Zwischen zwei Türen. Nasim Khaksar

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Название Zwischen zwei Türen
Автор произведения Nasim Khaksar
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026240



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wollte Negar es aufsagen. Aber es war weg. Sie wusste nur noch, dass die Verwüstungen der Angst darin vorkamen. Und Blumen und Regen. Indes schien Hamid unter Schock zu stehen. Leichenblass starrte er Negar an, sekundenlang. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Hamid hatte dieses Gedicht oft rezitiert, und er könnte es auch jetzt aufsagen, Wort für Wort, wenn er wollte. Aber Hamid sagte nichts. Er weinte. Tränen fielen aus seinen Wimpern, Tropfen für Tropfen.

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      1) A.d.Ü.: Das Gedicht Wohin so eilig? stammt aus der Feder des iranischen Lyrikers Schafi’eh Kadkani. Hier die Zeilen, um die es geht:

      

       Gute Reise dir, doch um der Freundschaft willen, bitte,

       Weil du der Angst Verwüstungen heil überstanden hast,

       Bestell den Blüten, dem Regen

       Unsere Grüße.

      Betonsilos

      Mein Vater streckt eine Hand nach mir aus. Er ist fassungslos. Kann nicht glauben, dass ich gehe und ihn alleinlasse. Er denkt, was auch kommen mag, ich bin Marhamats Tochter, und vergisst dabei völlig, dass ich nicht nur ihre, sondern vor allem seine Tochter bin. Marhamat hat immer gesagt: „Ihr zwei seid einer wie der andere, aus demselben Holz geschnitzt. Ihr steht einander in nichts nach.“

      Ich war mittlerweile ein einziges Nervenbündel. Seit Monaten im Clinch mit mir selbst. Ich schlug mich, weinte, vergoss bittere Tränen, vergebens. Die Schleusentore mochten noch so weit offenstehen, ihre Fluten lösten weder den hartnäckigen Kloß in meinem Hals, noch spülten sie meine Wut auf mich selbst weg. Ich ging zum Arzt. Schilderte, wie maßlos zornig ich war, wie frustriert und manchmal so außer mir, dass ich mich sogar übergab. Der Arzt maß meinen Blutdruck und meinen Puls.

      „Auf wen bist du denn so wütend?“

      „Weiß nicht. Auf meine Mutter, meinen Vater.“

      Er sah mich eindringlich an.

      „Und auf dich?“

      Ich brach in Tränen aus.

      „Geh schwimmen. Geh raus in die Natur, pflanz Blumen. Hör Musik.“

      Jeden dieser Ratschläge hab ich befolgt. Gebracht hat’s mir nichts. Das verschriebene Beruhigungsmittel hab ich nicht genommen. Traurig dachte ich an Marhamat, während ich meinen Vater tagtäglich zur Arbeit brachte und wieder abholte. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, wie sie das alles ertragen hatte, stoisch, klaglos. Wie hatte sie ihre Schmerzen und das Elend ringsum ausblenden können, scheinbar völlig mühelos? Vielleicht hat sie sich auch nie den Kopf darüber zerbrochen. Hat die in rostigen Blechkanistern gedeihenden Oleanderbäume der Nachbarn und von Unkraut und Gestrüpp überwucherte gelbe Blüten gedankenleer wahrgenommen, aber nicht gesehen? Marhamat wurde nie böse. Sie ärgerte sich weder darüber, wie mein Vater mit ihr umging noch über das Verhalten anderer Menschen. Und selbst wenn sie wütend war, wurde sie nie aufbrausend oder ausfallend. Wenn einer von uns jammerte, weil ihm ein Bein wehtat, machte sie „Psst-psst! Nicht laut sagen. Sonst hört dein Bein das und tut dir noch mehr weh.“

      Sie wurde zusehends kränklicher, ging täglich gebeugter. Anfangs humpelte sie nur leicht. Ich wollte sie ein paarmal zum Arzt fahren. Nicht nur ich, alle wollten ihr etwas Gutes tun. Sie war von früh bis spät auf den Beinen, rackerte sich ab und ging jedem zur Hand. Zeit, ihre widerspenstigen Locken zu kämmen oder ihre Kleider zu wechseln, nahm sie sich nicht. In den Sachen, in denen sie morgens aufstand, ging sie abends zu Bett. Auf den Spiegel im Haus war sie schlecht zu sprechen. Mein Vater witzelte: „Lasst sie in Frieden. Es sind doch nicht alle Frauen gleich. Die einen schminken sich gern, andere hinken. Die einen lachen gern, andere weinen lieber.“

      Marhamat verfluchte meinen Vater, so leise, dass nur sie es hören konnte. Sie brüllte nie. Sie rieb sich ihr Knie.

      „Es tut weh. Aber es hilft ja nichts. Also ertrag ich den Schmerz.“

      Mich machte das wahnsinnig.

      „Mama Dschun. Du musst die Schmerzen nicht aushalten. Geh zum Arzt.“

      „Ärzte können einem auch nicht helfen. Die bescheren einem nur zusätzliche Zipperlein.“

      „Wenn du so denkst, dann hör auf zu jammern. Sei einfach still.“

      Woraufhin sie umso heftiger klagte.

      „Es tut wirklich weh, Allmächtiger!“

      Wo sie ging und stand, redete sie über ihre porösen Knochen.

      „Angeblich hilft Straußenöl dagegen. Wo krieg ich das her?“

      Als ich ihr sagte, dass ich welches aufgetrieben hatte, runzelte sie die Stirn.

      „Sahra Khanum hat doch gesagt, sie kauft welches. Du hättest nicht noch zusätzlich Geld ausgeben müssen.“

      Auch der Spiegel, den ich ihr gekauft hatte, war ihr kein Grund zur Freude. Der einzige, den wir im Haus hatten, war in tausend Scherben zersprungen, als mein Vater ihn hingedonnert hatte. Damals ging alles zu Bruch, was er in die Finger bekam. Marhamat vergaß meist, Sachen aus dem Weg zu räumen. Ich zog sie auf:

      „Jetzt, wo er alles zerschmissen hat, fällt dir ein, die vier Plastikteile, die uns geblieben sind, vor ihm in Sicherheit zu bringen?“

      Ihr Kinn zog sich zusammen wie eine Katzenpfote, aber sie sagte kein Wort. Sie sprach weder mit mir noch mit meinem Vater. Manchmal hörte ich sie in der Küche mit meiner kleinen Schwester reden. Sobald die beiden mich sahen, endete ihr Gespräch. Ich goss mir Tee ein.

      „Na, was ist? Hat’s euch die Sprache verschlagen?“

      Vom Wohnzimmer aus brüllte mein Vater:

      „Marhamat, Tee!“

      Sie sprang sofort auf. Wie ich das hasste!

      „Sag ihm, er soll sich seinen Tee gefälligst selbst holen. Er sieht zwar nichts, aber gehen kann er. Und Hände hat er auch.“

      Seine raue Stimme kam aus dem Wohnzimmer:

      „Was geht dich das an, du gewissenloses Ding?“

      Ich gehe ein paar Schritte, drehe mich um und schaue ihn an. Am Morgenhimmel hängen Wolken in düsteren Fetzen. Die Betonblocks der Siedlung haben wir hinter uns gelassen. Seit Monaten werden die verfallenen alten Wohnsilos saniert. Bis unser Block an die Reihe kommt, wird es noch ewig dauern. Im staubigen Gelände vor uns liegen Eisenträger und Baumaterial verstreut. Noch zweihundert Meter bis zur Haltestelle. Etwas abseits kurbelt ein Mann das Rollgitter seines Ladengeschäfts hoch. Man hört Krähen krächzen. Zu sehen sind sie nicht. Mein Vater bleibt stehen und lauscht. Weit und breit ist niemand in Sicht. Er hofft, dass ich zurückkomme und ihn an der Hand nehme. Marhamat würde die paar Schritte auf ihn zugehen. Sie wäre gar nicht erst vorausgegangen. Selbst wenn sie Schläge bekommt, rührt sie sich nicht vom Fleck. Einmal hat mein Vater sie so hart auf den Kopf geschlagen, dass es gekracht hat. Sie hat sich ins Haar gefasst, hat über die getroffene Stelle gewischt und ist langsam aufgestanden, ohne mich anzusehen. Ich dachte damals: ,So wie die Dinge inzwischen liegen, springt sie jetzt aus dem Fenster.’ Stattdessen ist sie in die Küche gehumpelt, hat sich die frisch gekauften Küchenkräuter vorgenommen und sie geputzt als sei nichts gewesen. Wenige Stunden später war die Suppe fertig.

      Marhamats Hauptsorge galt den Mägen ihrer Mitmenschen. Ob die Leute auch andere Probleme hatten, kümmerte sie nicht. Dafür zu sorgen, dass niemand hungers starb, war ihr Lebenszweck. Wenn einer von uns Fieber hatte, sagte sie: „Das Kind braucht was in den Magen.“ Auch wenn wir andere Krankheiten hatten, sah sie im Essensmangel die Ursache. Als mein Bruder schlechtere Schulnoten bekam, kochte sie Suppe. „Dem Kind fehlt doch die Kraft zum Lernen.“

      Sie interessierte sich nur fürs