Spannung und Textverstehen. Philip Hausenblas

Читать онлайн.
Название Spannung und Textverstehen
Автор произведения Philip Hausenblas
Жанр Документальная литература
Серия Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300632



Скачать книгу

      Suspense kommt ohne die positive Dimension aus. Um ein möglichst intensives Suspenseerlebnis zu bieten, müssen Geschichten nach Zillmann folgende Kriterien erfüllen:39

       Geschichten müssen mögliche negative Ausgänge suggerieren

       Gemochte Protagonisten (liked protagonists) oder eine substitute entity40 müssen betroffen sein von möglichen negativen Ausgängen, damit diese Ausgänge gefürchtet werden von den Rezipienten

       Die Wahrscheinlichkeit, dass negative Ausgänge eintreten, muss hoch sein aus der Perspektive des Rezipienten

      Bei der Negativität von Ausgängen differenziert Zillmann zwischen verschiedenen Graden. So ist beispielsweise der mögliche Tod auf einem höheren Negativitätsniveau angesiedelt als der Verlust von Eigentum oder die soziale Isolation. Um das Suspenseerleben zu ermöglichen, müssen die antagonistischen Kräfte den gemochten Protagonisten glaubwürdig schädigen können. Die Gefahr kann an dritten Parteien demonstriert werden, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Suspense setzt nach Zillmann nicht voraus, dass Moral im Spiel, womit er sich explizit gegen Carroll richtet.41

      Bei der Erzeugung von Suspense spielen die Angst und die Hoffnung von Rezipienten eine zentrale Rolle. Die negativen Konsequenzen für einen Protagonisten werden gekoppelt an die Angst, dass ein erhofftes Ereignis nicht eintreten und dass ein unerwünschtes Ereignis eintreten wird. Zugleich werden sie gekoppelt an die Hoffnung, dass ein bevorzugter Ausgang eintreten wird, dass ein unerwünschtes Ereignis für den Protagonisten nicht eintreten wird und dass negative Ereignisse für antagonistische Figuren eintreten werden. Beide sind als affektive Reaktionen eng aneinander gebunden, es handelt sich um zwei Seiten einer Medaille.42

      Zillmann zufolge kann der Suspenseeffekt mit körperlichen Reaktionen einhergehen. Als mögliche Reaktionen nennt er Schweißausbrüche und Fingernägelkauen. Der Rezeption kann von Rastlosigkeit und Unruhe begleitet werden. Zum Teil lässt sich der Rezipient dazu hinreißen, zu applaudieren, wenn sich die Handlung zum Positiven für den Protagonisten auflöst.43

      Dem Rezipienten weist Zillmann die Rolle eines Zeugen zu. Auf der Leinwand dargestellte Handlungen und Ereignisse wirken sich weder positiv noch negativ auf seinen Alltag aus. Auch umgekehrt besitzt er keinen Einfluss auf die Textwelt, die Entwicklungen im Film bleiben vom Rezipienten unberührt.44

      Hoffen, Bangen und die Einstellung zum Helden. Hoffnung und Angst hängen stark mit der Einstellung des Rezipienten zum Protagonisten zusammen. Diese Relation zum Protagonisten beschreibt Zillmann als Empathie (ein identifikatorisches Verhältnis weist er zurück, weil die Figuren und Leser über verschiedene Wissensbestände verfügen und daher auch verschiedenen Emotionen ausgesetzt sein können).45

      Diese affektiven Dispositionen basieren nach Zillmann auf soziopsychologischen Prozessen, die je nach der emotionalen Beziehung zu den Figuren variieren. Leidet eine gemochte Figur, so leidet auch der Rezipient. Freut sich diese Figur, so überträgt sich das positive Gefühl auf den Leser bzw. Zuschauer. Antipathie gegenüber einer Person führt zu einer entgegengesetzten emotionalen Reaktion. Die Freude des Antagonisten verursacht negative, sein Leiden positive Emotionen. Die Wahrnehmung von positivem und negativem Ausgang kehrt sich also um, wenn sich die Einstellung zu den Figuren umkehrt. So kann das gleiche Ereignis beim Zuschauer verschiedene Reaktionen hervorrufen – je nachdem, in welcher Relation er zu einzelnen Figuren steht.46

      Mit der Relation ändert sich auch die Bewertung von negativen und positiven Ausgängen einzelner Figuren. Eine negative Konsequenz für einen Antagonisten wird vom Rezipienten als positiv empfunden. Eine negative Konsequenz, die den Protagonisten betrifft, wird als negativ eingestuft. Es gibt also negative Konsequenzen für Figuren, die je nach der Einstellung der Rezipienten als positiv und negativ eingeordnet wird.47

      Suspense, Euphorie und Disphorie. Von der Relation zum Protagonisten und vom negativen Ausgang hängen Euphorie- und Disphorie-Reaktionen ab. Euphorie entsteht, wenn eine Gefahr für einen gemochten Protagonisten verringert oder abgewendet wurde. Sie steigt, je größer der Schaden für den Antagonisten und der Nutzen für den Protagonisten ist. Mit der Disphorie-Reaktion verhält es sich umgekehrt. Sie steigt zum Beispiel, wenn eine negative Konsequenz eintritt. In Geschichten nehmen mögliche negative Emotionen den Großteil der Zeit ein, bis am Ende eine positive Auflösung erfolgt. Das bedeutet, dass viele Episoden häufig mit Disphorie beladen sind, dass das finale Ende jedoch Euphorie erzeugt.48

      Zugleich beeinflusst auch der Beitrag des Protagonisten zum Ausgang die Euphorie- und Disphorieintensität. Die Disphorie steigt, wenn der Protagonist die negativen Folgen selbst herbeiführt. Die Euphorie ist größer, je stärker der Protagonist zur Lösung des Problems bzw. zur Abwendung des negativen Ausgangs beigetragen hat. Handelt es sich um einen inaktiven Protagonisten, so steigt die Euphorie nur marginal.49

      Daraus leitet Zillmann praktische Implikationen für den Anfang und das Ende von Geschichten ab: Zu Beginn einer Geschichte sollte der Protagonisten in ein positives Licht gerückt und der Antagonist negativ darstellt werden. Erst danach kann begonnen werden, den Protagonisten mit Gefahrensituationen zu konfrontieren. Die Auflösung verläuft optimal, wenn der Protagonist das Böse selbst (allein) besiegt und dafür belohnt wird.50

      Die Gewichtung der Wahrscheinlichkeit negativer Ausgänge und der Einstellung gegenüber den Figuren. In einer experimentellen Studie haben Comisky und Bryant die Faktoren Relation zur Figur und die Wahrscheinlichkeit des negativen Ausgangs kombiniert und den Einfluss auf das Suspenseempfinden untersucht. Verschiedenen Gruppen ihres Experiments haben sie die gleiche Filmsequenz vorgespielt. Dabei wurde die jeweilige Vorstellung durch einen Kommentar des Erzählers eingeleitet, der von Gruppe zu Gruppe verschiedene Informationen über die Überlebenschancen des Helden enthielt und den Protagonisten entweder in einem neutralen, in einem positiven oder in einem sehr positiven Licht erscheinen ließ. Die Auswertung dieses Experiments ergab, dass die Wahrscheinlichkeit des Ausgangs den Hauptteil bei der Suspensebildung ausmacht. Je geringer die Chance des positiven Ausgangs, desto höher der Suspense. Die hohe positive Relation zum Protagonisten steigert die Spannung zwar, sie besitzt allerdings einen geringen Teil an der Spannungsbildung.51

      2.2.5 Wulff

       Eine konstruktivistische Zeichen- und Textdefinition.

      Die Funktion von Text ist, den Textverarbeitungsprozess zu strukturieren und kontrollieren, und nicht so sehr, ein Thema oder eine Geschichte als ein wohlgeformtes, ganzheitliches Gebilde zu exponieren.52

      Der deutsche Filmwissenschaftler Hans J. Wulff legt für die Analyse von Suspense die konstruktivistische Kernannahme zugrunde, das dem Rezipient eine aktive Rolle bei der Bedeutungskonstitution von narrativ-audiovisuellen Texten zukommt. Denken und Wahrnehmung vollziehen sich bei der Rezeption von audiovisuellen Texten demnach aktiv und mit dem Ziel, eine kohärente (Text-)Welt zu konstruieren (auch konstruktivistisches Rezeptionsmodell). Der audiovisuelle Text stellt Szenen, Situationen und Sequenzen bereit, die der Rezipient kognitionsgestützt verarbeitet. Diese nutzen den Kohärenz- und Ganzheitswunsch des Rezipienten gezielt aus.53

      Um Suspense zu erzeugen, muss der Text dem Zuschauer Informationen bieten, aus denen dieser zukünftige Entwicklungen und die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens erschließen kann. Bei der Analyse von Suspense darf weder die textuelle noch die kognitive Seite vernachlässigt werden. Der Text gilt dieser Auffassung nach als ein instruktionales Gebilde.54

      Die Spannungskonstruktion wird darum gefaßt als eine Sequenz von Textinformationen, die eine dazugehörige Sequenz von Verarbeitungsoperationen des Zuschauers erforderlich macht und diese steuert; diese beiden Komponenten bilden zusammen einen Untersuchungsgegenstand.55

      Als typischen Fall beschreibt er, wie der Protagonist im Gebirge an einer Steilwand in einem Seil hängt und wie sein Seil über eine scharfe Bergkante reibt. Auf der Basis dieser Informationen bildet der Zuschauer die Hypothese, dass das Seil reißen könnte und dass die Figur in die Tiefe stürzt und stirbt.56

      Die jeweiligen Erwartungen