Die Wohlanständigen. Urs Schaub

Читать онлайн.
Название Die Wohlanständigen
Автор произведения Urs Schaub
Жанр Языкознание
Серия Simon Tanner ermittelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551959



Скачать книгу

war er aber nicht.

      Sie atmete hörbar aus.

      Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Oder wollen Sie mir Fragen stellen?

      In diesem Moment hörte man ein leises Kratzen an der Tür.

      Oh, das ist meine Katze. Entschuldigen Sie. Ich hatte sie vorhin schon gesucht, deswegen habe ich auch die Haustür offen gelassen.

      Sie ging in den Flur und sprach mit leiser Stimme, dann kam sie mit einer kleinen grauen Katze auf dem Arm wieder zum Tisch.

      Das ist Tschuri. Ich habe ihn erst seit ein paar Monaten. Wenn er lange draußen war, werde ich immer noch ganz unruhig.

      Das kann ich verstehen. Tschuri? Ist das nicht dieser, äh … Ko­met, über den man letzthin gelesen hat?

      Doch, doch. Ich weiß auch nicht, wieso ich den Kater so getauft habe. Vielleicht, weil er in meinem Leben auch wie ein Komet auf­getaucht ist.

      Sie errötete dabei und setzte den Kater schnell auf den Boden.

      Also, was wollen Sie wissen?

      Ich möchte mir ein Bild Ihres Vaters machen. Ohne zu wissen, wer er und wie er war, ist es sehr schwer, Ermittlungen anzustellen. Verstehen Sie?

      Ja, ja. Das kann ich verstehen. Ja, wie war mein Vater? Also, er war ein sehr großzügiger und geduldiger Vater. Er hatte zwar im­mer viel zu tun, aber wenn er zu Hause war, hat er sich um uns Kinder gekümmert. Ich habe mich zum Beispiel schon früh für Chemie und Pillen interessiert. Er hat das unterstützt und mir Ex­perimentierkästen gekauft und auch mit mir damit gespielt.

      Sie lachte.

      Dann und wann ist auch mal was schiefgelaufen. Meine Mutter hat das immer ungern gesehen und sich auch ein bisschen lustig gemacht. Das sei doch nichts für ein Mädchen und solche Sprüche. Sie sehen, es hat nichts genützt, ich bin Apothekerin geworden und arbeite heute in der Forschung. Das verdanke ich meinem Vater.

      Sie hielt inne.

      Später ist er immer unglücklicher geworden. Ich sehe das erst heute so klar. Als Kind spürt man zwar eine Menge, aber kann die Sachen nicht richtig einordnen. Unglücklich war er vor allem mit meiner Mutter. Es fällt mir schwer, darüber zu reden, aber er hatte allen Grund dazu.

      Michel richtete sich auf.

      Aha. Und warum?

      Sie holte tief Luft.

      Ja, warum? Das ist nicht so einfach zu sagen. Sie hatte dauernd etwas an ihm auszusetzen. Sie ist vom Typ eine Nörglerin. Außerdem war sie es, die das Geld in die Familie brachte. Ich glaube, der Kampf zwischen ihnen wurde über uns Kinder ausgetragen. Ich war der Liebling meines Vaters, Robert der meiner Mutter. Außerdem hat sie ihre Krankheit benutzt, um ihn unter Druck zu setzen.

      Wie das?

      Ja, immer, wenn er etwas wollte und sie nicht, wurde sie sofort wieder krank. Das war eine simple Formel, aber es war so. Wenn ihr etwas nicht passt, wird sie krank und terrorisiert die anderen damit.

      Das Letzte sagte sie heftig.

      Was hat sie denn für eine Krankheit?

      Sie hat eine chronische Urikopathie.

      Was heißt das für Ungebildete?

      Ach, verzeihen Sie: Sie hat Gicht.

      Verstehe.

      Sie sagten, Frau Beckmann, dass das Geld von Ihrer Mutter in die Ehe eingebracht wurde. Aber hat Ihr Vater denn nicht auch viel Geld verdient?

      Sie lächelte.

      Ja, schon, aber die Familie mütterlicherseits ist steinreich, verstehen Sie. Das ist gar kein Vergleich, selbst wenn Vater zeitweise auch viel verdient hat.

      Wissen Sie, dass Ihr Vater seit fünf Jahren nicht mehr in der Anwaltssozietät arbeitet?

      Sie senkte den Blick.

      Ja, ich wusste es, aber ich bin die Einzige. Meine Mutter weiß es bis heute nicht und mein Bruder auch nicht. Vater wollte es so. Ich musste es ihm bei meinem Leben versprechen, dass das ein Geheimnis zwischen uns bleibt. Später sagte er ihnen, er hätte für die Sozietät eine Art Filialbüro für das Welschland eröffnet. Sie glauben also bis heute, dass er immer noch den gleichen Arbeitgeber hat.

      Wieso hat er Ihnen das gesagt?

      Ich war seine Vertraute. Lange die einzige …

      Wie meinen Sie das?

      Na ja, wie soll ich sagen?

      Sie rutschte nervös auf dem Stuhl, als ob sie keine bequeme Stellung finden würde.

      Mein Vater hat …, also hatte eine, äh … Freundin oder Geliebte, wie Sie wollen. Also, jetzt wird’s kompliziert.

      Sie lehnte sich auf die Tischplatte.

      Als sie meinen Vater gezwungen hatten, aus der Sozietät auszu­treten, der er immerhin über fünfundzwanzig Jahre angehört hatte, ging er trotzdem jeden Tag zur gewohnten Zeit aus dem Haus und kam erst nach Büroschluss nach Hause. Was er in der Zeit den ganzen Tag gemacht hat, weiß ich nicht. Ich habe davon auch erst später erfahren. Aber in der Zeit hat er eine Frau kennengelernt. Das heißt, wenn er dann sozusagen auf Geschäftsreisen war, war er in Wahrheit bei dieser Frau.

      Sie machte eine Pause. Dann schüttelte sie den Kopf.

      Eine große Gemeinsamkeit hatten mein Vater und meine Mutter. Die äußere Fass ade musste unter allen Umständen gewahrt werden. Später, als er dann wieder ein eigenes Büro hatte, hat er offiziell oft dort geschlafen, weil das Büro nicht in der Hauptstadt war, sondern direkt auf der Sprachgrenze in Richtung Welschland.

      Sie nannte ihm Ortschaft und Adresse.

      Warum dort?

      Sie zuckte mit den Achseln.

      Er ist bilingual aufgewachsen und mochte diese zweisprachige Stadt schon immer. Zudem war es weit weg von Mutter.

      Kennen Sie diese Frau?

      Ja, und ich finde sie sehr nett, ich habe diese Freundschaft meinem Vater mehr als gegönnt. Meine Mutter hatte sich leider zu einem richtigen Drachen entwickelt, die mit allen im Streit liegt. Es klingt brutal, ist aber so.

      Michel räusperte sich.

      Außer mit Ihrem Bruder.

      Ja, mein Bruder.

      Jetzt fing sie an zu weinen. Sofort kam Tschuri und sprang auf ihren Schoß, er hatte offensichtlich gemerkt, dass seine Herrin Trost brauchte.

      Sie haben eine schöne Katze, sagte Michel übertrieben verständ­nisvoll.

      Nathalie Beckmann lächelte glücklich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

      Weiß diese Frau vom Tode ihres Vaters?

      Ja, ich habe es ihr mitgeteilt. Ich dachte, sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.

      Ja sicher. Ich will Sie auch gar nicht viel länger aufhalten, aber einen Wunsch hätte ich noch: Könnte ich ein Foto von Ihrem Vater sehen?

      Sie nickte, nahm den Kater auf den Arm und ging aus dem Zimmer. Sie kam mit einem gerahmten Foto zurück und legte es vor ihm auf den Tisch.

      Das Foto habe ich vor etwa fünf Jahren aufgenommen. Wir hat­ten zusammen einen Ausflug mit dem Schiff gemacht.

      Michel nickte.

      Ihr Vater hatte auf dem Foto einen dunklen Anzug mit weißem Hemd an, aber ohne Krawatte. Er lehnte sich an die Reling und lachte in die Kamera. Trotzdem überwog eine Art ernste Seriosität, die er mit seiner Haltung ausstrahlte. Ein Treuhänder, dachte Michel spontan. Seine Haare, ehemals dunkelblond, waren an den Schläfen schon deutlich grau. Obwohl Beckmann lachte, entdeckte Michel eine Art melancholischen Schatten, der über seinem Gesicht lag. Die Oberlippe drückte etwas Verdrossenes, ja sogar etwas Schmollendes aus, als habe das Schicksal ihn um ein Versprechen betrogen. Bei