Nächste Woche, vielleicht. Alberto Nessi

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Название Nächste Woche, vielleicht
Автор произведения Alberto Nessi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550440



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im Casino hat Aufsehen erregt. Die von der «Naçao» haben zurückgeschlagen: Diese Trottel wollen die Welt erneuern! Besserwisser! Schriftgelehrte und Pharisäer! Über Antero sagen sie, dass er den Mantel über den Boden schleift «wie ein elender Jude, ein Erbe der Mörder Christi».

      Wenn es regnet, bleibe ich am Schreibtisch. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich die Buchrücken, die mich anschauen, mich warnen, mir zublinzeln. Don Quijote führt mich mit seinem Gaul zu den Windmühlen.

      Ich blicke durch die Schaufenster und mir scheint, als liefen die Regentropfen über den Spiegel, der in mir ist. Ich bin ein Tropfen: Auch wir fließen wie das Wasser. Das Regenwasser, das die Straßen wäscht. Der Tejo. Zu Hause in der Rua do Monte Olivete sehe ich ihn durchs Fenster glitzern. Die Wassertropfen, die den Fleck in meiner Lunge vergrößern.

      Ich machte mir Sorgen wegen des Vortrags von Eça de Queiroz: Jeder Fuß möchte Flügel sein …

      Ab und zu bin ich Eça abends nach Ladenschluss bei Ba­talha Reis oben im Barrio Alto begegnet, in der Travessado Guarda-Mor. Das ist ein Treffpunkt für uns. Im Licht einer Petroleumlampe habe ich ihn dort gesehen. Eine lange, magere Seele. Mir fiel der Spitzname ein, den sie mir als Junge gegeben hatten: Ich war sehr, sehr mager, und in meinem Dialekt riefen sie mich «Gambadazelar», Selleriestängel. Wir alle, die wir die Welt verändern wollen, sind Selleriestängel. Doch Eça ist außerdem noch elegant, hat Hände wie aus Elfenbein, ein Monokel wie ein Intellektueller, einen dünnen Rohrstock, der einen Sklaventreiber neidisch macht. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und schreibt unermüdlich.

      Ich habe ihn auch in der Bibliothek des Gremio Literario gesehen. Ich las Proudhon, er Gérard de Nerval. Als wir einmal in einer Schänke in Alfama zusammen Bacalhau aßen, hat er mir ein Gedicht von Gérard de Nerval vorgetragen. Ich erinnere mich an den ersten Vers: «Je suis le ténébreux, le veuf, l’inconsolé …»

      Es herrschte Interesse an seinen Worten im Casino-Saal. Scheinbar ist Eça aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Zuhörer, doch er hat einen Muskel im Leib, den die anderen nicht haben. Seine Vornehmheit hat alle beeindruckt: schwar­zer Schnauzer, schwarzes Haar, eine Strähne fiel ihm in die Stirn, die Hände gestikulierten.

      Er hat Proudhons Theorien vorgetragen. Die neue demokratische Kunst: Courbet. Der Künstler muss beobachten können und darf nichts aus seinem Blick ausschließen. Warum Musen und Phantasmagorien malen? Es genügt, den Markt­platz seines Dorfes zu zeigen, seine Gasse.

      «Ihr, die ihr euch anmaßt, Karl den Großen, Cäsar und Jesus Christus persönlich darzustellen, könntet ihr ein Porträt eures Vaters malen?», hat Courbet eines Tages, an die Mitglieder der Akademie gewandt, gefragt.

      Eça hat Proudhon zitiert und seine Beschreibung eines Bildes von Courbet: betrunkene Landpfarrer, die von einer Kon­ferenz mit anschließendem Gelage zurückkehren. Das Bild hatte Anstoß erregt und war von einer in Paris vorgesehenen Ausstellung ausgeschlossen worden.

      Dann hat er ein Loblied auf Gustave Flaubert und dessen «Madame Bovary» gesungen.

      Ich habe lange an den Vortrag gedacht. Ich bin zwar kein Künstler, glaube aber, dass Kunst zur Kenntnis des Menschen und der Welt beiträgt. Der neue Mensch, das Produkt unserer Revolution, wird es verstehen, sich von einem Gemälde rühren zu lassen. Auch von Courbets Steinklopfern im zerlumpten Hemd. Vor allem von ihnen.

      Bei Eças Vortrag fiel mir wieder ein, wie ich mit siebzehn war. Und als ich in meinen Papieren wühlte, fand ich den Zeitungsausschnitt, den ich als Junge im Jura aufgehoben hatte. Davon werde ich ausgehen, für meine Memoiren. Von einem alten Zeitungsausschnitt, seitdem sind beinahe zwanzig Jahre vergangen. Aber ich erinnere mich noch gut. Die Erinnerung ist unsterblich. Die Erinnerung ist ein Vogel, der durch die Zeit fliegt und gegen die Scheiben prallt.

      Ein Vogel, der durch die Zeit fliegt

      Le Locle, 1er août 1857

      «Cherubino Patà, peintre, en passage en cette ville, prévient le public qu’il se charge de faire des portraits à l’huile, de toutes manières et de toutes dimensions. Prix du portrait grandeur naturelle: 20 francs. S’adresser à l’Hôtel de la Couronne ou à l’église catholique.»

      Dieses «grandeur naturelle» hatte mich beeindruckt. Noch nie hatte ich einen Künstler gesehen. Was Gemälde betraf, erinnerte ich mich nur an den heiligen Georg auf dem Pferd in meinem Dorf, das kleine Fresko von der Madonna mit dem Tüchlein und die Exvoto-Täfelchen. Deshalb ging ich an jenem Nachmittag zur «Couronne» und stellte mich unter das eiserne Schild, auf dem die Königskrone glänzte, um von dort durchs Fenster Cherubino zu beobachten, der Porträts malend von Dorf zu Dorf zog. Er kam mir wie ein wahrer Engel vor. Vielleicht sogar ein Erzengel. Kurz, ein göttliches Wesen, das aus dem Nichts etwas erschaffen konnte.

      Le Locle: «loculo», Grabnische, nannten meine Landsleute den Ort. Weil dort eine Grabeskälte herrscht und ein Wind weht, der von dreißig Pfoten gebracht wird, er fährt dir in die Knochen wie Todeskälte. Wind und Raben streifen über die Felder.

      Ich war mit meiner Mama in den Jura gekommen, weil die Gebirgsluft Lungenschwachen guttut. Und was mich als Erstes beeindruckte, waren die Raben. Es sind keine heiteren Vögel: Mein Vater starb, als ich wenige Jahre alt war, dort unten in meinem Tal, und an jenem Tag krächzten die Raben.

      Jetzt diesen Zeitungsausschnitt aus meiner Jugend zu betrachten, kommt mir seltsam vor. Jetzt, da das bedruckte Papier zu meinem Alltagsrauschen geworden ist, höre ich das Schwirren des Vogels, der mir diese Erinnerung bringt. Jeder Flügelschlag ein Tag, der vergeht.

      Damals, als ich den fahrenden Künstler heimlich durch die Scheiben des Hôtel de la Couronne beobachtete, lag mein ganzes Leben noch vor mir. Ich beobachtete jenen Cherub mit seiner schlauen Miene und den zerzausten Locken, genau so, wie ein Maler sein muss. Er bewegte den Pinsel auf der Leinwand, und nach und nach nahmen die Gesichtszüge des vor ihm posierenden Monsieur Le Maire Gestalt an. Stolz stand er da, nachdem er den Zylinder an den Kleiderständer gehängt hatte, mit seinem steifen Kragen, die Hände auf den Spazierstock gestützt; und mir war, als spiegelte sich in den Formen, die sich allmählich auf der Leinwand abzeichneten, auch seine Gattin mit dem Schirmchen und dem weißen Pferd.

      Auf dem Bild waren Frau und Pferd nicht vorhanden. Aber ich sah sie, weil ich von klein auf seherische Augen hatte. Da, das Gesicht des Bürgermeisters, vornehmer als in Wirklichkeit, faltenlos, da, die Nase, freundlich unter dem Pinsel, nun die Krawatte, die Uhrkette auf der Weste, das Wiehern des Pferdes … Lebensgroß. Für zwanzig Franken wird man schön und unsterblich wie der heilige Georg. Wie Wilhelm Tell, unser Held, den die Republikanhänger an jenem Tag auf den Straßen mit Fanfarenstößen feierten.

      Ehrlich gesagt bin ich es gewohnt, Dinge zu sehen, die nicht da sind. Ist Schönheit in dem Bettler an der Ecke der Rua do Chiado? In dem Krebs, der ihm das Gesicht zerfrisst? In der Kaverne, die sich in meiner Lunge gebildet hat? Und doch, wenn ich unterwegs bin, dringt bei jedem Schritt die Schönheit in mich ein, als ließe der Staub der Tage eine feine Leuchtspur zurück. Auf der Straße sehe ich in jeder Bewegung einer Frau die Natürlichkeit, die das Begehren entzündet, der Anblick der Passanten erheitert mich. Mitten im Grau flammt eine Kerze auf, die sagt: «Du könntest glücklich sein …»

      Ich weiß nicht, ob jener Cherubino Patà ein großer Maler ist. Damals jedoch schien er mir der Zauberer und Schöpfer persönlich zu sein. Als der Bürgermeister fort war, bat Cherubino mich, ihm ein wenig Tabak zu holen, und gab mir etwas Kleingeld. Mit schlauem Blick sah er mich unter seinen Locken an. Er war gut gelaunt, hatte Lust zu reden.

      «Hé, mon gars … Was wolltest du da hinter der Scheibe mit diesem Ministrantengesicht? Du hättest doch hereinkommen können, das ist ja nicht verboten.»

      «Mir fehlte der Mut, Monsieur l’artiste.»

      «Ich höre, dass du so ähnlich sprichst wie ich, mon gars. Du hast einen merkwürdigen Akzent. Du bist nicht von hier.»

      «Nein, ich bin nicht von hier. Ich stamme aus einem engen Tal nahe Italien.»

      «Aus einem engen Tal? Hundsgemeine Welt, ich komme aus einem abgeschlossenen Tal, das sie in