Gschwind. Urs Mannhart

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Название Gschwind
Автор произведения Urs Mannhart
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966390408



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die zweite, die kleinere, aber, wie Gschwind findet, klar schönere, seit fast 15 Jahren für ihn, für Rina, für Levin das Zuhause bildet.

      Das Gebäude, umfasst von einem ausladenden Garten mit alten, hohen Bäumen, strahlt eine stolze Behaglichkeit aus. Vielleicht haben sie damals ein bisschen viel bezahlt für das Anwesen, aber seine Rina war vom ersten Augenblick an begeistert, nein, regelrecht verliebt, und die Hypothekarzinsen halten sich erstaunlich tief. Jetzt, in der nur von einem schwachen Mond durchbrochenen Dunkelheit, kann er vom Haus nicht viel mehr erkennen als dessen Umrisse, und hinter dem Gebäude die beiden mächtigen Silberweiden, von denen er immer wieder gerne denkt, dass sie doch sehr würdevoll das alte Bootshaus flankieren. Das Bootshaus, das er noch dieses Jahr renovieren lassen muss, um bei der Steuerbehörde Unterhaltsarbeiten geltend machen zu können.

      Das Haus betretend, sehnt er sich danach, von Rina liebevoll geküsst zu werden, auf den Mund, die Wangen, in den Nacken – und von diesen Liebesportionen beschenkt gleich ins Bett fallen zu können.

      In der Küche findet er niemanden vor, auf dem Küchentisch aber liegen ein Korkenzieher und eine leere Packung sündhaft teurer, in kaltgepresstem Olivenöl gewendeter Biogemüsechips aus violetten, lokal produzierten und angeblich vom Aussterben bedrohten Kartoffeln.

      Schlechte Laune kommt in ihm auf, das vieldiskutierte Artensterben geht ihm auf den Wecker: Solange Menschen hungern, sollte man seiner Meinung nach in erster Linie dafür sorgen, dass alle Arbeit und Geld erhalten, um die weltweite Armut zu bekämpfen. Die Natur könne auch mal eine Nahtoderfahrung durchmachen, ließ Gschwind einmal in einer Diskussion mit Levin verlauten. Levin hatte damals keine Antwort mehr vernehmen lassen; empört hatte er die Küche verlassen. Gschwind erinnert sich daran, als wäre es gestern passiert.

      Aus dem Wintergarten kommend, dringen nun Stimmen bis zu ihm vor; das kann nichts Gutes, das kann nur Besuch bedeuten. Pascal Gschwind bleibt bei der Packung Chips stehen und fragt sich, seit wann seine Frau beruflich derart wenig ausgelastet ist, dass sie abends noch die Energie aufbringt, fremde Leute ins Haus zu lassen. Er ärgert sich, und glaubt, er habe alles Recht dazu. Er kennt keine Gäste, die keine Energie kosten und ihm jetzt noch willkommen wären. Ihre Yoga-Freundinnen können es nicht sein: Alkohol gilt bei denen als Fluchtmittel für achtsamkeitszertrampelnde Ignoranten der Gegenwart.

      Am liebsten würde Pascal nun in den oberen Stock schleichen und sich unbemerkt schlafen legen. Nein, noch lieber würde er seiner Rina unmissverständlich klar machen, dass einer, der so viel arbeitet wie er, auch mal seinen Schlaf braucht.

      Er hört seine Ohren pfeifen; er denkt an Frau Doktor Lepple, er weiß, er muss sich beruhigen. Tief atmet er ein, hält die Luft an, atmet langsam aus und lässt seine Gliedmaßen baumeln. Das wiederholt er drei Mal, unsicher, ob es wirkt.

      Um innerlich Anlauf zu nehmen, stellt er sein Telefon stumm, lässt es in die Ledermappe gleiten, blickt auf seine Patek Philippe, ohne die Uhrzeit wahrzunehmen, und verlässt die Küche Richtung Wintergarten. Als er in der Wohnstube um die Ecke biegt, noch gute zwölf Schritte vom Wintergarten entfernt, erkennt er, dass Rina im geblümten, etwas altmodischen, aber doch sehr gefälligen, ihre schöne Hüfte und den schlanken Bauch gut betonenden Sommerkleid im bequemen Korbsessel sitzt, umgeben von Franziska und Bernhard Ruthenbeck, den Nachbarn, mit denen sie sich angeregt bei einer Flasche Wein unterhält.

      Pascal Gschwind muss sich zusammenreißen, um nicht umzukehren. Wenn es etwas gibt in Oberhofen, mit dem er nichts zu tun haben möchte, dann das dünkelhafte, kulturbeflissene Paar, das Bernhard und Franziska in seinen Augen abgeben. Die beiden nach Jazz stinkenden, knapp fünfzigjährigen Ruthenbecks sind ihm zutiefst unsympathisch, vor allem, weil Bernhard, als Notar, absurd viel Geld allein damit verdient, dass er täglich zwischen neun und fünfzehn Uhr mit einem sündhaft teuren Stift in einem künstlerischen Schwung ein paar läppische Papiere unterzeichnet, während seine knochige Gattin Franziska sich um nichts anderes zu kümmern scheint als darum, nirgends ein Gramm Fett anzusetzen und ihr stets geschminktes Gesicht faltenfrei zu halten. Außerdem steht zu vermuten, dass sich unter ihren Kleidern angesichts aller anderen nicht vorhandenen Kurven ein chirurgisch optimierter Busen abzeichnet. Jedenfalls ist klar: Sie ist bestrebt, ihr Gesicht auch am Ende ihrer Tage so glatt zu halten wie die Oberfläche des Sargs, in dem es zu liegen kommen wird.

      Ehrlicherweise fragt sich Gschwind nun auch, ob die Nachbarn ihm nun derart miese Laune machen, da ihre Anwesenheit ihn daran hindert, Rina zu verführen oder sich bei ihr wenigstens ein paar Zärtlichkeiten abzuholen. Für Bernhard Ruthenbeck empfindet Gschwind immerhin doch auch ein gewisses Mitleid, da sich dieser, obschon kaum fünfzig, angeblich einer Herzoperation hatte unterziehen müssen, die ihn kurz an den Rand des Todes gebracht hat.

      Mit seinem Eintreten in den Wintergarten unterbricht Pascal Gschwind ein Gespräch, das sich offenbar um das wegen zunehmender Flugscham in diesem Jahr wohl nicht stattfindende Weihnachts-Shopping in New York dreht. Aber eine Woche Zermatt sei halt doch ein gutes Stück teurer.

      Der Kuss, mit dem Pascal seine Frau begrüßt, fällt etwas fade aus; auch vermag Pascal nicht zu sagen, ob Rina überhaupt bemerkt, dass er beim Hinsetzen seine Hand kurz an ihre Hüfte legt, dass er ihr diesen Hauch von Zärtlichkeit unbedingt schenken will. Klar ist bloß: Rina genießt ihre Gäste mit vollem Herzen, die Weinflasche ist schon fast leer.

      Gegen seinen Willen lässt sich Pascal auch ein Glas füllen; die Worte, mit denen er sich bedankt, geraten etwas laut. Während er mit den anderen die Gläser zum Klingen bringt, überlegt er, wer wohl den Kauf dieses biodynamischen Weines zu verantworten hat und ob es seine Rina inzwischen auch in Sachen Weinbau für wertvoll hält, überall Schnecken, Käfer und Würmer mitessen zu lassen. In Erwartung eines unerfreulichen Gesprächs sucht Pascal Zuflucht bei einem großen Schluck und versichert sich mit einem flinken Blick auf die Etikette, dass das Gebräu trotz biologischer Herstellung genügend Alkoholprozente aufweist. Von den Biochips mit den violetten Nahtod-Kartoffeln ist offenbar nichts mehr übrig.

      Bernhard wendet sich an Pascal und erklärt ihm, weswegen Franziska und er zu ihnen gekommen sind: Zusammen mit Levin sei ihre Tochter Angelika eine der tragenden Figuren von Back to the Fruits, der ökologischen Schule, die in einer Waldhütte bei Sigriswil ihren Betrieb aufgenommen hat. Auch Angelika habe das Gymnasium geschmissen.

      Pascal versteht weder den wohlwollenden Tonfall, den Bernhard vernehmen lässt, noch erschließt sich ihm, wie sein Nachbar von Betrieb sprechen kann, wenn ein paar Jugendliche, statt die Mittelschule abzuschließen, in einer Waldhütte abhängen.

      Mit einem Blick zu seiner Frau versucht Pascal zu ergründen, wie die über das Desaster denkt. Es will ihm jedoch nicht gelingen, zu Rina einen näheren Kontakt herzustellen; sie geht nicht auf seinen Blick ein, auch gehört ihre Aufmerksamkeit nicht ihm, sondern dem Thema, sie konzentriert sich auf Bernhard, der es gewohnt ist, andere zum Zuhören zu zwingen und nun wortreich davon redet, wie beeindruckt er sei von diesen Jugendlichen, die dem ressourcenverschlingenden Irrsinn unserer Zeit endlich ein Ende bereiten wollen. Auch angesichts der anhaltenden Dürre sei das ein Gebot der Stunde. Allerdings wisse er wenig bezüglich des Unterrichts; um Ressourcen zu schonen, bleibe Angelika die meiste Zeit offline.

      Als könne er sich damit vor der Erwartung schützen, antworten zu müssen, nimmt Pascal abermals einen großen Schluck und blickt angestrengt stumm in sein Glas; er versteht nicht, wie es seinem Nachbarn möglich ist, ohne Ironie über die Angelegenheit zu sprechen. Bernhards gönnerhaftes Verständnis für die pubertären Ideen dieser Jugendlichen widert ihn an, und er fühlt, er wird, falls das so weitergeht, bald in der Laune sein, ihm dies ins Gesicht zu sagen.

      Nun unterstreicht Franziska, wie toll sie das Experiment finde, auch weil sie denke, die Jugendlichen stünden, da die Schweiz sommers zukünftig vielleicht immer sowohl mit Dürren wie auch mit heftigem Regen auskommen müsse, in ihrem Leben noch vor großen Herausforderungen.

      Falls Pascal richtig begriffen hat, haben sich Bernhard und Franziska bereits die Mühe gemacht, die von ihnen als Waldschule bezeichnete Hütte aufzusuchen. Franziska zeigt sich beeindruckt von Levin, der ganz selbstverständlich und ohne Allüren eine Vorbildfunktion übernommen habe. Ganz furchtlos verspeise er dort oben die widerlichsten Insekten.

      Auch Bernhard,