Die Wohlanständigen. Urs Schaub

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Название Die Wohlanständigen
Автор произведения Urs Schaub
Жанр Языкознание
Серия Simon Tanner ermittelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551959



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Schwebe zu halten. Sie haben ihm das jetzt aber nicht verraten?

      Der Polizeichef lief rot an.

      Natürlich habe ich es ihm gesagt, wie sonst hätte ich Ihr Verhalten begründen sollen?

      Michel ging jetzt aufs Ganze.

      Das heißt, Sie mischen sich in meine laufenden Untersuchungen ein. Das hätte der Alte nie getan. Als leitender Kommissar habe ich das Recht, meine Untersuchungen so zu gestalten, wie ich es für richtig halte. So steht es schwarz auf weiß im Dienstreglement.

      Michel keuchte vor Aufregung und stand auf.

      Zudem habe ich nicht Herrn Krättli persönlich mit einer Vorladung gedroht, ich wollte bloß seinem Bürochef Beine machen. Das hat ja dann auch geklappt. Wahrscheinlich hätten wir sonst nicht so schnell erfahren, dass der Beckmann schon seit fünf Jahren gar nicht mehr für dieses Anwaltsbüro tätig ist. Die Angestellten haben nämlich Auskunftsverbot, was den Beckmann betrifft.

      Von der Werdt war so überrascht, dass er ganz vergass, dass er soeben angepflaumt worden war.

      Was sagen Sie da? Und warum ist er nicht mehr in der Sozietät?

      Hat Ihnen das der Krättli nicht gesagt? Das erstaunt mich jetzt aber.

      Michel nahm sich Zeit, setzte sich wieder, trank einen Schluck von seinem Kaffee und verzog sein Gesicht.

      Sie hatten sich von ihm getrennt, weil er für Kunden viel Geld verloren hat.

      Der Chef zeigte ein eiskaltes Lächeln.

      Na ja, vor zwei Jahren haben viele Leute viel Geld verloren. Ich sage nur Finanzkri…

      Sein Telefon klingelte.

      Gut. Michel, verschwinden Sie.

      Am liebsten hätte Michel ihm den Kaffee ins Gesicht geschüttet, er ging aber betont ruhig aus dem Zimmer und goss ihn in die Toilette.

      Pfui Teufel.

      Lena blickte ihn erwartungsvoll an. Michel winkte ab.

      Ach, nichts Besonderes.

      Er berichtete ihr in Stichworten, was er auf der Anwaltskanzlei erfahren hatte. Das Wiedersehen mit Marlene erwähnte er natürlich nicht.

      Mich hat der Chef heute angemeckert, weil ich mich geweigert habe, über unsere Ermittlungen Auskunft zu geben. Ich bin aber Ihre Assistentin und nicht seine Informantin.

      Und ich sage ein zweites Mal: Das haben Sie gut gemacht, Lena.

      Jetzt wurde sie rot und winkte ab.

      Marmarameer!

      Wie? Ach so, ja. Der ist gut. Danke, Lena, Sie können für heute Schluss machen.

      Michel blieb allein im Büro zurück. Er dachte an die Begegnung mit Marlene. Merkwürdig, dass man plötzlich einem Menschen aus der fernen Vergangenheit begegnet. Und das noch ausgerechnet in der Kanzlei der Wohlanständigen.

      Er kicherte vor sich hin.

      Ob sie auch wohlanständig ist?

      Nein, ich glaube nicht. So wie sie mit dem Bürochef umgegangen ist. Und ihr Lachen ist heute noch genauso frech wie damals als mageres Mädchen. Er erinnerte sich plötzlich wieder, dass sie eine Weile den gleichen Schulweg hatten. Waren sie nicht sogar mal eine Weile Hand in Hand zur Schule gegangen? Genau, sie war doch die, die bereits auf dem Schulweg ihr Pausenbrot an die Enten im Kanal und an die Vögel verfüttert hatte. Mali? Merkwürdig: An den Namen konnte er sich überhaupt nicht mehr erinnern. Aber als sie heute gelacht hatte, da hatte er das Gesicht wiedererkannt. Marlene Bächler. Ob das ihr Mädchenname war, wusste er auch nicht mehr.

      Wie Beckmann wohl aussah, wenn er gelacht hatte? Hatte er überhaupt je gelacht?

      Er stützte seinen Kopf in die Hände.

      Verdammt. Es ist doch immer dasselbe: Wenn man einen Menschen erst als Toten kennenlernt, ist es fast unmöglich, sich ein Bild von ihm zu machen. Und dann erst noch bei einer Wasserleiche. Da ist alles Persönliche eines Gesichts wie weggewischt, entstellt eben.

      Er richtete sich auf.

      Ich brauche dringend ein gutes Foto von ihm.

      Heute in der Gerichtsmedizinischen hatte sich für ihn wieder einmal die Frage aufgedrängt, ob ein Toter überhaupt noch ein Mensch ist, da das Wichtigste aus seinem Körper entwichen war, nämlich sein Leben und wer weiß was noch alles.

      Das erste Mal vermisste er Tanner. Mit dem könnte er jetzt diese Fragen in aller Ruhe diskutieren. Bei einem guten Essen und einem großen Bier.

      Michel seufzte und zückte sein Handy.

      Der Herr könnte sich auch einmal melden.

      Von Tanner kein Lebenszeichen, aber dafür von Marlene. Ob er morgen Abend Zeit und Lust hätte, mit ihr zu essen.

      Und ob, du rothaarige Mali.

      Er schrieb sofort zurück und fragte, wann und wo.

      Dann nahm er sich die beiden Adressen von Beckmanns Kindern vor. Die Tochter hieß Nathalie Beckmann und war 31 Jahre alt. Von Beruf Apothekerin. Der Bruder war jünger, 28 Jahre alt. Er hieß Robert. Beruf und Zivilstand unbekannt. Er lebte in der Stadt. Sie auf dem Lande, unweit der Hauptstadt. Er wählte zuerst die Nummer des Sohnes, weil die Adresse näher war, aber da nahm niemand ab. Seufzend wählte er die Nummer der Tochter. Sie meldete sich sofort.

      Michel erklärte den Grund seines Anrufes. Sie schien nicht im Geringsten überrascht. Er könnte jederzeit vorbeikommen. Sie sei zu Hause.

      Michel schaute auf die Uhr und meinte, dass er in etwa anderthalb Stunden bei ihr sein könnte. Sie war einverstanden.

      Na, das ging ja leicht.

      Er erhob sich und verließ das Büro.

      Michel hatte furchtbaren Hunger und konnte unmöglich mit leerem Magen das Gespräch führen. Ergo führte der Weg zuerst in ein Restaurant. Er wählte eines außerhalb der Stadt, quasi auf dem Weg zur Apothekerin.

      Pünktlich zur verabredeten Zeit stand Michel dann vor dem vierstöckigen Mietshaus aus den Fünfzigerjahren, wo die Apothekerin wohnte. Die Haustür war offen. So klingelte er erst an der Wohnungstür im zweiten Stock.

      Die Tür öffnete sich sofort, als hätte die Bewohnerin nur auf ihn gewartet.

      Michel nannte seinen Namen und zeigte ihr seine Dienstmarke. Nathalie Beckmann bat ihn in ihre Wohnung. Sie hatte so gar nichts von ihrer Mutter. Sie war mittelgroß, hatte ein zartes Ge­sicht, das halblange blonde Haare umrahmten. Sie führte ihn in ein geräumiges Wohnzimmer, dass aussah wie die perfekte Reklame für ein großes Einrichtungshaus aus dem Norden, das mittlerweile die ganze Welt möblierte.

      Nett haben Sie es hier.

      Michel setzte sich an den Tisch und zückte sein schwarzes Notizbuch. Nicht, dass er daran dachte, etwas aufzuschreiben, aber den Leuten war diese Geste eines Kommissars aus dem Fernsehen vertraut.

      Ich möchte Ihnen, auch im Namen unseres Polizeichefs und der ganzen Polizei, unser herzliches Beileid aussprechen.

      Nathalie Beckmann nickte dankbar, aber schwieg.

      Ich nehme an, Ihre Mutter hat Sie informiert?

      Bevor sie antwortete, strich sie die Tischdecke glatt.

      Nein, es war Robert, mein Bruder. Meine Mutter spricht seit einiger Zeit nicht mehr mit mir.

      Aber mit ihm spricht sie?

      Ja, mit ihm schon.

      Sie stand abrupt auf und verließ den Raum, kam aber sofort mit einer Packung Taschentücher wieder. Sie schnäuzte sich und trocknete die Augen.

      Entschuldigen Sie bitte.

      Michel hob besänftigend seine Hand. Sie schaute ihn an und versuchte ein Lächeln, was ihr aber gänzlich misslang.

      Wir haben schwierige