Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel

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Название Die Entleerung des Möglichen
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753181400



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Schulter. Es war wie eine Geste stillen Einverständnisses oder auch stiller Anerkennung.

      Zurück ins Jetzt. Oscar stieg einige Treppenstufen abwärts. Seine Stimmungslage war mittlerweile gedämpfter, sein Atem ging sanfter. Das Gespräch von damals erschien ihm nun wie der Prolog zu dem, was sich in den vergangenen Stunden im Gouffre Bleu ereignet hatte. Er schickte sich an, den Hügel zu verlassen. Er hatte noch keine Idee, wohin seine nächsten Schritte ihn lenken würden. Sie waren richtungslos. Der Himmel hatte sich unterdessen bewölkt. Und manch ein stürmisches Herz wohl auch.

      Kapitel 6

      Sie haben einen Anruf erhalten.

      Das Gespräch trommelt in seinen Ohren nach. Es war Timo. Er will auf Stippvisite vorbeikommen. Er ist in Paris und da fiel ihm ein, er könne ja einen Abstecher machen und Oskar und Constanze in ihrer Ferienburg aufsuchen. Oskar ist überrascht: Und er ist verstimmt. Er will keinen Besuch. Sie sind hier immer allein, zu zweit. Er liebt diese Abgeschiedenheit, dieses Getrenntsein von allem, was mit der Welt da draußen zu tun hat. Constanze dagegen freut sich. Sie äußert die Absicht, einen Kuchen backen zu wollen. Timo isst gern Apfelgebäck.

      “Muss das wirklich sein?

      “Bitte, Oskar. Sei wenigstens hin und wieder ein kleines bisschen Philanthrop.”

      “Ich bin, wie du weißt, ein miserabler Gastgeber.

      Er soll sich in das Auto setzen und noch einmal in den Ort fahren, um einige “unentbehrliche” Dinge zu besorgen, Dinge, die im Haushalt fehlen. Ja, ja, ja, schon gut, er wird es tun, wenn auch widerstrebend. Wie oft, grummelt er, lässt man sich nicht zu Handlungen verleiten, die im Grunde überflüssig sind? Viel zu oft, und das womöglich lebenslänglich.

      Das Wetter wird sich ändern. Als Timo bei ihnen eintrifft, hat es sich geändert. Keine Gluthitze mehr, Regen. Und beides geschieht bei Einbruch der Dunkelheit. Timo hat dennoch das Haus, wie er sagt, auf Anhieb gefunden. Constanze findet das ziemlich toll. Wie leicht, denkt Oskar, Frauen doch mitunter zu beeindrucken sind.

      “Kommt in meine Arme, ihr beiden Goldstücke!

      Der Empfang fällt auf allen Seiten herzlich auf, obwohl der Freund ein wenig so tut, als käme er zu Schiffbrüchigen. Findet Oskar. Doch selbst er ist jetzt unvermutet in der Stimmung, den Gast ohne Vorbehalte willkommen zu heißen. Timo hat einen großen Strauß Blumen (weiße Chrysanthemen) für die Hausdame mit dabei und einen Gedichtband für den Hausherrn. Wie er auf letzteres verfallen konnte, ist Oskar ein mittleres Rätsel. Timo, den er später dazu befragt, selbst aber offenbar auch.

      100 Jahre nach meinem Tod

      starb ich noch einmal.

      Die Luft war voller Getöse.

      Die Luft war voller Gebete.

      Darunter Stimmen, darunter Gelächter,

      Beimengungen, aber nicht mehr.

      Erinnerungen fielen aus allen Wolken.

      Und hatten, da ohne Fallschirm, einen harten Aufschlag.

      Wären sie doch geblieben, wo sie waren.

      Oskar hat aufs Geratewohl eine Seite in dem Büchlein aufgeschlagen. Er liest und zeigt es mit einer Geste des Befremdens dem Freund. Der runzelt die Stirn. Er trägt neuerdings eine Lesebrille. Er sieht damit merkwürdig altmodisch aus. Sie sitzen im Wohnraum. Constanze ist in der Küche, macht Häppchen für später, nach dem Kaffee.

      “Wie bist du nur auf diese Lektüre gestoßen, Timo?

      “Sie ist mir empfohlen worden. Ein verschollener Poet, den man kürzlich wieder entdeckt hat. Mehr weiß ich auch nicht. Es sollte eigentlich ein nachgeschobenes Geburtstagsgeschenk sein.

      “Oh. heißen Dank.”

      “Wie alt bist du noch gleich geworden, Oss... zweiundfünfzig?

      “nfzig.

      “Richtig Soll ich dir etwas sagen? Ich werde gerne älter. Ja, ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich sechzig werde.

      “Werde erst einmal so alt wie ich.

      Unerwartet ist Timo etwas rot geworden. Er lacht hastig. Es ist ein kräftiges, ein warmes Lachen. Es ist sein Markenzeichen, eines von vielen. Es ist mehrheitlich ansteckend. Oskar tritt ans Fenster, späht ins Dunkel hinaus, das Geräusch des Regens, der gegen die Scheibe klatscht, prickelnd im Ohr. Er würde immerhin, sollte er bis morgen anhalten, auch etwas Gutes haben, der Regen, er wird den Nachbarn davon abhalten, den Rasen zu mähen.

      Oskar ist entspannt. Er dreht sich um und mustert, von diesem unbemerkt, den Hinterkopf seines Freundes. Um Timo herum liegt eine Dünung von besonderer Beschaffenheit, eine Dünung, die sich auf den Raum, auf andere Seelen, so jetzt auch auf Oskar überträgt. Es ist eine Art subversiver Chemie, und sie schafft gelöstes, heiteres Wohlbefinden, nicht immer, aber oft. Er hatte fast schon vergessen, dass es so ist. Oskar fühlt sich sonderbar verjüngt.

      Liegt es daran, dass dem Gemüt des Freundes ein moosgrün kindhafter Zug zugrunde liegt, etwas das Oskar zu manchen Gelegenheiten, wenn er nicht so gut auf Timo zu sprechen ist, gerne als Unreife geißelt? Constanze empfindet ähnlich, kommt allerdings zu anderen Schlussfolgerungen. Für sie ist Timo ein Troubadour. Oskar macht einige Schritte, greift nach der Packung mit den Gauloises, die sich auf dem Glastisch findet, lässt sie in seiner Hosentasche verschwinden. Er möchte nicht, dass Constanze nachher mit dem Rauchen anfängt. Es ist, das weiß er, die einzige Packung im Haus.

      “Und wie geht es so mit euch?

      “Es geht.

      “Das klingt nicht wirklich gut, Oss.

      “Doch, soweit ist alles ganz okay.”

      Oskar verzieht keine Miene. Timo ist in Freizeitkleidung. Er trägt kurze, khakifarbene Hosen, in deren Taschen er gerade seine Hände versenkt hat, weiter hellbraune Slipper aus Kalbsleder und ein khakifarbenes, offenes Baumwollhemd, das viel behaarte Brust sehen lässt. Er sieht ein bisschen aus wie ein Legionär, ein Wüstenfuchs.

      “Was hat dich übrigens nach Paris verschlagen?

      “Tja, Oss... das möchtest du wissen. Ich habe da eine… kleine Gespielin.

      “Eine neue Liebschaft also?

      “So ist es. Sie heißt Chantal.

      “Klingt wie aus einer Fernseh-Soap. Und wie ist sie?

      “Gebraucht, aber aus erster Hand. Und sie himmelt mich an, weißt du.”

      “Verstehe.

      “Und bildhübsch ist sie und blitzgescheit. Sie würde dir gefallen.

      “Warum hast du sie dann nicht mitgebracht?

      “Sie muss arbeiten.

      Constanze tritt auf. Sie wirkt jetzt um zehn Jahre jünger. Sie ist kaum geschminkt, die Sonnenbräune schmückt sie und ein ärmelloses, luftiges, blau-weiß gestreiftes Kleid, das ganz verliebt ihren schlanken Leib umhüllt. Sie hat etwas Lippenrot aufgelegt. Blau ist ihre Herzensfarbe. Sie winkt Oskar Richtung Küche, damit er ihr beim Hereintragen hilft.

       "Du siehst wirklich zum Anbeißen aus, Conny."

      “Danke,Timo. Vorher magst du vielleicht noch in meinen Apfelkuchen beißen.