Название | Die Entleerung des Möglichen |
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Автор произведения | Reinhold Zobel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753181400 |
Doch wusste Oscar nicht, wo er den Mann finden sollte. Jedenfalls nicht mehr unter seiner alten Adresse, einem kleinen, unscheinbaren Hotel in der Nähe des Canal St. Martin. Oscar verzog die Oberlippe. Alles, was ihm an Erinnerungsstücken aus seiner Zeit im Rapzodie geblieben war, war eine zerkratzte Polydor Scheibe: todos bailan Calypso. Zwei Mädchen in knappen Röcken, barfüßig und im Tanzschritt zierten das Cover. Oscar erhob sich. Ihm war schlecht. Er verließ seine Mansarde und suchte die Toilette auf, die am Ende des Korridors lag. Dort hockte er sich nieder und legte ein doppeltes Lottchen.
Kapitel 5
Die Witterung ist semiarid. Der Sturm hat sich gelegt. Er hat Bäume, vielleicht Schicksale entwurzelt, jedenfalls menschliches Hab und Gut zertrümmert, so manchem Bootsbesitzer, Fischer wie Nichtfischer, kapitalen Schaden zugefügt. Einen Sturm wie diesen, sagen die Leute im Ort, habe es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.
Oskar und Constanze waren im Haus, als das Unwetter zuschlug. Es kam spätabends und blieb über Nacht. Sie dachten streckenweise, das Dach flöge weg. Doch sie bewohnen hier stabiles Mauerwerk. Nicht einmal eine Fensterscheibe ging im Hagelschauer zu Bruch. Constanze war voller Furcht, als Blitz und Donner die Naturbühne stürmten. Und dann der schaurig brüllende Wind! Oskar saß über Stunden bei ihr, beruhigte sie, beschützte sie. Er habe sie, sagte sie irgendwann halblaut, schon ganz lange nicht mehr so beschützt.
Oskar erinnert sich dieser Worte, als er aus dem Auto steigt. Er ist ans Wasser gefahren, um sich ein Bild davon zu machen, welche Spuren der Verwüstung die Orkangewalten hinterlassen haben. Strandgut liegt herum, vom Unwetter aufs Land gespült. Der Küstenstrich gleicht über weite Strecken einer Müllhalde. Er hat sein Diktiergerät dabei. Er holt es heraus. Er spricht hinein. Es besteht keinerlei Zusammenhang zu dem, was er gerade vor Augen hat. Es sind Notizen, digitaler Code für daheim, Kürzel, Kennzahlen, Innerbetriebliches.
Dennoch, etwas, so findet Oskar, schafft Ähnlichkeiten, etwas, das große Brocken nicht nur seiner Gegenwart umklammert hält. Eine Springflut wirr verkabelter Informationen, hinter denen, je nach Aktenlage, die einzelnen Informationsträger zu verschwinden drohen, ein vorgefertigtes Babylon angeschwemmter Sprach-Einzeller. Sie pflanzen sich nicht selber fort, denkt Oskar, während er in das Diktiergerät spricht, und sie vermehren sich doch.
Ein Streifen Licht brennt sich durch bleifarbene Wolkentücher. Er hat noch etwas dabei, Auszüge aus den Aufzeichnungen seines Vaters. Ja, er hat sie wieder einmal herausgekramt, vorgestern. Es sind nur vereinzelte Blätter. Auch dazu wollte er - zu anderen Zwecken - etwas elektronisch kommentieren, speichern, hier, seeseitig.
Der Wind, der über das Wasser kommt, ist nurmehr ein Windzug. Man merkt ihm nicht an, welch andere Gestalt er anzunehmen imstande ist. Oskar steckt das Diktiergerät ein. Er hat bisher kaum etwas notiert. Er verschiebt es auf später. Seine Stimme erscheint ihm, wenn er sie abhört, fremd, klein, tonlos. Er mochte sie nie. Jetzt klingt sie, als er das Band abhört, als gehöre sie einem Alien.
Über lange Strecken hat er so etwas wie Ablehnung, ja, Verachtung für seinen Vater empfunden, für dessen Schwächen, dessen Trunksucht. Seit dem vergangenen Jahr sieht er ihn in einem veränderten Licht, erkennt er hinter den Schwächen Inseln der Hilflosigkeit. Hilflosigkeit gegenüber wem oder was? Gegenüber der vergeblichen Anstrengung, das Schicksal verantwortlich in die eigenen Hände zu nehmen? So sieht es seine Mutter. Wenn das sicher nicht falsch ist, so ist es jedenfalls, wie er inzwischen ahnt, nicht die tiefere Wahrheit.
Oskar streicht eine unsichtbare Falte am Revers seiner lindgrünen Wetterjacke glatt. Sein Vater als Mittelpunkt einer Räuberpistole... nein, nicht als Mittelpunkt, er war lediglich eine Randfigur. Vielleicht wäre er gern mehr gewesen, wenn auch nicht gerade in jener Kulisse, in jenem Comic-Drama. Es hat, von außen und in der Zwischensumme betrachtet, so empfindet es der Sohn, etwas in Teilen unfreiwillig Komisches, schonender ausgedrückt: etwas Tragik-Komisches. Mag sein, dass der Vater damals ebenso empfand. Andrerseits: Oskar junior wäre ganz gern mit von der Partie gewesen.
Er fühlt etwas Jungenhaftes, als er das denkt. Er schaut einigen Möven zu, die vor ihm aufsteigen. Er atmet die salzige, schwere Luft ein. Ein Krebstier läuft vor ihm, in Prielnähe, durch den nassen Sand. Es läuft seitwärts, monoton getaktet. Oskar bleibt stehen. Er denkt an seine Arbeit, an sein künftiges Leben. Er wird noch eine Weile seinen Beruf ausüben, vielleicht 10, vielleicht 15 Jahre. Ein Gedanke senkt sich wie Flugrost auf sein Seelenhabit: Und was dann? Oskar kratzt sich am Kinn. Die Frage ist rekursiv.
Er zieht sein Mobile aus der Innentasche seiner Jacke, schaltet es ein. Es gibt noch einen Grund, warum er an diesen Ort gekommen ist, hierher, wo er allein ist,- einen konspirativen Grund: Er wählt eine Nummer. Er hat sie nicht abgespeichert. Er hat sie im Kopf. Es ist die Nummer einer Frau. Die Frau heißt Aranke. Er hat ein Verhältnis mit ihr. Constanze weiß nichts davon. Er hat das Mädchen auf einer Messe kennen gelernt, im letzten Herbst. Es ist 25 Jahre jünger als er. Es arbeitete dort als Hostess. Eine klassische Begegnung. Ein klassischer Fall. Constanze fände, wäre sie nicht selbst betroffen, die Topografie dieses Seitensprungs wahrscheinlich zum Gähnen kleinkariert und gleichermaßen unspannend.
Oskar stößt eine leere Bierdose vor sich her, während er die Knöpfe seiner Wetterjacke öffnet. Ihm ist warm. Natürlich denkt er gelegentlich fremd, hat Fantasien über Frauen, die ihm begegnen und die er begehrenswert findet. Doch ist es die vergangenen Jahre bei virtueller Untreue geblieben. Bis Aranke kam.
Ihr Haar ist kupferrot. Er hat nichts gegen Rothaarige, wenn sein “Typ” auch eigentlich blond ist. Sie ist klein. Sie ist flink. Und jedes Mal, wenn er sie trifft, sieht sie aus, wie einem Dampfbad entstiegen, glatt, gut durchblutet. Ihre Glieder sind biegsam, ließen ihn, als er sie erstmals berührte, an indische Skulpturen denken, ihre Stimme ist tief, rau, was man, betrachtet man die eher zierliche Gestalt, nicht unbedingt erwarten würde. Und sie hat ein unstetes, aber sehr rhythmisches Naturell.
Er klappt das Display des Mobile zu. Niemand meldet sich. Er will schon eine Nachricht auf Band sprechen, lässt es dann aber. Der Himmel klart auf. Es herrscht ablaufendes Wasser. Er geht ein paar Schritte über eine mittlerweile frei liegende Sandbank, dahinter dehnt sich eine Fläche aus Schlick, der stellenweise schlammig ist, stellenweise fest. Blasen steigen auf. Oskar überlegt, ob er Schuhe und Strümpfe ausziehen soll, um eine Weile barfuß zu gehen.
Eigentlich ist ihm nicht recht klar, warum Aranke sich mit ihm eingelassen hat. Er selber hätte, wäre er sie, vermutlich anders gewählt, beispielsweise den Freund und Weggefährten Timo Wüstenfeld, der mit ihm auf der Messe war, ja, der ihn auf das Mädchen aufmerksam machte, gewissermaßen in kupplerischer Absicht.
“Du brauchst mal etwas Öl ins Getriebe, Oskar, du rostet sonst ein!”
Freund Timo ist dreieinhalb Jahre jünger als er, ledig, kinderlos, Industrie-Fotograf, Frohnatur. Er hat ursprünglich Chemie studiert. Er sieht gut aus. Sie spielen zusammen Badminton, gelegentlich. Constanze mag Timo sehr. Alle Frauen mögen ihn, vielleicht schon allein wegen seiner Augen. Sie strahlen arglos, versprechen zugleich aber prickelnde Abenteuer.
Oskar geht, die Schuhe in der Hand, die Strümpfe in die Schuhe gestopft, mit nackten Füßen über das Watt. Eine angenehme Kühle streichelt seine Sohlen. Um einen Mann, denkt er, darf ruhig etwas Geheimnisvolles sein. Frauen schätzen das. Obwohl er persönlich den umgekehrten Fall anregender findet.
Dabei ist Timo, soweit er das beurteilen kann, ein Mensch ohne Abgründe, doch scheint es so, bei aller Heiterkeit des Gemüts, als verberge sich hinter seiner Brust ein ungezähmtes Tier, gefangen in einer Truhe, deren Außenhaut von Rissen durchzogen ist. Diese Truhe muss seine Seele, und es muss ihr Widerschein sein, der sich so verwunschen wie schicksalsschwer