Название | Die Entleerung des Möglichen |
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Автор произведения | Reinhold Zobel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753181400 |
Doch all das änderte sich, sobald diese Stätte sich mit menschlichem Material auffüllte. Dann erwachte sie plötzlich zu sprudelndem Leben, wurde mit einem Male wohnlich. Die meisten Gäste, die hier einkehrten, taten es aus Gewohnheit. Man begrüßte einander laut über die Tische hinweg. Tabakrauch füllte den Raum. Gläser klirrten, die Rauschfiguren von Wein und Pastis verschwammen tintig zwischen Gurkentunke und tarte aux pommes. Ein Tosen aus vielen Stimmen lag in der Luft. Inmitten dieses Tohuwabohus hatte Oscar seinen festen Platz. Es war ein Platz etwas abseits, ein Wandplatz, aber nicht strikt außerhalb des quasifamiliären Getriebes. Man kannte ihn, jedoch ließ man ihn in Ruhe, denn in der Regel wollte er das so.
Er trank langsam. Er achtete des Treibens um sich herum kaum. Und doch mochte er es. Auf dem Höhepunkt glich das Lokal einem brütenden Ei, das seinen Inhalt mit einer Schale aus Fürsorge und Wärme umfing, ehe die Energien der Gäste diese Schale irgendwann zum Platzen brachten; herein fiel königliches Zwielicht. Oscar blieb, wenn er kam, lange. Es war immer mal wieder der passende Schauplatz für die Unwucht seiner Gedanken, für die Untiefen seines Gemüts.
Heute aber hatte es ihm nichts geben können. Die Wolken hingen zu schief. Der Tag war unfrisiert, ihm fehlte ein Drei-Wetter-Taft. Die Post hatte Verspätung. Seine Kopfhaut juckte. Die Flugzeuge verflogen sich. Die Zeit hatte eine Narrenkappe auf. So hätte es sein können, wenn es nicht sogar so war. Er war zu wenig bei sich. Sein Selbst schien wieder einmal aushäusig.
Dabei war er doch schon auf dem Weg gewesen, sich nicht länger in endloser Wiederholung durch ein Gestrüpp selbst geschaffener, widriger Umstände zu quälen, hatte Bruder Martin erfolgreich in den Schwitzkasten und eine Etappen-Marke genommen, wo Menschen seiner Umgebung anfingen, ihm Wertschätzung und Respekt zu zollen, war im Begriff gewesen, Saloua eine starke Schulter zu sein, an der sie in finsteren Stunden, von denen es letzthin einige gab, Anlehnung und Trost finden konnte, ja, sah er sich doch stundenweise so gut aufgelegt, ins Blaue auszurufen: Das Schicksal, es lag mir ja zu Füßen, ich sah es nur lange nicht, weil ich nie nach unten schaute. Veruntreuen Sie diese Einsicht nicht. Es ist meine. Gezeichnet: der Eigentümer...
Doch nein, alles war jäh unterbrochen worden, durch etwas, wofür er allerdings nichts konnte, durch den Gang der Ereignisse. Ein andere Platte trällerte plötzlich ihr Lied. Es hätte lauten können: Vom Absturz des Tages in die Nacht. Und es war von der B-Seite.
“Wir werden Suppe aus deinem Hirn kochen!.”
Das roch nach Ungemach. Sie waren zu viert. Der Sprecher war auch der Anführer. Er war kleiner und fülliger als die anderen und trug als einziger keinen Hut. Sein Kopf war so breit wie hoch und sein Gesicht eine krankhafte Rötung. Jede Kamerablende hätte sich vermutlich, ausgenommen, sie war es schon, bestürzt geschlossen. Oscar sah sich um. Er stand mit dem Rücken zum Unheil. Es gab keinen Fluchtweg. Die Männer rollten auf ihn zu. Der Schweiß brach ihm aus. Kurz bevor er so weit war, sich aufzugeben, gebar ihm die Verzweiflung eine Idee. Er hob, als wäre er unerwartet zum Fluglotsen befördert worden, beide Hände.
“Halt!"
Sie hielten tatsächlich. Sie blieben tatsächlich stehen. Es sah aber nicht so aus, als ob das ein Zustand war, der von Dauer sein würde.
"Ihr seid in der Überzahl. Das ist nicht fair. Mit einem, ehm, nehme ich es auf, im Zweikampf, Mann gegen Mann.."
"Wer von uns vieren darf es denn sein, Tastenzwerg?”
Die Rötung lächelte sanft. Und wirkte deshalb nicht lieblicher. Der Mann stemmte die Hände in die Hüften, stellte ein Bein leicht vor. Wir werden so alt, dachte Oscar, wie das Schicksal es will. Er war inzwischen tropfnass. Er versuchte sein Sprechorgan auf ein tapferes C-Dur zu stimmen.
"Ich dachte an Sie, Monsieur."
" An mich?! Und was schl ä gst du vor, sollen wir tun? Ringen? Fingerhakeln?”
"Die Wahl der Waffen ü berlasse ich Ihnen.”
Die vier Männer standen nach wie vor an ihrem Platz. Ihre Mienen blieben unbewegt. Dennoch schien sich so etwas wie Verblüffung durch ihre Gehirnzellen zu wälzen. Sie tauschten Blicke. Sie musterten ihr zartes, widerspenstiges Gegenüber. Sie dachten vielleicht: hier kämpft eine Gräte gegen Haifische.
Was sie auch dachten, für Oscar war die Lage im Grunde ausweglos. Und dennoch brachte er das Verhängnis vorübergehend zum Stehen. Die Verzögerung währte immerhin lange genug, um der Vorsehung Gelegenheit zu geben, eine kleine Spielvariante in die ungleiche Partie einzubauen. Sie ließ eine weitere Person auf den Plan treten. Sie stand im Schatten einer Toreinfahrt. Es war Pepe. Ihm genügte ein Blick, um die Situation abzuschätzen und drei Worte, um sie zu drehen.
" Niemand rührt sich!”
Pepe stand im Rücken der Männer. Seine Stimme klang ruhig, nicht sehr laut, aber sie hatte die Wucht und Schärfe eines Wurfmessers, niemand konnte sie ignorieren. Der Argentinier trat einen halben Schritt aus dem Schatten heraus und gab Oscar, in dessen Sichtfeld er nun geriet, mit einer Kopfbewegung ein Zeichen. Oscars Beine traten ganz von selbst, mechanisch und steif, den Rückzug an. Die Gefahrenzone rückte von ihm fort. Ein Taxi bog um die Ecke der Rue du Retrait. Er rief es herbei. Alles geschah, als läge er oder die Welt im Koma.
Weiße Schatten. Schwarze Stadt. Die Umgebung erschien in Umkehrfarben. Die Straßen, durch die das Taxi fuhr, wirkten wie ausgeräumt. Es war nicht spät, früher Abend. Dort, wo ihn die Häscher überrascht und umstellt hatten, war es, was man zu Teilen der Örtlichkeit zuschreiben musste, menschenleer gewesen. Ein weiterer Grund hierfür war (er erfuhr es am Folgetag) eine Fußball-Übertragung im TV. Die Grande Nation gewann. Mit zwei Toren Abstand. Der Jubel war riesig. Man hätte in seinem Lärmhof nicht einmal einen Schuss hören können, noch weniger einen Schrei. Pepe kam ebenfalls heil aus der Sache heraus. Er erzählte Oscar später davon.
“Ich war schneller als sie... im Laufen.”
Und Oscar erzählte Saloua davon. Er gab Pepe die tragende Rolle, als Retter in dunkler Not. Und Saloua erzählte ihrem Vater davon. Der wusste, was Oscar schon vermutet hatte: Der Urheber des Zwischenfalls war der Rotfuchs. Warum aber hatte man ihn, den Pianospieler ins Visier genommen? Es war weniger ein Drehbuch-Einfall. Es war, mutmaßte Oscar, wie so vieles im Leben, eine blind geborene Fügung.
Es gab gute Gründe, sich zu fürchten. Da war die Sache mit Bobov. Oscar hatte davon erfahren, wie alle davon erfahren hatten, intern. Ihm wäre es lieber gewesen, nicht Mitwisser zu werden. Denn Wissen konnte bisweilen krank machen oder feige.
Es finden sich, dachte Oscar in diesem Zusammenhang, die unterschiedlichsten Ungeheuer in der menschlichen Gattung. Und alle überhöhen das Böse, das jeder in sich trägt, verleihen ihm Gestalt und Namen. Der Bretone war, wenn auch im kleinen Maßstab, eines davon. Der Vorfall lag dreizehn Tage zurück. Er hatte die ganze Familie Bobov auslöschen lassen. Es hieß, ihre Mitglieder wären, als die Mörder das Haus stürmten, umher geflattert wie schlachtreifes Federvieh. Es hieß ferner, im Falle der beiden ältesten Söhne hätte der Bretone es sich nicht nehmen lassen, diese eigenhändig zu erwürgen.
Bobov war ein Vertrauter Mohuns gewesen. Oscar kannte ihn vom Sehen, er kannte die Familie, die Frau, die Kinder, flüchtig, doch genügte es - von dem geschilderten Grauen betroffen - im Innersten zu erschauern.
“Komm Oscar, ich will dir etwas zeigen!”
Sie waren etwa zwei Kilometer mit dem Wagen gefahren, hatten dann angehalten, bei laufendem Motor, ohne auszusteigen.