Terra matta. Alberto Nessi

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Название Terra matta
Автор произведения Alberto Nessi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550464



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Soldaten Order, ihn ins Gefängnis von Mendrisio zu bringen. Er aber hatte auf Ferrari geschossen, weil er einer war, den er nur zu gut kannte, den da – einer von der Bande vom Monte Bisbino, der vor Jahren seinen Vater hatte töten wollen, der da!

      Also intervenierten die bewaffneten Patrioten, die Verteidiger der liberalen Revolution von 1830:

      «Recht hatte er, auf ihn zu schiessen, auf diesen Schwar­zen!»

      «Lasst ihn laufen. Er ist einer von uns!»

      In diesem Augenblick, so erklärte der Bürgermeister von Morbio während des Prozesses, der erst gut fünf Jahre nach der Tat stattfand – so funktionierte die Rechtsprechung von Republik und Kanton Tessin –, in diesem Augenblick erschien der Pfarrer des Dorfes, etwas verrückt und fast ständig betrunken, und rief auf Deutsch: «Raus!»

      Die Soldaten, die dieses «Raus!» als Alarmruf missdeuteten, wollten sogleich auf den Reaktionär schiessen, und um sie davon abzuhalten, liess der Hauptmann Antonio Pagani los, der sich mit seinem Bruder in Richtung heimatliche Kastanienbäume verdrückte.

      2

      In jenem gärenden und elenden Mendrisiotto, wo die Bauern, grossenteils Analphabeten, in Pacht auf den Gütern der Herren arbeiteten, wo die Steinmetze und Maurer in die Lombardei und den Piemont auswanderten, um dort während der Saison zu arbeiten, während die Frauen sich in Haus und Feld und in der Spinnerei abrackerten, in diesem Mendrisiotto, wo jedes Jahr neunzig unehelich Geborene auf die Schwellen von Kirchen und Klöster hingelegt wurden und dort die Krätze auflasen, nur um darauf zu warten, ob jemand sie hinüberschmuggle auf die andere Seite der Grenze in ein Krankenhaus, wo sie, kaum geboren, starben, da also hatte sich Luigi Pagani, genannt Mattirolo, den Ruf eines Verteidigers der Armen erworben.

      Er und sein Bruder Antonio wohnten in einem Häus­chen, versteckt im Wald über Vacallo, ein Auge in Italien und eines in der Schweiz. Mit dem italienischen Auge sah Mattirolo dort unten die Papierfabriken von Maslianico längs der Breggia, und oben, auf halber Höhe, Piazza und Rovenna, die Dörfer seiner Schmuggler- und Waldarbeiterfreunde. Mit dem schweizerischen Auge sah er das weite Grün der Hügel des Mendrisiotto und das Braunrosa der Dörfer.

      Auch auf der hiesigen Seite kannte er alle: Besitzer, Patrizier, Pächter, arme Hutzelweiblein, Schmarotzer, die von Dorf zu Dorf die Runde machten und die niemand haben wollte.

      Genau unter seinem Kirschbaum konnte er den Kirchturm von Vacallo mit dem eisernen Fähnchen auf der Spitze sehen; er nehme es zuweilen ins Visier seines Gewehrs, hiess es. Er sah die Villa des Bürgermeisters, die Behausungen der Maurer, wie er einer war, der Spinnereiarbeiterinnen, ferner das Brücklein, das den Palast der Adeligen mit dem Garten verband, in dem an den Sommernachmittagen der Bischof von Como, der da in der Sommerfrische weilte, unter der Pergola spazieren ging, die kleine Schule, wo der Lehrer die «Erbauliche Lektüre für die Kinder vom Lande» des Abts Antonio Fontana vor­las.

      Wenn er unter dem Fenster der Schule vorbeikam, kon­n­te es passieren, dass er die Stimme eines Kindes vernahm, das Silbe für Silbe die Ermahnung an all die, welche Landbau treiben und sich beklagen, buchstabierte: «Zufolge der Sünde des Menschen wurde die Erde vom Herrn verflucht, weshalb es grosser und unablässiger Mühe bedarf, damit sie nicht unfruchtbar wird und Drang­sal und Dornen hervorbringt», oder etwa den Leitsatz Nummer 24: «Der Arme, der böse ist, verdient, getadelt zu werden», oder der 25.: «Der stolze Arme ist unerträglich für alle und allen verhasst». Also musste aus Sicht jenes Abtes und all jener, die in dem von einem weissen Pferd­chen gezogenen Wagen fuhren, der arme Mann für andere rackern und an pellagra erkranken und ausserdem lieb sein und Gott danken dafür, dass er auf der Welt war und nicht als Kind schon starb. Er durfte sich niemals beklagen, nie den Kopf erheben, sonst liefe er Gefahr, so zu enden wie Paoletto aus der ersten «Kleinen Geschichte» der «Er­bau­lichen Lektüre».

      Dieser Paoletto nämlich, von seinem Vater ausgeschickt, das Vieh auf der Weide zu hüten, begab sich auf die nahe Strasse, um mit Nüssen zu spielen. Er überliess die Ochsen einfach sich selbst auf der Weide, während sein braver Bruder die Schafe im Auge behielt und gleichzeitig die abc-Fibel aus der Tasche zog, um keine Zeit zu verlieren, und ganz alleine lernte. Filippino war gewaschen, gekämmt, herausgeputzt, und in der Schule war er mäus­chenstill und sass wie ein Engelchen auf dem Ehrenbänkchen, und bei den Prüfungen bekam er eine Auszeichnung. Paoletto, schmutzig und mit Haaren wie ein Dorn­busch, warf den alten Leuten Steine nach, konnte weder Kirsche noch Pfirsich, weder Birne noch Nuss sehen, ohne sie zu pflücken. Er prügelte das Engelchen; anstatt zu arbeiten, fing er Eidechsen und Grillen. In der Schule bekleckste er den Kleinen Katechismus mit Tinte und liess die Bank knarren. Am Schwarzen Brett war er unter den Nachlässigen aufgeführt, er wurde aufs Schandbänklein verwiesen und musste seine Strafe mitten in der Schule und stehend verbüssen – doch alles nützte nichts: eines Tages schlug er einen seiner Kameraden zusammen und wurde von der Schule verwiesen. Ein kurzes Achselzucken bei der Strafpredigt des Vaters, zwei Brote, die er heimlich mitlaufen liess, und weg war er in der weiten Welt, ein Vagabund auf gut Glück; so liess er Filippino in Tränen zurück.

      Mit Betteln und Stehlen fing er an, und zum Schluss überfiel er Reisende auf der Strasse, bis der lange Arm der Gerechtigkeit ihn auf frischer Tat ertappte und zum Tode verurteilte: aufgeknüpft an einem Baum am Strassenrand!

      Doch wer nicht das Glück gehabt hatte, die Schule zu besuchen und sich dort die «Kleinen Geschichten» des Abts Fontana zu Gemüte zu führen und sich zu bemühen, dem braven Filippino nachzueifern, welcher Jahr für Jahr den ersten Preis gewann und sich mit grösstem Fleiss der Pflege der Fluren hingab und so das Land in einen Garten verwandelte – wer weder Land noch wollige Schafe noch milchtragende Kühe hatte, sondern nur die eigenen Kinder und den eigenen Hunger, wer nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand, der ging, statt sein Unglück einfach hinzunehmen, zu Mattirolo, der, die Doppelflinte geschultert und die Pistole im Hüftgurt, einem der Herren der Umgebung ein Besüchlein abstattete und diesem mit angelegter Waffe befahl, einen Sack mit Mehl zu füllen.

      Die Reichen liessen den Mais und das Korn fahren und schwiegen dazu, denn sonst – ein Flintenschuss des Mattirolo, und nicht einmal der Bischof von Como hätte sie davor bewahren können.

      Am ersten Tag der Fastenzeit im Jahre 1847 machte sich Mattirolo auf nach Mendrisio, auf Wegen, die quer durch die noch verschlafenen Felder liefen. Es war ein heller Morgen; die Äste glänzten kahl in der Landschaft.

      Er war 34 Jahre alt, trug ein Gewand aus Barchent, hatte einen raschen Schritt und den Kopf voller Aufruhr: eh die Natur erwacht, ist es am Menschen aufzuwachen, grübelte er, aufzuwachen aus seiner Tatenlosigkeit.

      Tags zuvor hatten sie die Grenze geschlossen vorgefunden, er und seine Gefährten, Maurer aus Vacallo und Sagno, die in jenen Wintermonaten in der Villa des Grafen Bellinzaghi in Cernobbio arbeiteten:

      «Kein Durchlass!»

      «Was heisst da: Kein Durchlass?»

      «Geht doch und fragt eure Regierung, die die Revoluzzer beschützt!»

      «Aber es ist doch Zahltag!»

      «Wir haben Order, euch zurückzuweisen.»

      Die Bauleute blicken zu Mattirolo. Er ist das Haupt der Gruppe und hat vor niemandem Angst. Alle erinnern sich, dass er vor einer Woche einen uniformierten Sprenzling den Abhang hinunterrollen liess, der ihm nicht aufs Wort glaubte und ihn durchsuchen wollte, um zu schauen, ob das, was er unter dem Mantel trug, wirklich ein panettone sei. Aber hier trifft diesen Grenzwächter tatsächlich keine Schuld. Es sind die Österreicher, die es dem Kanton Tessin heimzahlen wollen, und zwar ausgerechnet in den Hungermonaten.

      Mattirolo dachte, als er an jenem Morgen durch die kahlen Reben ging, an Szenen zurück, wie er sie in der Lombardei gesehen hatte: geplünderte Ladungen, vom Volk überfallene Brotbäckereien.

      Nicht ein Scheffel Mais gelangte nunmehr in den Kanton Tessin, an der Grenze standen Soldaten, und die, die vorher hinübergingen, um Polenta und Reis zu kaufen, assen jetzt Kleiebrot: Die Letzten beissen immer die Hunde. Er schritt rasch aus, und jeder Schritt war ein Mann, der sich der Bande anschloss: Fasola trommelt die Männer aus Balerna und Coldrerio