Schützenhilfe. Gabriel Anwander

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Название Schützenhilfe
Автор произведения Gabriel Anwander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919275



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den folgenden Worten: «Halt dich da raus. Setz dich schön in deinen Wagen!»

      Seine Stimme war die eines Zwölfjährigen und passte schlecht zu seiner Gestalt. Dadurch wurde deutlich, dass er aufgeregt war. Die Beschimpfungen vor dem Pickup arteten derweil in eine Keilerei aus. Der Rennfahrer hatte den Handwerker in den Hintern getreten, als er sich bückte, um den Schaden näher anzusehen. Das ging diesem aber zu weit.

      Für den Burschen vor mir war der Zeitpunkt gekommen, einzugreifen, und er hätte sich geradewegs auf den Handwerker gestürzt, wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte.

      Ich hielt es, wie gesagt, für falsch, dass sich jemand einmischen und dem Rennfahrer beistehen würde, schliesslich hatte er mit Handgreiflichkeiten begonnen. Ich rammte rasch und entschlossen mein Knie in die Hüfte des Burschen, zielgenau und mit Wucht auf den Oberschenkelgelenkknochen.

      (Zugegeben, diesen eher fiesen Trick hatte ich nicht bei der Polizei gelernt.)

      Mit etwas Unterstützung von meiner Seite klappte er ein und hielt sich am Rückspiegel fest; bevor er sich wieder aufrichten konnte, hatte ich seinen rechten Arm gepackt und ihn ihm auf den Rücken gedreht.

      (Diesen Griff hingegen lehren die Instruktoren der Polizei, als wäre er ihre persönliche Erfindung.)

      Ich schlang meinen linken Arm um seinen Hals und drückte ihm seinen Arm in den Nacken, bis er mit den Zähnen knirschte. Er hielt still, und gemeinsam sahen wir zu, sozusagen aus der ersten Reihe, wie der Handwerker dem Rennfahrer das Maul stopfte. Drei Mal schlug er zu. Hart und schnell. Hernach kletterte er in seinen Lieferwagen und fuhr am Pickup vorbei und weg.

      Ich liess den Burschen gehen. Er eilte zu seinem Kumpel, half ihm auf die Beine, hielt ihm ein Taschentuch hin und rief mir nach: «Wir sehen uns wieder!»

      Der Stau vor uns hatte sich aufgelöst, der Verkehr rollte wieder, ich beeilte mich und gab Gas.

      Als ich auf die Schnellstrasse nach Rubigen einbog, mitten in der Kurve auf die Brücke, klingelte mein Mobiltelefon, und damit nahm diese Geschichte ihren eigentlichen Anfang und mein Leben eine Wendung.

      Ich kann nicht erklären, weshalb ich das eben Erzählte überhaupt erwähnt habe. Wer vermag zu sagen, wann eine Geschichte beginnt und wann sie endet? Was gehört dazu, was nicht? Was bedarf der Erwähnung, was muss vorausgeschickt werden?

      Das Telefon steckte in der Jackentasche, und die Jacke lag unerreichbar auf dem Rücksitz. Ich nahm Gas weg und fuhr in Rubigen auf den Parkplatz des Gasthofs zur Sonne, suchte das Telefon und sah nach, wer versucht hatte, mich anzurufen. Es war eine unbekannte Nummer.

      Ohne diesen Stau, dachte ich, sässe ich längst zu Hause, hätte einen Whisky in der Hand und würde nicht zurückrufen. Konnte etwas so dringend sein, dass es morgen zu spät dafür sein würde?

      Unentschlossen hob ich den Kopf und blickte auf ein Bild des neusten Saab auf der Plakatwand vor mir. Es war ein schwarzes Modell. Schnittige Form. Grosse Räder. Und eine gefällige Schnauze. Auf dem Bild glänzte der Wagen, als wäre er aus Porzellan. Zum Sonderpreis, stand da, mit Sonderausstattung.

      Zufall? Fügung? Vorsehung?

      Ich rief sofort zurück.

      2

      Eine Frauenstimme meldete sich: «Scheidegger.»

      «Bergmann», sagte ich, «Sie haben mich angerufen.»

      «Wo sind Sie?», fragte die Stimme.

      «Auf einer einsamen Insel», sagte ich.

      Sie blieb stumm.

      Ich fürchtete bereits, mein Akku würde leer sein, bevor ich wieder von ihr hören sollte, da fasste sie sich und sagte: «Wir haben einen Auftrag für Sie. Können Sie in zehn Minuten bei mir im Büro sein? Milchgasse 3, zweiter Stock. Kommen Sie einfach rein, Frau Christine Klay, unsere Sekretärin, ist bereits gegangen.»

      «Sind Sie sicher, dass ich der richtige Mann bin?»

      «Ich habe mich noch nie verwählt», tönte es selbstsicher.

      «Um was geht es?»

      Diese Frage musste sie erwartet haben, trotzdem war sie nicht fähig, die passende Antwort zu geben. Womöglich gab es keine Antwort, die passte, zumindest nicht am Telefon.

      Ich hörte ein Knirschen, ein angenehmes Knirschen, als würde sie ihre Nägel in einen Ledersessel krallen.

      «Erschossen», flüsterte sie, «einer unserer Mitarbeiter ist erschossen worden.»

      Es war mehr die Art, wie sie es sagte, die mich überzeugte, als der Inhalt ihrer Worte. Ich sagte zu und legte auf. Ich hatte von einem Mord gelesen, heute Morgen in der Zeitung.

      Ich parkte meinen Wagen in einer Seitengasse und ging zu Fuss an den zwei Häuserblocks vorbei, bis ich vor der Nummer 3 stand. Neben der Eingangstür hing ein glänzendes Messingschild, gross wie eine Gedenktafel und mit matten, schwarzen Buchstaben: «Advokatur und Notariat Scheidegger.» Die Tür war unverschlossen, ich schob sie auf und ging hinein.

      Es war düster und roch eigenartig. Reinigungsmittel hinterliessen einen anderen Geruch, der hier war streng, fremd, scharf. Undefinierbar.

      Die Lifttür war mit rot-weissen Plastikbändern in Form eines grossen X gesperrt, und auf Augenhöhe hing ein Blatt Papier mit dem Hinweis, die Umbauarbeiten am Lift dauerten noch bis Ende Woche. Damit wurde mir klar, es roch nach Schweissarbeiten.

      Mir blieb die Wendeltreppe rechts. Ich flog die Stufen hoch, zwei Tritte aufs Mal überspringend, meine Schritte hallten bis zur Mansardentür hinauf, und die Treppe war so leer und breit, dass ich mit dem Wagen hätte hinauffahren können.

      Wer sein Geschäft in einem Gebäude wie diesem zu betreiben vermochte, im Zentrum der Stadt, der musste in der höchsten Liga spielen und regelmässig gewichtige Aufträge an Land ziehen. Abgesehen von der Stadtverwaltung, die leistete sich ihre Büros auch an bester Lage.

      Ich war froh, hatte ich meinen alten Wagen nicht vor dem Haus abgestellt. Frau Scheidegger hätte den Verdacht hegen können, ich sei nicht der Beste meiner Branche.

      Im zweiten Stock trat ich in den Flur.

      Das Parfum der Sekretärin hing noch in der Luft wie Sommerflieder, eingepackt in Muskat und getragen von Kernseife. Moderne, winzige Leuchtdioden erhellten die dunkle Holzverkleidung und spiegelten sich seidenweich auf dem Teppich, der so dünn war wie der Schinken in den Sandwichs der Polizeikantine. Ich spürte Ehrfurcht aufkommen.

      Ich kam an einer Kanzlei mit Milchglas und dem Schild «Anmeldung» vorbei, klopfte an einer schalldichten Tür, die lediglich angelehnt war, atmete tief durch und trat ein.

      Das Erste, was ich wahrnahm, war frischer Zigarrenrauch; dann sah ich sie, am Eckfenster stehend, von wo sie einen Überblick über den Bahnhofplatz und weit die Bärengasse hinab haben musste. Sie rauchte eine Havanna.

      «Sie haben lange gebraucht», stellte sie mit Blick auf die fast abgebrannte Zigarre fest.

      Ich sagte: «Mord ist eine ernste Sache. Da gilt es, ruhig und überlegt zu handeln.»

      Sie nickte, kam näher, kniff ihre Augen zusammen und richtete ihre Pupillen wie einen Laser auf meine, es fühlte sich an, als verschaffte sie sich durch meine Augen hindurch Zutritt in mein Inneres, als erforschte sie meine Gesinnung und meine Haltung. Ich hielt ihrem Blick stand und wartete. Sie nickte wieder, fasste die Zigarre mit ihrer Linken, hielt sie von ihrem Körper abgewinkelt, bot mir ihre Rechte an, dann einen Stuhl und sagte: «Sie verzeihen, dass ich rauche. Rauchen muss.»

      «Solange Sie … bei dem Kraut bleiben.»

      Sie liess sich nichts anmerken und fragte: «Möchten sie auch eine? – Oder lieber was zu trinken?»

      Ihr Schreibtisch glich einem Flugzeugträger aus Birnbaumholz, der lederne Sessel dahinter einem englischen Thron und die Bücherwand dahinter einer rege benutzten Ausleihe. Die drei Stühle vor dem Pult waren gepolstert, hatten Armstützen und sahen bequem aus. Ich setzte mich in den