Spannung und Textverstehen. Philip Hausenblas

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Название Spannung und Textverstehen
Автор произведения Philip Hausenblas
Жанр Документальная литература
Серия Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300632



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      Nun spielen schematisierte Wissensbestände […] eine zentrale Rolle, seien es nun stofflich orientierte Einheiten des Wissens (wie Gegenstands-Frames oder situationale Skripten) oder aber syntaktsiche Bauformen des Textes (wie z.B. Alternationsmontage) oder semantosyntaktische Prinzipien der Textbildung (wie sie in den verschiedenen Geschichtengrammatiken zu beschreiben versucht werden).57

      Auf dieser Grundlage generiert der Rezipient Wulff zufolge Hypothesen, die sich auf der Mikro- und Makroebene ansiedeln und die auf beiden Ebenen Spannung erzeugen.58 Suspense entsteht nach Wulff durch possible and probable developments in the plot, which often cannot even be proven on the surface of the film.59

      Neu einlaufende Informationen sollten nicht nur als Tatsache verarbeitet werden sondern auch als starting point von zukünftigen Entwicklungen hinsichtlich einer Geschichte, sozialen Situationen oder einer Folge von Ereignissen gesehen werden.60

      Wulff betont – ähnlich wie Zillmann –, dass die antizipierten Entwicklungen keine beliebigen sein dürfen, der Zuschauer muss einen negativen Ausgang antizipieren. Deshalb sollten die textuellen Erzeugnisse die Aufmerksamkeit der Rezipienten in Richtung Probleme, Gefahren und Hindernisse manipulieren, die auf diese Weise mögliche Entwicklungen andeuten und diesen gleichzeitig Wahrscheinlichkeitsgrade suggestiv zuordnen. Der Text suggeriert lediglich ein Ensemble alternativer Möglichkeiten bzw. ein Feld möglicher Entwicklungen.61 Die negativen Aspekte müssen sich nicht konkretisieren.62

      Textuelle Elemente, die dazu dienen, mögliche zukünftige Entwicklungen anzudeuten, bezeichnet Wulff Kataphora. Wulff unterscheidet darüber hinaus zwischen Textsegmenten, die das Problem präzisieren, und Textsegmenten, die den Problemraum in eine andere Richtung lenken. Letztendlich kann der Rezipient eine Reihe möglicher Entwicklungen mental konstruieren, die durch neu einlaufende Textsegmente erweitert werden können. Die Textwelt wird dabei nicht vollständig realisiert, die Textebene umfasst nur relevante Aspekte. Es gibt auf der Textebene eine Selektion.63

      Auch der Rezeptionsprozess vollzieht sich selektiv. Nur problembezogenem wird Aufmerksamkeit geschenkt. Wulff spricht in diesem Zusammenhang auch von einer metarezeptiven Hypothese der Rezipienten.64

      2.3 Zwischenfazit

      Auf einer fundamentalen Ebene befinden sich textexterne Überlegungen zu Spannung. Dabei wird Spannung auf den Zeigarnik-Effekt zurückgeführt oder durch das rezipientenseitige Bedürfnis nach Kontrolle begründet. Diese Ansätze vernachlässigen Strukturmerkmale von Texten, daher entziehen sie sich der linguistischen Analyse und werden deshalb nicht weiter berücksichtigt.

      Auf einem rezeptionstheoretischen Fundament charakterisiert Sternberg die Spannungsleerstellen des Curiosity, des Suspense und vom Puzzle, die er auch als rezipientenseitige Fragen beschreibt. Beim Curiosity gibt es einen Vergangenheitsbezug, beim Suspense steht eine zukunftsgerichtete Leerstelle im Zentrum. Er konzentriert sich auf schriftsprachliche Texte.

      Sternbergs Ansatz dient als Anknüpfungspunkt für das Forscherteam um Brewer. Sie orientieren sich an dem Verhältnis zwischen Plot-Story-Ebene und an der Terminologie und beschreiben die Typen Suspense und Curiosity. Beim Suspense kommt zusätzlich die Frage hinzu, wie sich das Verhältnis zwischen dem Wissen der Rezipienten und dem Wissen der Figuren gestaltet, ein Aspekt der in der Hitchcockschen Suspensedefinition entscheidend ist und der in den anderen Ansätzen keine Rolle spielt. Die rezeptionstheoretische Terminologie wie Leerstelle und die damit verbundenen Fragen gehen dabei verloren. Die zeitliche Dimension ist vorhanden, wenn auch wie bei allen anderen Autoren außer Carroll stillschweigend. Brewer abstrahiert in seinen Forschungen von einer konkreten Modalität.

      Carroll untersucht das Curiosity und den Suspense im Film, die gemeinsam fictions of uncertainty konstituieren. Beim Curiosity steht eine Frage im Zentrum, die mehrere Antworten zulässt, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Den Suspense beschreibt er als das Stellen von Fragen, von denen eine als moralisch gut und zugleich unwahrscheinlich gilt und die andere als moralisch schlecht und wahrscheinlich gilt. Die Antworten schließen sich logisch aus. Unabhängig von Sternberg kommt Carroll zu dem Schluss, dass sich der Suspense (zukunftsbezogen) und das Curiosity (vergangenheitsbezogen) in zeitlicher Hinsicht unterscheiden.

      Zillmann konzentriert sich im Rahmen seiner psychologischen Theorie nur auf den filmischen Suspense. Seinem Ansatz nach entsteht dieser dramatische Effekt durch negative Konsequenzen für gemochte Helden, die vom Rezipienten für sehr wahrscheinlich erachtet werden. Bei den negativen Konsequenzen spielt die von Carroll postulierte moralische Dimension keine Rolle, er grenzt sich in diesem Punkt explizit von Carroll ab. Die Arbeiten von Sternberg und von Brewer besitzen im Rahmen von Zillmanns Arbeiten keinen Einfluss.

      Wulff ergänzt Zillmanns Analyse um eine kognitive Dimension, der zufolge sich die Erwartung eines negativen Ausgangs ergibt aus Textinformationen und Schemata, die durch Relevanzerwägungen zu einander in Beziehung gesetzt werden. Die Ergebnisse der anderen Autoren spielen bei ihm keine Rolle. Im Zentrum steht der filmische Suspense.

      Wulff ist der einzige Autor, der die kognitive Dimension der Spannung in seine Überlegungen mit einbezieht. Damit entwickelt er das Fundament, um die Ziele dieser Arbeit zu erreichen. Er gibt den Anstoß, um den Suspense und andere Spannungstypen aus einer kognitionslinguistisch orientierten Perspektive zu beleuchten, wobei neben lokalen Aspekten auch die globale Dimension ergänzt werden soll, um zu einem umfassenden Bild zu gelangen.

      II Grundlagen einer Theorie des Textverstehens

      If someone said, ’It’s raining frogs‘, your mind would swiftly fill with thoughts about the origins of those frogs, about what happens to them when they hit the ground, about what could have caused that peculiar plague, and about whether or not the announcer had gone mad. Yet the stimulus for all this is just three words. How do our minds conceive such complex scenes from such sparse cues? The additional details must come from memories and reasoning.65

      Sprachliche Kommunikation besitzt einen elliptischen Charakter. Auf der Basis einer geringen Anzahl textueller Signale (sparse cues, stimulus) wird eine Vielzahl rezipientenseitiger Aktivitäten stimuliert, die sich nähren aus den im Zitat benannten Bereichen des Wissens (memory) und der Inferenzen (reasoning), die die Grundlage bilden für die Konstruktion eines mentalen Modells (hier scenes). Im Folgenden werden diese drei Hauptfelder kognitiv orientierter Disziplinen vorgestellt. Damit rückt dieser Teil die repäsentationalen und prozedualen Aspekte des Textverstehens ins Zentrum, die sich aus kognitionsorientierten und psycholinguistischen Ansätzen ergeben.

      In Kapitel 3 werden Frame- und Schema-theoretische Ansätze integrativ vorgestellt, die auch Wissen über Textsorten mit einschließen. Dabei werden zentrale Begriffe wie Leerstelle, Füllwert, Prototypikalität etc. eingeführt. Zunächst werden diese Entitäten unabhängig von sprachlichen Aspekten als fundamentale Einheiten der Kognition beschrieben.

      In Kapitel 4 wird eine Vielzahl mentaler Prozesse vorgestellt, die auf den kognitiven Strukturen basieren. Dabei wird zunächst der für diese Arbeit zentrale Begriff der Inferenz definiert. Nachdem ein kompakter Einblick in die Welt der Inferenzen in der klassischen Philosophie gegeben wurde, werden die Ansätze zu verstehensnotwendigen Inferenzen aus der Textverstehenstheorie vorgestellt. Dabei werden zunächst Inferenzen auf Wortebene vorgestellt, wobei der Satzkontext in der Regel eine wichtige Rolle spielt. Dann werden Inferenzen vorgestellt, die angrenzende Sätze verbinden. Im Anschluss werden Inferenzen beschrieben, die sich auf größere Diskurssegmente eines Textes beziehen und diese vorstellen. Der Aufbau folgt also der Komplexität des zugrunde liegenden Textmaterials. Darüber hinaus wird eine weitere Klasse von Inferenzen vorgestellt, die sogenannten elaborativen Inferenzen. Diese besitzen keine kohärenzstiftende Funktion. Das Kapitel endet mit einer Klassifikation von Inferenzen und mit der Beschreibung von Leserzielen, die einen Grund dafür liefern, warum Rezipienten überhaupt eine derartige Aktivität bei der Textrezeption zeigen.

      Während diese Prozesse in Kapitel 4 auf der Ebene einzelner Sätze, Satzpaare und