Die Wohlanständigen. Urs Schaub

Читать онлайн.
Название Die Wohlanständigen
Автор произведения Urs Schaub
Жанр Языкознание
Серия Simon Tanner ermittelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551959



Скачать книгу

wird, was sie unbedingt wollen. Auf jeden Fall hatte dieses Foto mit der Leiche im Wasser, außer der Größe und der Haarfarbe, fast nichts gemein.

      Ich wäre sehr froh, wenn ich das Bild fotografieren dürfte. Darf ich?

      Sie nickte, überlegte es sich dann aber anders.

      Wissen Sie was? Ich habe noch einen Abzug, den gebe ich Ihnen.

      Oh, das ist aber sehr nett.

      Sie eilte wieder aus dem Zimmer. Er hörte sie nebenan in einer Schublade suchen. Dann gab sie ihm das Bild.

      Ich werde Sie informieren, wenn wir wissen, wer Ihren Vater –

      Sie unterbrach ihn.

      Wann wird mein Vater freigegeben, also, ich meine …

      Morgen oder übermorgen, vermute ich. Aber das entscheide nicht ich. Sie kriegen Bescheid.

      Wenn Sie noch weitere Fragen haben, können Sie gerne wiederkommen oder wir treffen uns in der Stadt.

      Ich werde bestimmt noch mehr Fragen haben.

      sieben

      Als Michel am anderen Morgen ins Büro kam, saß Lena bereits an ihrem kleinen Arbeitstisch und arbeitete an einem Laptop. In der Hand hielt sie ein kleines Gerät mit Antenne.

      Was machen Sie da, wenn ich fragen darf?

      Sie legte ihren Finger auf den Mund. Michel zuckte mit den Schultern und setzte sich an seinen Platz. Vor ihm lag der Untersuchungsbericht des Gerichtsmedizinischen Instituts. Er war be­reits geöffnet.

      Verdammt! Das gibt’s doch nicht.

      Lena drehte sich zu ihm und bedeutete ihm noch einmal, stumm zu sein. Nach einer Weile verstaute sie das Gerät in ihrer Handtasche, klappte ihren Laptop zu, stand auf, ging zum Fenster, öffnete es und winkte Michel zu sich. Sie beugte sich über den Fenstersims und sah raus auf die Straße. Michel fragte, was das solle, und sie bedeutete ihm, es ihr gleichzutun.

      Ich mache das, damit niemand hört, was wir reden.

      Michel verstand nicht.

      Wie meinen Sie das?

      Wir werden abgehört.

      Michel richtete sich auf.

      Was? Das gibt’s doch nicht.

      Pst. Lassen Sie uns in das Café da unten um die Ecke gehen. Ich gehe vor. Und vergessen Sie den Bericht nicht.

      Sie richtete sich auf, packte auch noch ihren Laptop in die Tasche und ging raus.

      Michel blickte sich verstohlen in seinem Büro um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dann verließ auch er das Büro.

      Als Michel in das Café kam, hatte Lena bereits zwei Kaffee be­stellt.

      Woher wussten Sie, dass ich ihn schwarz trinke?

      Sie lächelte verschmitzt.

      Ich habe Kriminologie studiert, erinnern Sie sich?

      Gut. Gut. Aber was soll das Ganze? Wir werden abgehört, sagten Sie! Das kann ja nicht sein.

      Doch, es ist leider so. Ich habe das mit meinem kleinen Gerät festgestellt, dass ich während meines Studiums zusammengebastelt habe. Das Mikrofon habe ich noch nicht gefunden, aber das werde ich auch noch finden.

      Und wer sollte so etwas tun?

      Sie zuckte mit den Achseln.

      Auch das werden wir noch herausfinden. Vielleicht sogar der neue Chef, er ist ja ein totaler Kontrollfreak, glaube ich. Bis wir es wissen, ist also totale Vorsicht geboten, oder was meinen Sie?

      Ja, Sie haben recht.

      Er wog den gerichtsmedizinischen Bericht.

      Den hat sicher der Chef geöffnet.

      Lena wurde rot.

      Nein, das war ich. Ich konnte einfach meine Neugierde nicht bezähmen. Tut mir leid.

      Michel holte tief Luft.

      Na gut. Erzählen Sie mir, was Sie gelesen haben.

      Sie richtete sich auf.

      Gut. Er ist erstochen worden und gleichzeitig ertrunken. Direkt nach dem Stich hat man ihn ins Wasser gestoßen oder geworfen.

      Ist das alles?

      Nein, Herr Beckmann hatte Krebs. Er wäre in wenigen Monaten an Krebs gestorben. Darmkrebs.

      Aha. Gibt es eine zeitliche Angabe?

      Er hat wohl zwischen vierundzwanzig bis vierzig Stunden im Wasser gelegen.

      Michel nickte.

      Das habe ich mir gedacht.

      Es gibt keinerlei Kampfspuren. Er muss von hinten erstochen worden sein, quasi ohne Vorwarnung.

      Michel sah sie an.

      Was für Menschen erstechen Ihrer Meinung nach einen ahnungslosen Mann von hinten?

      Lena lehnte sich zurück.

      Das weiß ich nicht. Aber zuerst einmal zum Messer: Es handelt sich um ein sehr teures Sammlermesser von einem russischen Produzenten. Es nennt sich Sekatsch. Der Griff ist aus Ebenholz, die Klinge aus Damaszenerstahl, in 572 Lagen geschmiedet. Sehr kunstvoll. Die Klinge ist 125 mm lang. Das Messer wird noch auf DNA-Spuren untersucht.

      Ist das alles?

      Ja, das ist alles, Chef, äh … Michel.

      Michel hob warnend seinen Finger.

      Ich sage nur Achtung. Ach ja, wieso sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, dass es ein Mikrofon geben könnte?

      Es war eine sehr hämische Bemerkung von ihm, also Von der Werdt.

      Aha. Und wie lautete die?

      Als ich mich weigerte, Auskunft über unsere Ermittlungen zu geben, meinte er: Macht nichts, ich erfahre es ja sowieso. Dieser Satz könnte auch heißen, dass er ja die Ergebnisse von Ihnen erfahren würde, früher oder später, aber mich hat sein hämisches Grinsen misstrauisch gemacht.

      Und was machen wir jetzt?

      Ich werde heute Abend Überstunden machen, die Sie anordnen und dann werde ich das Mikrofon schon finden.

      Michel runzelte seine Stirn.

      Und dann?

      Werden Sie entscheiden, was wir damit machen, das ist doch klar.

      Sie verschränkte die Arme.

      Sie sind der Chef. Ich bin nur Ihre Assistentin.

      Er verschränkte auch die Arme.

      Gut. Ich hätte eine Idee, was Sie in den Überstunden machen könnten. Schauen Sie mal, was Sie so über Krättli und Co. herausfinden können.

      Lena strahlte.

      Sehen Sie, deswegen benutze ich meinen eigenen Laptop, da­mit ich unabhängig vom offiziellen Netzwerk des Büros arbeiten kann.

      Michel erhob sich.

      Kluges Mädchen. Kommen Sie, wir suchen den Sohn auf. Un­terwegs erzähle ich Ihnen, was ich gestern Abend von der Tochter erfahren habe.

      Diesen Weg konnten sie zu Fuß machen, denn der Sohn wohnte mitten in der Altstadt.

      Das Haus war eines der schmalen, aber ziemlich tiefen Häuser, von denen es in dieser Altstadtgasse viele gab. Im Parterre hatte fast jedes dieser Häuser ein kleines Antiquitäten-, Trödel-, Bücher- oder Kleidergeschäft, das oft von den Hausbesitzern selbst betrieben wurde.

      Michel zückte sein Telefon und streckte es Lena hin.

      Rufen Sie ihn mal an und sagen Sie ihm, dass wir vor seiner Tür stehen. Wir hätten ein paar Fragen zu seinem Vater.

      Er diktierte ihr die Nummer.