Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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auch Fred nach dem Hut und erklärte schmunzelnd, er gedenke morgen ebenfalls zu schießen und werde jetzt mit Christian heimgehen. Da stand Martha auf. «Ach, dann komm’ ich auch grad mit, die Mutter ist so allein zu Hause», sagte sie unverfänglich, mit kaum merkbarem Erröten. Nach erneuten Protesten und nutzlosen Verhandlungen trennte sich die kleine Gesellschaft. Lisi und der Vater blieben mit ihren Bekannten in der Hütte, Christian, Fred und Martha wanderten durch die besternte warme Nacht dem Rusgrund zu.

      Am nächsten Morgen betrat Fred wirklich in aller Frühe mit Christian den Schießstand, und wenn er vorerst auch nicht selber ein Gewehr in die Hand zu nehmen gedachte, so wollte er doch die Schützen an der Arbeit sehen. Das Feuer war um sechs Uhr eröffnet worden, die Schüsse dröhnten schon auf der ganzen Front. Christian strich neugierig den Gewehrrechen entlang und machte Fred bald auf einen festen, rotnackigen Mann aufmerksam, der im Begriffe war, auf einer Stichscheibe ein hohes Resultat zu erzielen. Die Stichscheiben, erfuhr Fred, besaßen ein in hundert Kreise eingeteiltes rundes Trefferfeld von einem Meter Durchmesser. Auf diese Scheiben schoß man die «Kunst» mit fünf, das «Glück» mit zwei und den «Nachdoppel» mit beliebig vielen Schüssen. Die Prämien wurden gesondert in jeder Kategorie durch die Rangordnung bestimmt. Der Warnerknabe nun, der durch einen Druck auf den Läutknopf dem Zeiger den erfolgten Schuß zu melden hatte, stempelte diesem Schützen soeben unter «Kunst» die Punktzahl 92 ins Büchlein. Es war der vierte Schuß, die drei vorhergehenden zählten 87, 96, 83. Der Schütze zielte wieder. Er lag auf die Ellbogen gestützt, den Hut über dem rechten Ohr, das Gewehr im Anschlag, und zielte wohl eine halbe Minute lang, dann legte er, ohne den Schuß gelöst zu haben, atemholend das Gewehr nieder, um es nach kurzer Ruhe abermals anzuschlagen. Dasselbe wiederholte er noch zweimal, dann wandte er sich, den Kopf schüttelnd, nach einem Kameraden um, und Fred sah sein robustes, vor Anspannung gerötetes Gesicht, das zu lächeln versuchte und es nicht fertig brachte. Der Kamerad beruhigte ihn mit betonter Gelassenheit: «Wart nur, Köbi, du hast Zeit genug!» Der Schütze wandte sich wieder der Scheibe zu, zielte aber noch nicht, sondern senkte wartend und wie erschöpft den Kopf.

      «Er hat Fieber», flüsterte Christian seinem belustigten Vetter zu. «Wenn ihm dieser letzte Schuß noch gelingt, dann hat er ein Bombenresultat, er könnte in den ersten Rang kommen. Das weiß er, und darum tanzt ihm jetzt schon alles vor den Augen. Es gelingt ihm nicht, du wirst sehen! Das kommt sehr oft vor.»

      Inzwischen sammelten sich hinter dem Schützen immer mehr Neugierige an, jeder Hinzutretende suchte zu ergründen, was hier vorging, und blieb, wenn er es erfahren hatte, gespannt in der Nähe stehen. Fred, der seinen Platz am Gewehrrechen mit einiger Mühe behauptete, blickte bald auf den nach Selbstbeherrschung ringenden Schützen, bald auf dessen Nachbarn zur Rechten, den er für einen Regierungsrat oder sonst einen hohen Beamten hielt. Dieser ergraute, eindrucksvolle Mann schoß mit seinem Privatgewehr, einem Stutzer, in sehr gerader Haltung erhobenen Hauptes kniend den «Nachdoppel», er löste einen Schuß nach dem andern, blies nach jedem mit gespitzten Lippen sorgfältig den Rauch aus dem Lauf und schielte dabei durch seinen schiefen Klemmer nach der Scheibe, wo die Kelle einen mittelmäßigen Treffer zeigte, dann schob er eine neue Patrone ins Lager, schlug den Stutzer feierlich an, zielte wieder und schoß, alles mit einer unvergleichlich würdigen Ruhe, die zum Fieber seines ringenden Nachbarn im stärksten Gegensatze stand. Noch weiter rechts bemerkte Fred einen liegenden jüngern Mann, der heftig den Gewehrverschluß zurückriß, mit einem grimmigen Ausdruck seines scharfgeschnittenen Gesichtes nach der Scheibe starrte und plötzlich, den Verschluß mit Wucht zustoßend, ehrlich erzürnt ausrief: «Lueg, jetzt isch der Stärnechaib wieder z’höch!» Im selben Augenblick krachte vor Fred endlich der fünfte Schuß des Fiebermannes, eine kurze Bewegung ging durch die Schar der Zuschauer, dann blickten alle gespannt und still auf die Scheibe. Die Zeigerkelle erschien eine Hand breit neben dem Schwarzen, der Schuß zählte 61 Punkte und war nicht geradezu schlecht, drückte aber doch das gesamte Ergebnis auf eine kaum mehr auffällige Punktzahl herab. «Schade!» sagte der Kamerad bedauernd. Die Zuschauer entfernten sich schweigend. Der Schütze, noch immer rot im Gesicht, unterzeichnete das Resultat, dann winkte er, alle Schuld sich selber zuschiebend, mit der Rechten verächtlich ab und trat zurück. Er hatte das bescheidene Glück, das da endlich auf ihn zugekommen war, aus mangelnder Beherrschung mit dem letzten schwächlichen Zugriff verscherzt und tauchte in der Masse der unbekannten Schützen namenlos wieder unter.

      Fred ging, da er Christian nirgends mehr erblickte, langsam durch den Stand, wobei ihm auffiel, wie viele bejahrte und gesetzte Männer sich unter den Schützen befanden, welch soliden Eindruck auch die jüngern erweckten, was für prächtige Köpfe hier auftauchten und wie ansteckend ernst, sachlich, gesammelt fast alle Gesichter erschienen. Fred fühlte sich wirklich angesteckt, ja schon verlockt, seine eigene Tüchtigkeit auf die Probe zu stellen und den Versuch mit der Waffe zu wagen; jedenfalls begann er, statt mit belustigter Neugier ziellos herumzuschweifen, nun auch eine beschäftigte Miene zur Schau zu tragen. Er wollte hier doch lieber nicht als Außenseiter gelten. In diesem Zustand begegnete er dreimal einem Schützen, dessen Anblick ihn sonst erheitert hätte; jetzt verbot er sich geradezu, ihn wunderlich zu finden. Dieser Mann, eine hohe, kahlköpfige Gestalt im grauen Überhemd, hatte sich eine Schießbrille in die Stirn geschoben und wanderte, die Hände auf dem Rücken, den Kopf ein wenig gesenkt, in tiefes Sinnen versunken immerzu auf und ab, wobei er den im Wege stehenden Schützen auswich, ohne sie eines Blickes zu würdigen und ohne auch nur einen Augenblick seinen regelmäßigen Gang zu unterbrechen.

      Im äußersten rechten Flügel entdeckte Fred plötzlich seinen Vetter, wie er stehend die Waffe anschlug und zu zielen begann. Sogleich trat er hinter den Gewehrrechen, beugte sich gespannt über den Warnerknaben und sah im Büchlein, daß Christian eine Meisterschaftsserie begonnen und in sechs Schüssen drei Nummern geschossen hatte. «Erst drei Nummern!» dachte er enttäuscht und bedauernd. «Das genügt ja nicht, er muß doch stehend mindestens sechs bis sieben Nummern haben.» In dieser Serie, die man dreimal schießen durfte, wurden je zehn Schüsse stehend, kniend und liegend verlangt. Wem in diesen dreißig Schüssen fünfundzwanzig Treffer in ein Rund von 37 Zentimeter Durchmesser gelangen, fünfundzwanzig Nummern eben, dem wurde der Meistertitel verliehen. Dies hatte Fred von seinem Vetter erfahren, aber erst jetzt trat ihm das Schwierige, ja scheinbar Hoffnungslose des Unternehmens vor Augen. Das Nummernfeld war ja nicht größer als ein Strohhut, und wer wollte denn auf 300 Meter Entfernung unter solchen Bedingungen fünfundzwanzigmal einen Strohhut treffen!

      Er trat etwas zur Seite und beobachtete mit herzlicher Anteilnahme, wie nun auch Christian, Atem holend, das Zielen unterbrach, aber gleich darauf das Gewehr wieder anschlug, indem er es leicht emporwarf, als ob er in die Luft schießen wollte, wie er den Kolben fest an die Schulter zog und den linken Ellbogen auf die Hüfte stützte, wie er mit den Füßen suchend noch einmal den sichersten Halt ermittelte und endlich zu zielen begann, mit einem so finster gespannten Ausdruck seines ohnehin mürrischen Gesichtes, wie Fred ihn noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Der Schuß fiel und traf die Nummer, aber die letzten drei Schüsse fehlten sie wieder. Christian unterzeichnete das Resultat und trat mit seiner gewohnten gleichmütigen Miene, die durch keinen Zug den Mißerfolg verriet, zu seinem neugierig wartenden Vetter. «Willst du nicht auch schießen?» fragte er. «Du kannst beim Büchser ein Gewehr mieten.»

      «Ja, ich habe daran gedacht», antwortete Fred, als ob weiter nichts dabei wäre; als aber Christian sich sogleich anschickte, ihm bei den erforderlichen Schritten zu helfen, überkam ihn schon eine leichte Erregung. Er mietete ein Ordonnanzgewehr, kaufte Patronen und bestellte ein Schießbüchlein mit Marken für die «Kunst», das «Glück» und die Übungsscheibe «Kehr». Etwas verwundert stellte er fest, daß ihn dieser bescheidene Anfang rund zwanzig Franken kostete, und daß bei diesem patriotischen Wettkampf also wohl nicht nur die Ehre, sondern auch der für manchen Schützen beträchtliche Einsatz erregend im Spiel stehen müsse. Er stellte das Gewehr dort, wo er schießen wollte, in den Rechen.

      Er mußte eine Viertelstunde warten, um an die Reihe zu kommen, und während dieser Viertelstunde nahm seine Erregung langsam zu. «Was für ein Blödsinn!» sagte er sich. «So werde ich nichts treffen, das ist doch klar. Warum rege ich mich eigentlich auf? Die ganze Geschichte ist ja nicht der Rede wert.» Dies suchte er sich einzureden, aber der dunkle Antrieb seines scheinbar harmlosen Unternehmens verlor den Stachel nicht. Im Grunde beherrschte ihn doch der merkwürdige Ehrgeiz, im Hinblick