Nächste Woche, vielleicht. Alberto Nessi

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Название Nächste Woche, vielleicht
Автор произведения Alberto Nessi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550440



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er habe sich hinuntergestürzt, weil seine Frau mit einem Schnitter Heu in den Schuppen einbrachte. Das ist meine erste Erinnerung: die Eimerchen mit dem Blut von PínSelig, der in dem rumpelnd auf dem Saumpfad daherkommenden hochwandigen Karren liegt. Im Vorübergehen hoben wir das Leintuch und betrachteten das wächserne Gesicht. Und einer neben mir sagte voller Schrecken: «Wenn sein Mund offengeblieben ist, bedeutet es, dass er jemanden aus dem Dorf zu sich rufen will …»

      Als Kinder spielten wir Verstecken, «Hunde und Hase». Oder «Siegestor»: Das Tor bildeten die Arme zweier Mädchen, die Himmel und Hölle darstellten; einmal ging auch ich unter diesem Triumphbogen durch.

      Manchmal versteckte ich mich in der Erlöserkirche, um die Gesichter der Sünder zu betrachten: Der Pfarrer schickt sie in die Hölle, die Sünder, und lässt sie auf ewig in den Flammen schmoren. Ich aber wollte sehen, was für Gesichter sie hatten. Gern wäre ich in die Rolle des Beichtvaters geschlüpft: Man lernt, die Stimme des Pfarrers nachzuahmen, versteckt sich im Beichtstuhl und lässt sich die Sünden erzählen. Gern hätte ich unter den Röcken der beichtenden Frauen Zuflucht gesucht. Oder unter dem Mädchen, der ich im Winter half, mit einem Stein das Eis zu brechen auf dem großen, am Dorfrand neu gebauten Waschtrog mit den Säulen. Im Frühling sah ich ihr gern zu, wenn sie Wäsche wusch. Sie sang beim Waschen. Ihre Stimme war silberhell, aber sonntags in der Kirche vernahm ich sie nie, denn in der Kirche singen nur die Männer; Eva, die aus einer Rippe Adams gemacht ist, muss still in ihrer Bank sitzen. Doch am Waschtrog sang das Mädchen.

      Eines Tages näherte ich mich. Sie war allein und bat mich, ihr beim Auswringen zu helfen. Mit der Hand streifte ich ihre Schürze und fühlte die Wärme ihres Busens, und sie schaute mich etwa so an, wie sie eine Anemone anschauen könnte, deren Blüte sich gerade öffnet. Das Wasser daneben lachte.

      Seit jenem Tag fühlte ich die Wärme der Frau in allen Dingen der Natur. Ich stellte sie mir auf meinen Streifzügen zum Vogelfängerturm vor und verglich sie mit den Federn der Zugvögel, die sich in den zwischen den Bäumen gespannten Netzen verfingen, wenn der Landpfarrer, ein großer Vogelsteller, die Adlerattrappe durchs Turmfensterchen herunterwarf. Und ich spürte jene Wärme auch in den grünen Hängen, die ich vor dem Haus sah. Ich wurde zur Eberesche, die gerade die ersten Blätter bekommt. Ich wurde etwas anderes. Ist das die Liebe, von der ich vage reden hörte, und immer so, als hätte sie etwas mit der Madonna und den Heiligen zu tun? Oder ist die Liebe der Stier auf der festgebundenen Kuh?

      Vor dem Einschlafen sah ich das Mädchen vom Waschtrog wieder vor mir, wie sie sich für das Dorffest die Haarnadeln in den Knoten steckt.

      Auf einem Steinsitz vor dem Haus lauschte ich den Geschich­ten der Großen, während die Fledermäuse, halb Mäuse, halb Vögel, in der Abenddämmerung Ballette aufführten. Ich übte meine Vorstellungskraft. Ich hörte von einem, der das Hydroskop erfunden hat, um den Meeresgrund zu erforschen. Oder die Geschichte des Kupferstichverkäufers Anselmo, der um die ganze Welt gereist ist. Oder die Sache mit den Geistertänzen in Cetto, ein paar Bauernhäusern unten in einem tiefen Tal, wo nie die Sonne hinkommt: Diese berüchtigten Geister bringen den Kerzenleuchter auf dem Tisch und den Kochlöffel im Kessel zum Tanzen, und dann fällt der Putz von der Decke, die Teufel und die Töpfe fangen zu tanzen an, und man sagt, das sind die Seelen, die Hilfe brauchen.

      Ich träumte von diesen Seelen. Sie kämpften mit der Lehrerin der Novelletten, die wir in der Schule lasen. In der Welt herrscht ein Kampf zwischen den Verdammten und den Engeln, zwischen Gut und Böse. Und ich fragte mich, warum mein Vater gestorben war: Hatte das Käuzchen ihn sterben lassen?

      Mein Vater. Fahl sehe ich ihn wieder auf dem großen Bett in dem Zimmer liegen, wo die Fledermäuse Spuren ihrer Raubzüge hinterlassen haben. Der Pfarrer und der Minis­trant mit dem Weihwasserwedel. Lateinische Worte murmelnd, gibt der Pfarrer ihm die letzte Ölung, taucht den Finger ins Öl und salbt meinem Vater Augen, Brust, Mund, Hände und Fußsohlen. Und dann sehe ich ihn, wie er da ruht, mit der brennenden Kerze auf dem Nachttisch. Und danach zündet Mama drei Tage lang den Herd nicht an, damit das Feuer nicht die Seele meines verstorbenen Vaters verbrennt.

      Der Tod färbt alles schwarz wie Ruß, wie der Priesterrock. Er legt sich über die Bäume im Wald, wenn der Abend kommt und der magere Fuchs sich den Häusern nähert. Alle Bäume haben eine Seele. Und ein Gesicht. Weißes Gesicht, schwarzes Gesicht. Im Winter liegen tote Insekten unterm Schnee, die Seele der Bäume reist durch unterirdische Tunnel und besucht die Seelen der Toten, auch die von PínSelig, die in dem Steinhaufen geblieben ist.

      Wenn ein Kind starb, läutete man im Dorf festlich die Glocken, weil das Engelchen die himmlischen Heerscharen verstärkte: Jenen Bub aber, der nach dem Ave-Maria das Haus verlassen hatte, um die Ziegen zu rufen, sich aber nicht bekreuzigte, den hatten die bösen Geister hinuntergelockt in die Crotta, um die Ziegen zu rufen bis in alle Ewigkeit.

      Es gab ein paar Seelen, die auf den Pfaden einen Ausweg suchten. Mir war, als erkennte ich sie, wenn ich manchmal gegen Abend am Fenster das rote Licht der untergehenden Sonne zwischen den Buckeln der Täler betrachtete. In Form leichter Wolken sah ich von dort oben die Seelen umher­irren. Und die Hügel in der Ebene erschienen mir wie die Wellen, aus denen die Seeleute den Anker gelichtet hatten, um in die Welt hinauszufahren. Wenn man die Ohren spitzte, konnte man das Schiff tuten hören, das Onkel Lorenzo nach Brasilien und Uruguay gebracht hatte. Wann würde der Frachter für mich tuten? Ich stellte mir vor, ich würde davonfliegen wie ein Luftwesen, ein Zaunkönig: Ich bin der Herr des Universums, und die Flügel tragen mich mühelos, wohin ich will. Der Bass des Wildbachs wird zu einem der Walzer, die man zu Karneval hört, und im Flug kann ich von oben Berto Crapún sehen, der auf dem Kirchvorplatz seinen großen Kopf baumeln lässt zum Gruß. Ciao, Berto, ciao, heiliger Georg, ich gehe den Düs töten.

      Von den Geschichten, die man sich in den Ställen erzählte, fand ich die von dem Soldaten lustig, der im Dienst extra in die Hose gemacht hatte, um ausgemustert zu werden, und der dann auf der Piazza seine Uniform angezündet hatte. Und beeindruckt war ich von der Tat des Banditen, die eine Hand im «Totenbuch» der Sakristei in Bruzella verewigt hat­te: «Der hochehrwürdige Don Michele wurde am 2. Juli in seinem Pfarrhaus von der mörderischen Flinte des Luigi Pagani, genannt ‹Mattireu›, aus Vacallo getroffen. Grund war die Energie, die der Pfarrer gegen den Liberalismus entfaltete. Und fast, als wäre man zu Zeiten der Schreckensherrschaft, wurde er nicht einmal begraben.» Mir hatte der Pferdehüter davon erzählt, einer, der sich denen anschloss, die Revolution machten, und der auf der Wange eine Narbe hatte.

      Verstehen wir uns recht, die Revolution hatte nichts mit Marx und Proudhon oder mit meinem Freund Antero zu tun: Es bedeutete, den Freiheitsbaum aufzurichten mit dem Hut von Wilhelm Tell auf der Spitze. Oder mit der Sichel am Gürtel loszuziehen, um gegen die Regierung anzuschreien. Es bedeutete Carabinieri gegen Bersaglieri, Liberale gegen «uregiatt», diese Reaktionäre und Frömmler, die lange Haarbüschel hinter den Ohren haben und an den Türen horchen. In meinem Tal waren fast alle «uregiatt»; und wer die Partei verriet, bekam einen Presssack mit Menschenscheiße drin zum Geschenk.

      Mich beeindruckten die Einzelheiten: die Lanze des Heiligen, der Schlund des Drachen, das Tüchlein der Madonna, der Presssack aus Scheiße, das Hinkebein des Jungen, der eine rostige Flinte geklaut hatte, um dem Pferdehüter in den Getreidefeldzug zu folgen. Ich sah den Krüppel und wurde selbst Krüppel. Vielleicht ist damals, in den Ställen der Kindheit, mein Lahmen entstanden. Sich lahm fühlen mit den Lahmen, Stotterer mit den Stotterern, elend mit den Elenden.

      Aus meinem Dorf bleibt mir noch das Rascheln der Blätter in Erinnerung, wenn die Seidenraupen daran knabberten, die ich manchmal anschauen ging in einem Haus, wo es eine Seidenraupenzucht gab, und mir war, als hörte ich den Regen auf den Dächern. Die Stimmen der Frauen, «gsch gsch gsch», von einer Seite des engen Tals zur anderen, um die Kühe und Ziegen zu rufen. Der Mistgeruch. Die Schläge der großen Glocke, die das Ende der Weide für das Vieh verkündet und die Kastanienernte einläutet: Wenn nachts der Wind aufkommt, weckt Gesualda mich sehr früh. Der Wind hat seine Arbeit getan, deshalb ist es Zeit, sich das Leinensäckchen an die Taille zu hängen und loszugehen.

      Ich erinnere mich an die Höcker der Kamele, die den Himmel erobern. Napoleons Hut auf dem Berggipfel. Den Mond im Fenster. Den Küchentisch, an dem mein Vater uns am Abend die Briefe seines Bruders aus Uruguay