Die Wohlanständigen. Urs Schaub

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Название Die Wohlanständigen
Автор произведения Urs Schaub
Жанр Языкознание
Серия Simon Tanner ermittelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551959



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rieb sich das Gesicht trocken.

      Wenn es unbedingt sein muss.

      Die gute Laune von heute Morgen gehörte nun restlos der Ge­schichte dieses Tages an. Er schlug unwillig die Akte Beckmann auf und überflog die biografischen Daten, die am Anfang zusammengefasst waren.

      Beckmann war 59 Jahre alt, verheiratet. Hatte zwei erwachsene Kinder. Stammte ursprünglich aus dem östlichen Teil des Landes. Die Frau, geborene von Wyttenbach, aus einem ortsansässigen Geschlecht also.

      Michel seufzte. Die müsste er jetzt gleich aufsuchen. Er hasste diese Gänge.

      Hallo? Darf ich reinkommen?

      Michel guckte verärgert hoch. Im Türrahmen stand ein Mädchen mit langen braunen Haaren, einem schönen und ebenmäßigen Gesicht und einer großen schwarzen Brille. Sie trug eine schwarze Hose und ein weites Jeanshemd. Im Arm hielt sie einen zerknautschten Reportermantel.

      Was willst du?

      Die Angesprochene hob linkisch die Hand zum Gruss.

      Also, ich bin die Assistentin. Lena Steiner.

      Michel lehnte sich zurück.

      Dass ist jetzt aber ein Witz. Schickt man mir jetzt Kinder?

      Ich bin 27 Jahre alt.

      Oh, pardon. Welch hohes Alter. Ich hätte Sie deutlich jünger ge­schätzt.

      Sie winkte ab.

      Ach, das kenne ich. An der Uni hat man das auch immer gesagt. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?

      Nein, nein. An der Uni? Was haben Sie denn studiert?

      Ich habe einen Master in Informatik und Kriminologie.

      Was Informatik ist, kann ich mir so vage vorstellen, aber was ist Kriminologie?

      Sie hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und lächelte verschmitzt.

      Na ja, das habe ich die letzten Jahre auch versucht zu begreifen. Sagen wir so: Ich habe etwas über Untersuchungsmethoden und Verhaltensweisen von Verbrechern gelernt.

      Michel hob seine Augenbrauen.

      Ach ja. Interessant. Sind Sie denn schon einmal einem Verbre­cher begegnet?

      Sie lachte.

      Sie meinen in freier Wildbahn? Nein, noch nie. Zum Glück.

      Michel nickte.

      Das habe ich mir gedacht. Das heißt, Sie wollen jetzt das praktische Leben kennenlernen.

      Ja genau. Fangen wir an? Ich habe gehört, dass wir seit heute Morgen einen neuen Fall haben.

      Sie blickte ihn hoffnungsvoll an.

      Michel wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte sie eben wir ge­sagt?

      Hm. Was mach ich nur mit Ihnen?

      Er reichte ihr die Akte, die er gerade angefangen hatte zu lesen.

      Da! Studieren Sie die Akte. Ich bin gleich –

      Lena Steiner unterbrach ihn.

      Entschuldigung, aber die habe ich ja für Sie zusammengestellt.

      Michel starrte sie hilflos an. Dann gab er sich einen Ruck.

      Gut. Dann begleiten Sie mich in Gottes Namen.

      Sie schlüpfte in den Mantel und strahlte ihn mit großen Augen an.

      Wohin gehen wir?

      Wir besuchen die Frau des Toten.

      vier

      Warum haben wir uns nicht telefonisch angemeldet?

      Lena fragte es flüsternd.

      Sie standen schon eine gefühlte Ewigkeit vor dem grünen Eingangstor der Wyttenbach-Villa.

      In so einer Situation ist es besser, unangemeldet zu kommen.

      Warum?

      Weil, äh … –

      Jetzt knackte es in der Gegensprechanlage.

      – das erkläre ich Ihnen später.

      Es meldete sich eine dunkle Frauenstimme und fragte nach Name und Begehr.

      Sie verwendete tatsächlich das Wort Begehr.

      Michel gab seinen Namen und diesmal auch die korrekte Be­zeichnung seiner Abteilung durch.

      In dem Lautsprecher knackte und rauschte es, aber nichts ge­schah. Lena trat vor Aufregung von einem Bein aufs andere.

      Endlich ging die Türe auf. Sie traten ein und schlossen das schwere Eingangstor. Ein verschlungener Weg führte durch einen ziemlich verwachsenen, parkähnlichen Garten. Der Weg münde­te in einen Kiesplatz vor einer dreistöckigen alten Villa.

      Lena blieb stehen.

      Aha, so kann man also auch wohnen, nicht schlecht. Und das mitten in der Stadt.

      Michel nickte grimmig.

      Mit einem Messer im Rücken hat man nichts mehr davon.

      In diesem Augenblick öffnete sich die schwere Eingangstür. In der Tür erschien mit schwerfälligen Schritten eine Frau, die sich auf einen Stock stützte. Ihre Haare, die leicht fettig wirkten, waren nachlässig zu einer Art Dutt zurückgebunden. Ihr Gesicht war aufgedunsen, als ob sie starke Medikamente nehmen musste.

      Wer sind Sie? Was wollen Sie?

      Michel trat näher, stellte sich vor und zeigte seine Dienstmarke.

      Und was wollen Sie denn hier?

      In ihrem Tonfall schwang deutlich die Botschaft mit, dass sie in einer Sphäre lebte, die mit der Welt der Polizei rein gar nichts zu tun hatte. Allein das Auftauchen Michels schien für sie ein gesellschaftlicher Fauxpas zu sein.

      Bevor Michel antworten konnte, zeigte sie mit dem Stock auf Lena.

      Und was ist das?

      Michel ignorierte ihre Frage.

      Sind Sie Frau Beckmann?

      Sie lachte rau auf.

      Wer soll ich sonst sein?

      Wissen Sie, wo ihr Mann ist?

      Wieso wollen Sie das wissen?

      Dürfen wir reinkommen? Das ist meine Assistentin Frau Steiner. Es gibt eine sehr ernste Situation, die wir nicht gerne hier draußen besprechen würden.

      Sie schaute einen Moment mürrisch auf den silbernen Knauf ihres Stocks, entschloss sich dann aber doch, sie reinzulassen. Sie führte sie in einen hell gestrichenen Salon im Erdgeschoss.

      Sie nahmen an einem großen ovalen Tisch Platz. Frau Beckmann behielt ihren Stock in der Hand. Sie blickte Michel herausfordernd an. Er ließ sich Zeit und blickte sich im Raum um.

      Hinter dem Tisch erweiterte sich der Salon zu einer Art Wintergarten. Dort stand ein imposanter Flügel. Er war von einer Art Go­belindecke zugedeckt. Man hatte nicht den Eindruck, dass er jeden Tag bespielt wurde. Auf dem Flügel standen eine ganze Reihe von Fotos in silbernen Rahmen. Michel erhob sich, ging ein paar Schritte zum Flügel und deutete auf das Foto, das eindeutig Karl Beckmann zeigte. Etwas jünger und in einem tadellos sitzenden schwarzen Anzug.

      Ist das Ihr Mann?

      Sie nickte.

      Verraten Sie mir endlich, was Sie wollen.

      Michel setzte sich wieder auf seinen Stuhl, griff sich eines seiner Tücher aus der Manteltasche und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Frau Beckmann beobachtete den Vorgang mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.

      Wir kommen mit einer schlechten Nachricht. Ihr Mann ist heute Morgen tot aufgefunden worden.

      Frau Beckmann starrte ihn an, der angewiderte Gesichtsausdruck verhärtete sich jetzt