Spannung und Textverstehen. Philip Hausenblas

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Название Spannung und Textverstehen
Автор произведения Philip Hausenblas
Жанр Документальная литература
Серия Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300632



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Repräsentation umfangreicherer Texte anbietet, deren Konstruktion auf einer wiederholten Anwendung der in Kapitel 4 vorgestellten Prozesse basiert.

      3 Wissen

      Im Folgenden wird eine Reihe von kognitiven Ansätzen integrativ vorgestellt. Dabei wird das kognitive System zunächst isoliert betrachtet. Dieser Schritt ergibt sich aus dem Cognitive Commitment, das besagt, dass es sich bei den Verarbeitungsprozessen nicht um sprachspezifische Mechanismen handelt sondern um allgemeine mentale Operationen.1

      3.1 Wissensrahmen

      Kognitionsbezogene Theorien zum Wissen wurden in verschiedenen, zum Teil relativ autonomen Wissenschaftsdisziplinen entwickelt und in Abhängigkeit von der jeweiligen Forschungsunternehmung und den damit verbundenen Erkenntnisinteressen unterschiedlich akzentuiert – letztendlich mit konvergierender Evidenz, was sich niederschlägt in einer zunehmenden wechselseitigen Rezeption und in einer verstärkten gegenseitigen Beeinflussung. Marvin Lee Minsky – Frame-Pionier, Mathematiker und Informatiker – stellt eine allgemeine Theorie auf und verweist auf eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene, die sein Ansatz explanatorisch bewältigen kann und die hauptsächlich auf der Ebene der visuellen und sprachlichen Verarbeitung liegen. Der Linguist Fillmore bezieht sich überwiegend auf die Wort- und Satzebene, erkennt allerdings ein globales Anwendungspotential. Forscher wie der US-Psychologe Rumelhart richten ihre wissenschaftlichen Aktivitäten auf umfangreichere Texte wie zum Beispiel Geschichten. So erwachsen aus einer kognitionszentrierten Perspektive Erklärungsmöglichkeiten für eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene. Sie erweist sich als global anwendbar und besticht durch ihre unifizierende Kraft.

      Trotz terminologischer und theoretischer Unterschiede zwischen den Ansätzen weisen die Theorien starke strukturelle und funktionale Parallelen auf, worauf bereits Rumelhart in seinem Artikel „Schemata: The Building Blocks of Cognition“ hinweist.2 Das ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, warum Fillmore Begriffe wie Schema, Frame etc. in einem seiner zentralen und mehrfach veröffentlichten Aufsätze „Frame Semantics“ gleichsetzt.3

      Terminologische Inhomogenitäten. In der Literatur zur Untersuchung von Wissen finden sich eine Reihe konkurrierender Begriffe, die erhebliche Schnittmengen aufweisen und deshalb kaum auseinanderzuhalten sind. Die Begriffe variieren nicht nur von Autor zu Autor, sondern zum Teil auch innerhalb des Œuvres eines Autors. So bezeichnen Sanford und Garrod das Wissen als scenarios ,4 Minsky spricht von frames.5 Bei Fillmore werden verschiedene Theorieversionen begleitet von verschiedenen terminologischen Präferenzen. In seinen theoretischen Vorarbeiten spricht Fillmore (1971) von Kasusrahmen,6 Fillmore (1975) von scene,7 Fillmore (1977a) von scenes,8 Fillmore (1977b) von schemata, 9 Fillmore (2006) wieder von frames.10 So soll ohne die folgenden Begriffe bereits andeutungsweise beschrieben zu haben, zunächst darauf hingewiesen werden, dass konkurrierende technische Ausdrücke alle Ebenen der Beschreibung durchdringen. Der Dichotomie von Slot und Filler stehen Alternativen gegenüber wie attributes und values bei Barsalou, terminals und instances bzw. assignments bei Minsky, Rumelhart spricht von variables und values.11

      Als Kriterien für terminologische Entscheidungen dienen in dieser Arbeit die semantische Durchsichtigkeit und die Etabliertheit eines Begriffs. Die transparenteste und eingängigste Alternative zu Frame, Schema etc. bietet der Ausdruck Wissensrahmen, den Busse gebraucht. Er vermeidet die Ebenenmischung der grammatischen Oberflächenstruktur mit der Tiefendimension und beugt so terminologisch bedingten Missverständnissen vor, die möglicherweise mit Begriffen wie Kasusrahmen einhergehen.12 Slot und Filler werden in dieser Arbeit als Leerstellen und Füllwerte aufgenommen, wie es sich in der deutschsprachigen Diskussion etabliert hat (zum Beispiel bei Ziem (2008)). Hinsichtlich der übrigen Begriffe werden terminologische Entscheidungen an der jeweiligen Stelle getroffen, die den oben genannten Kriterien entsprechen.

      Wissensrahmen. Denkt man an einen Kindergeburtstag, so gelangt man zu einer Ansammlung epistemischer Elemente. Es gibt eine bestimmte Kleiderordnung, jeder Gast bringt ein Geschenk mit, es gibt ein Unterhaltungsprogramm mit einer Reihe von Aktivitäten, die zum Beispiel Topfschlagen mit einschließen. Ein Kindergeburtstag findet tagsüber statt und umfasst einen längeren zeitlichen Abschnitt. Deshalb kommen eher ein Samstag oder ein Sonntag für diese Art von Veranstaltung in Frage als ein Wochentag, dessen Struktur und Organisation durch den Schulalltag maßgeblich geprägt ist.13 Bei diesem abgerufenen Komplex handelt es sich um einen Wissensrahmen, der in prototypischer Weise Wissenselemente im Gedächtnis organisiert und der das Potential besitzt, eine Vielzahl möglicher Entitäten mental repräsentieren zu können.14

      Rahmen, Leerstellen und Prototypikalität: Wissensrahmen verfügen über Leerstellen.15 Diese sind standardmäßig mit ihnen verbunden und lassen sich durch Fragen paraphrasieren, die situationsabhängig mit Füllwerten besetzt werden können.16 Wissensrahmen vergleicht Minsky mit einem Skelett und mit einem Bewerbungsbogen. Beide geben eine grobe Struktur vor und müssen mit konkretem Material gefüllt werden. Ein Wissensrahmen ist a sort of skeleton, somewhat like an application form with many blanks or slots to be filled.17 Je höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine bestimmte Leerstelle gemeinsam auftritt mit einem Wissensrahmen, desto höher ist der Grad der Prototypikalität einer Leerstelle. Barsalou spricht auch von Attributsystematizität und verdeutlicht es an dem Konzept VOGEL. Der Rezipient würde demnach Leerstellen für die Größe, die Farbe und den Schnabel konstruieren.18 Ähnlich sollte es sich mit dem Rahmen zu WEIN verhalten, prototypische Leerstellen könnten den Jahrgang, die Herkunft, die geschmackliche Richtung etc. betreffen. Mögliche Füllwerte wären zum Beispiel 1982, BORDEAUX, TROCKEN.

      Rahmenlose Informationen und informationslose Rahmen: Rahmenlose Informationen streben danach, in einen Rahmen eingebettet zu werden. So werden sie zu anderen Wissenselementen in Bezug gesetzt und stellen keine atomaren Einheiten dar. Informationslose Rahmen (d.h. Rahmen mit Leerstellen) streben nach Sättigung.19 In seiner einfachsten Form wird der Drang zur Auffüllung leerer Endpunkte als eine Art Unwohlgefühl oder Hunger erscheinen.20 Leerstellen können auf zweierlei Weise durch Füllwerte gesättigt werden. Einerseits kann dies in einem Top-Down-Prozess geschehen durch typischerweise zum Wissensrahmen gehörende Elemente. Man spricht auch von Standardwerten (englisch default values, default assignments).21

      ’Default assumptions fill our frames to represent what’s typical‘. As soon as you hear a word like ’person‘, ’frog‘, or ’chair,‘ you assume the details of some ’typical‘ sort of person, frog, or chair. You do this not only with language, but with vision, too.22

      Zum Bereich der wissensbasierten Instantiierungen gehören auch Default-Annahmen mit antizipatorischem Charakter. (In Kapitel 4 werden diejenigen Inferenzen, Elaborationen und Erwartungen vorgestellt, die bei der Textrezeption systematisch auftreten.) Diese aus epistemischen Agglomerationen generierten Erwartungen richten sich zeitlich auf zwei Dimensionen. Einerseits auf zukünftige Ereignisse bzw. zukünftig wahrnehmbare Daten. Sieht oder liest jemand zum Beispiel, dass sich eine Person eine Fahrkarte kauft, so generiert er die Hypothese, dass die Person mit einem Zug fahren wird.23 Auf der anderen Seite richten sich Erwartungen auf Daten, die zwar zum Zeitpunkt der Hypothesenherstellung gegeben sind, die allerdings in diesem Augenblick nicht wahrgenommen werden bzw. nicht wahrnehmbar sind. Sieht eine Person zum Beispiel eine Lampe, so elaboriert sie die Tatsache, dass diese Lichtquelle über einen Knopf verfügt, der dem An- und Ausschalten dient.24 In Anlehnung an diese Beschreibung lassen sich auch Erwartungsbrüche formulieren, die auftreten, sobald die Daten mit den wissensinduzierten Hypothesen nicht übereinstimmen.25

      Die aus dem prototypischen Wissen generierten Standardwerte können also einen hypothetischen Status besitzen.26 Ein Standardwert wird aufrechterhalten, wenn dieser mit dem perzeptuellen Input übereinstimmt oder wenn kein sensorisches Datum dem Standardwert widerspricht. Sollten sich nicht kompatible Füllwerte ergeben aus dem sensorischen oder aus dem textuellen Input (die zweite Möglichkeit der Sättigung), so sind diese auf Bottom-Up-Prozessen basierenden Füllwerte privilegiert gegenüber wissensgestützten