Die Wohlanständigen. Urs Schaub

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Название Die Wohlanständigen
Автор произведения Urs Schaub
Жанр Языкознание
Серия Simon Tanner ermittelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551959



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unten. Ich zeige es Ihnen.

      Sie ging eine ganze Treppe runter und zeigte auf den Zwischenabsatz im ersten Stock.

      Hier lag er. Er muss dieses Stück Treppe vom zweiten zum ersten Stock heruntergefallen sein.

      In welchem Zustand war er denn?

      Er hat geheult und geschrien, es muss furchtbar wehgetan ha­ben. Aus dem Bein hat es auch geblutet.

      Geblutet? Sind Sie sicher?

      Ja, ja, ich habe nachher den Boden saubergemacht. Am Kopf hatte er auch eine Wunde. Ich habe sofort den Krankenwagen an­gerufen. Die waren auch wirklich schnell da und haben Herrn Berisha eine Beruhigungsspritze gegeben. Dann haben Sie ihn auf einer Bahre weggetragen.

      Sie zögerte.

      Und dann?

      Am nächsten Tag ist seine Freundin vorbeigekommen und hat sich in seinem Namen bedankt. Ein sehr nettes Mädchen. Sie war oft hier bei ihm. Die Arme, sie hatte ganz verweinte Augen. Sie hat gesagt, dass er am nächsten Tag operiert würde.

      In dem Moment kam das Mädchen aus der Wohnung. Sie hatte eine kleine Tasche umgehängt und verabschiedete sich fröhlich von ihrer Mutter. Sie huschte an Michel und Lena vorbei und rannte die Treppe hinunter.

      Das ist alles, Frau Akyüz, danke für die Auskünfte.

      Sie verabschiedeten sich und verließen das Haus. Michel blickte zurück.

      Ich würde gerne seine Wohnung sehen, aber dazu müssten wir einen Durchsuchungsbefehl haben. Na ja, das können wir noch nachholen. Ich werde jetzt doch mal den Chef anrufen, sonst dreht er noch durch. Ich weiß übrigens, warum das Mädchen verweinte Augen hatte. Es war nicht wegen des gebrochenen Beins oder nicht nur.

      Lena schaute ihn überrascht an. Michel erzählte ihr in groben Zügen, was Moser ihm mitgeteilt hatte.

      Lena war entsetzt und fluchte darauflos, wie er es ihr nie zugetraut hätte.

      Entschuldigung, aber so etwas macht mich sauer. Das gibt’s doch gar nicht! In welchem Jahrhundert leben wir denn?

      Sie haben recht, mir geht es genauso. Ich rufe jetzt unseren hochwohlgeborenen Chef an.

      Von der Werdt nahm sofort ab. Michel erklärte ihm die Sachlage und beantragte eine Wache fürs Spital.

      Der Chef ist natürlich enttäuscht, aber mit unserem Vorschlag einverstanden. So. Und Sie fahren mich jetzt ins Spital, danach besuchen Sie noch einmal die sehr nette Frau Akyüz, denn wir haben vergessen, was zu fragen.

      Was denn?

      Ob Bekim Berisha ihrer Meinung nach wirklich betrunken war. Und ich will mit dem Arzt über den Beinbruch reden. Irgendwas stört mich. Dann bestelle ich jetzt die Spurensuche, die soll das Treppenhaus untersuchen. Sie bleiben im Haus, bis die eintreffen. Später nehme ich ein Taxi und komme auch dorthin.

      Lena startete den Motor und Michel rief Sommer an.

      Nach einer halben Stunde Wartezeit in der Kantine kam der Chirurg, der Berisha operiert hatte, auf Michel zu.

      Er stellte sich als Dr. Bless vor. Er hatte nur kurz zwischen zwei Operationen Zeit.

      Michel erklärte ihm in knappen Zügen die Situation.

      Was ich gerne wissen will, kann man sich so einen komplizierten Beinbruch bei einem Treppensturz zuziehen?

      Der grauhaarige Arzt zog die Augenbrauen hoch.

      Na ja, das ist so eine Sache. An sich zeigt uns die Wirklichkeit im­mer wieder Dinge, die in der Theorie nicht zu erwarten sind.

      Er lachte.

      Wie klärt schon Mephisto den Schüler bei Faust auf: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum. In diesem Sinne würde ich ihre Frage mit Nein beantworten, aber der Patient hat erklärt, dass sich sein Bein eben im Treppengeländer verheddert hat und damit den offenen Bruch erklärt. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wenn jemand mit Schuss- oder Messer­verletzungen kommt, dann sind wir natürlich verpflichtet, das zu melden, aber ein Beinbruch …

      Michel nickte.

      Verstehen Sie, wir konzentrieren uns halt vor allem auf das Flicken und nicht auf die Ursache des Unfalls. Ich bin kein Ge­richtsmediziner.

      Gut. Ich will Sie nicht länger aufhalten, Dr. Bless. Können wir denn Berishas Kleider zur Untersuchung haben?

      Ich werde das in die Wege leiten. Ein Assistent von mir wird sich bei Ihnen melden.

      Michel überreichte ihm seine Karte.

      Wir schicken ab sofort einen Beamten vor Berishas Tür.

      Der Arzt runzelte die Stirn.

      Warum denn das?

      Einfach zur Sicherheit. Auf Wiedersehen.

      Sie schüttelten sich die Hand.

      Aha. Und zu wessen Sicherheit?

      Aber diese Frage hörte Michel schon nicht mehr.

      acht

      Die gute Nachricht: Berishas Beinbruchgeschichte war falsch. Die Schlechte: Das Rendezvous mit Mali musste verschoben werden, denn die Logik der Aufklärung erforderte zwingend rasches Handeln bei neuen Erkenntnissen. Es gab Dinge, die konnte man einfach nicht auf den anderen Morgen verschieben – und das war Michel klar. Aber er war stinksauer. Innerlich bebte er vor Zorn und haderte mit seinem Schicksal. Die Vorfreude auf die Begegnung mit der rothaarigen Mali war auf ihrem Siedepunkt angelangt, als die Nachricht kam. Gerade hatte er sich die Begegnung mit ihr ausgemalt. Das gemeinsame Essen hatte er großzügig über­sprungen und war gleich in ihrer Wohnung gelandet, genauer gesagt in ihren Armen. Küssen, küssen, küssen und dann, ach, end­lich ihre Bluse öffnen, und im nächsten Moment schien es ihm, als ob er tatsächlich ihre Nacktheit spürte.

      Dann klingelte das Telefon und die Botschaft kam, die schlagartig alles veränderte. Er musste sich in die Wirklichkeit zurückzwingen. Er warf das Handy wütend auf seinen Schreibtisch. Es knallte gegen eine Blechdose mit Bleistiften, die scheppernd zu Bo­den ging. Lena stand schnell auf, hob die Dose vom Boden auf und sammelte die Stifte ein. Sie stellte sie auf den Tisch zurück und fragte ihn ganz besorgt, ob es ihm gut ginge. Er wehrte un­wirsch ab.

      Nein, nein, es ist alles gut. Ich ärgere mich über diese ganze Lü­gerei. Hält er uns für so blöd!

      Die Spurensuche hatte Spuren seines Bluts nicht nur auf der Treppe festgestellt – also da, wo Berisha behauptet hatte, gestürzt zu sein – sondern schon auf dem Trottoir und im Eingangsbereich. Es sieht ganz so aus, als ob er mit einem Auto vor das Haus gefahren worden wäre, sich dann ein Stück hochgeschleppt, bevor er um Hilfe geschrien hatte.

      Er schickte Lena aus dem Büro und rief schweren Herzens Mali an, um ihr die Verschiebung ihres Treffens anzukündigen. Um es kurz zu machen: Sie nahm es leicht, schließlich hätten sie sich über vierzig Jahre lang nicht gesehen, da käme es auf einen Tag auch nicht an. Morgen Abend sei sie leider schon verabredet. Aber am Tag darauf, da könne er sie gerne bis Mitternacht anrufen, denn am nächsten Tag hätte sie frei …

      Was für eine Perspektive!

      Etwas besänftigt setzte er sich ans Steuer und fuhr mit Lena ins Spital. Sie beobachtete ihn von der Seite und wunderte sich über die schnellen Stimmungswechsel ihres Chefs.

      Im Spital ging vor Berishas Zimmer ein Beamter auf und ab – und telefonierte.

      Michel schnaubte.

      Das kann nur Stoffel sein.

      Zu Lena gewandt.

      Wenn immer ich den sehe, ist er am Telefonieren.

      He, Stoffel.

      Er drohte mit dem Finger.

      Keine privaten Telefonate während der Dienstzeit.

      Stoffel drehte