar nur um ein paar Jährchen voraus, der aber mit seiner väterlichen Glatze, den Augensäcken, dem Kugelbauch älter wirkte, als er war, der alte Ferenczy also hatte ihn engagiert. Oscar von der Höh hatte Arbeit. Er fühlte sich nun sicherer und geradezu als Neubürger dieser Stadt.

      “Ich hasse diese Stadt, doch kann ich nicht von ihr lassen. Überall morsche Steine, und ich bin einer davon.”

      So sah Ferenczy die Sache. Aber er hatte Frau und Kind und das Rapzodie. Er lebte seit zwanzig Jahren in der Seine Metropole. Er war hier verwurzelt. Oscar hatte auch Frau und Kind, aber er hatte die Familie sitzen lassen. Und stromerte jetzt ziellos umher. Doch waren sie beide, Ferenczy und er, Nachtmenschen. Und Nachtmenschen, fand er, gehörten in eine Großstadt.

      Auf halbem Wege zur Bushaltestelle überlegte Oscar es sich anders. Er entschied, noch ein wenig spazieren zu gehen. Ihm war danach, frei zu improvisieren. Er hatte einen freien Tag. Es hatte für ihn bislang viele freie Tage gegeben. Doch nun, wo er bald wieder in Lohn und Brot stehen würde, kam ihnen eine andere Bedeutung zu.

      Als erstes suchte er, was er nicht gerne tat, eine Zelle auf, eine Telefonzelle. In seiner Mansarde gab es kein Telefon. Er musste folglich, wenn er telefonieren wollte, hinunter auf die Straße. Er hatte das bislang stets nach Einbruch der Dunkelheit getan. Nicht zuletzt, weil er am Tage meist im Bett lag. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Seine Lebensuhr tickte gewissermaßen intravasal. Denn es gab den einen oder anderen billigen Rotweinrausch, den es auszunüchtern galt. Er war dann, wie er selber es nannte, mit der Dunkelheit verabredet oder mit den vorbeiziehenden Regenwolken.

      Die Unterkunft war ihm von Ferenczy vermittelt worden. Das Haus, meinte dieser, gehöre einem Mann, mit dem er befreundet sei, Ungar wie er. Oscar hatte den Hausbesitzer nicht kennen gelernt, nur mit ihm telefoniert. Auch das entscheidende Gespräch mit Ferenczy über sein Engagement im Rapzodie fand am Telefon statt. Erstaunlich, dass über einen mageren Draht soviel beleibte Worte fließen konnten. Da hätte es natürlich noch manches Beispiel gegeben, auch im negativen Sinne. Wenn er etwa zurückdachte an sein verunglücktes Eheglück...

      Oscar kreuzte den Boulevard Barbès. Er ging weiter, Straße um Straße. Er war verwundert, wie gut er zu Fuß war und darüber, wie wenig er bisher von der Stadt gesehen hatte. Die Sonne funkelte kühl. Es gefiel ihm. Er dachte an das viele Tageslicht, das er lange nur durch Vorhänge oder Jalousien an sich herangelassen hatte. Zuweilen hätte er die Sonne am liebsten gekauft, um sie in einen Tresor zu sperren. Egal, der Himmel war nicht bestechlich. Und er nicht liquide.

      Gelegentlich perlte zwischen den Häusermasken die weiße Zuckerwatte Sacre Coeurs hervor, und er warf flüchtig einen oder anderthalb Blicke hinauf zu Montmartre. Heute schienen ungewöhnlich viele Menschen diese Stätte zu bevölkern. Er erkletterte den Hügel nicht, weil er nicht von dem Gewimmel dort oben zerpulvert werden wollte, aber immerhin gefiel ihm erstmalig, seit er in der Stadt war, dessen Anblick.

      Doch irgendwann war es damit genug. Oscar winkte heran, was er sich im Grunde nicht leisten konnte, ein Taxi. Früher war er viel mit dem Taxi gefahren, in anderen Städten. Er hatte, neben dem Vertrag, einen kleinen Vorschuss in der Tasche. Der wurde nun, sei es drum, angebrochen. Der Taxifahrer war Algerier.

      Der Mann wirkte eigentümlich erregt. Bei Fahrtbeginn redete er unaufgefordert und unablässig, in einem Kauderwelsch aus Arabisch und Französisch, das kaum zu entziffern war, von dem Oscar eben soviel mitbekam, als dass der Fahrer offenbar entschieden darauf aus war, La Grande Nation seinen ganz privaten Krieg erklären zu wollen. Ebenso ansatzlos, wie sie begonnen hatte, endete die Brandrede. Von nun an beäugte der Algerier seinen Fahrgast wortlos im Rückspiegel, mit Blicken, die diesem das Gefühl gaben, er sitze im Feuerhof einer scharfgemachten Handgranate, so dass er, da es ihm irgendwann zu ungemütlich wurde, sich vorzeitig absetzen ließ.

      Nachdem er ausgestiegen und ein paar Schritte gelaufen war, spürte Oscar etwas Feuchtes am Kinn. Er blieb stehen, fasste sich ins Gesicht. Es war Blut. Er hatte, wie er feststellen musste, Nasenbluten. Er brachte seinen Kopf in erhöhte Schräglage und suchte nach einem Taschentuch. Was ihn am meisten entsetzte, war die Vorstellung, dass ihm das Blut den Anzug verschmieren könnte. Er würde ihn in die Reinigung geben müssen.

      *

      Pepe war ein Streichholz.

      Man mochte kaum glauben, dass der Argentinier imstande war, ein Bandoneon länger als zehn Minuten zu