Zwischen zwei Türen. Nasim Khaksar

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Название Zwischen zwei Türen
Автор произведения Nasim Khaksar
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026240



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hören. Ich wollte schreien, um ihn zu übertönen. Und dann dachte ich, ich sei taub geworden. Ich hab mit der Faust gegen die Wand geschlagen, hab das leise Geräusch gedämpft gehört, wie in einem Vakuum. Ich hab meinen Kopf in beide Hände genommen, hab mich in mich verkrochen und mich am Boden gekrümmt. Jetzt war ich ganz sicher: Ich hatte durchgedreht. Ich würde nie wieder normal werden. Noch nie in meinem Leben hatte ich so riesige Angst. Und plötzlich sind meine Ohren aufgegangen. Ich hab einen Lautsprecher gehört. Jemand hat von Hasrat Zeynab erzählt, davon, wie heldenhaft Imam Hosseins Schwester seinen Sohn aus der Schlacht bei Kerbala rettet, in der er selbst fällt. So traurig, dass es mir das Herz zerrissen hat. Ich hab Tränen vergossen, für sie und für mich.“

      Negar ließ Hamid auch wissen, dass Parinuschs Tochter nach fünf Jahren plötzlich wieder vor der Tür stand.

      „Nach all den Jahren wusste ich nicht mal mehr, ob ich mich freue, sie wiederzusehen.“

      Die Tochter hatte gesagt, ihr Freund wartet unten und sie muss gleich wieder gehen. Aber vorher wollte sie ihre Mutter noch was fragen.

      Parinusch hatte gelacht.

      „Nichts hat mir mehr Angst gemacht als die Fragen meiner Tochter. Das Herz ist mir fast aus der Brust gesprungen. Ich bekam schweißnasse Hände. Meine Tochter hat sich ein Blatt Salat aus der Schüssel gezupft und mich dabei ganz gelassen gefragt: „Warum hast du mich im Gefängnis zur Welt gebracht, Mama?“

      Hamid nickte, grüblerisch.

      „Ist doch normal, dass ein Kind sowas wissen will.“

      Parinusch hat ihre Tochter gebeten, noch zu bleiben, weil sie ihr erklären wollte, warum. Und hat ihr zum ersten Mal alles erzählt. Als sie festgenommen wurde, hatte sie noch gedacht: ,Vielleicht gar nicht so schlecht, dann bin ich meine Sorgen und Probleme für eine Weile los.’

      „Ich war kaum in der Zelle, da kam’s mir hoch. Ich dachte, es liegt vielleicht am Knastgeruch. Der war mir sofort in die Nase gestiegen und hat mir auch schlaflose Nächte beschert. Irgendwann hab ich jemanden sagen hören: ,Du bist schwanger.’ Ich bin auf der Stelle umgekippt, wollte das anfangs nicht wahrhaben. Aber dann bin ich dank dir am Leben geblieben.“

      Ihre Tochter hatte noch mehr hören wollen. Parinusch hatte ihr von allen Menschen erzählt, denen sie begegnet war, vor allem von Rasieh, einem jungen Mädchen, klein, burschikos, ernst. Rasieh konnte aus Brotteig leckere Sachen backen. Sie kannte erstaunlich viele Gedichte auswendig und dichtete selbst. Und sie hatte eine schlechte Angewohnheit. Sie ließ ihre Fingergelenke knacksen.

      Hamid bat Negar, ihm die Fotos ihrer Türkeireise zu zeigen. Den Wunsch erfüllte sie ihm gern. Für ihren Privatkram interessierte er sich sonst nie. Unter den vielen Bildern in ihrer Kamera suchten sie nach Fotos von Parinusch und schauten sich vor allem Portraits von ihr an. Auf den meisten Bildern lächelte sie, aber ihr Blick verriet ihre Angst. Fotos von Negar hatte Hamid nie so eindringlich betrachtet, wie er Parinusch studierte. Grund zu Eifersucht gab ihr das nicht, es regte ihre Fantasie an. Sie malte sich aus, wie sie Parinusch zu sich nach Hause einladen und mit Hamid bekanntmachen würde und dachte: ,Ihre Geschichten bringt sie sicher auch mit. Die begleiteten sie ja auf Schritt und Tritt.’ Negars einzige Sorge war, dass sie in Vergessenheit geraten würden, wenn Parinusch eines Tages starb.

      „Es wäre schön, wenn ich sie aufschreiben könnte.“

      „Viele sind gegangen und haben ihre Geschichten mitgenommen“, hatte Parinusch gesagt. „Die geblieben sind, haben sich verändert. Die Welt hat sich verändert.“ Und dass sie nicht mehr davon träumte, sie zu ändern. Hamid hatte laut gelacht.

      „Woran hast du das denn erkannt?“

      Negar sagte, in der Hotellobby hatte Parinusch die Arme gereckt, gegähnt und festgestellt:

      „Gut, dass die Welt nicht auf uns gehört hat, sonst hätten wir sie kaputt gemacht. Noch kaputter, als sie eh schon ist.“

      Wochen später waren Parinusch und die Erinnerung an sie verblasst. Trotzdem fielen Negar bisweilen Dinge ein, die Hamid über Parinusch noch nicht wusste. Es hatte sich keine Gelegenheit ergeben, sie ihm zu erzählen. Parinuschs Schwester hatte ihre Ankunft für den späten Abend angekündigt. Auch Negar musste ja zurück ins Hotel. Sie waren durch Ankara spaziert. In den letzten Minuten ihrer kurzen Freundschaft.

      Es hatte aufgehört zu regnen. Der Boden war nass. Die Sonne schien von allen Seiten, bunt ringsum. Aus Cafés war Musik zu hören. Negar fühlte sich wohl. Erst jetzt erkannte sie, in welch schwerer Atmosphäre sie in letzter Zeit geatmet hatte. In einem von Buchsbäumen gesäumten Restaurant mit zitronengelben Tischdecken machten sie Station. Frauen und Männer, die sich hier trafen, fielen einander um die Hälse. Negar und Parinusch lächelten über solch ausgelassene Freude. Parinusch erzählte, am Tag ihrer Haftentlassung war ihr Bruder gekommen, sie abzuholen und war erschrocken als er sie sah. Er hatte die Stirn gerunzelt.

      „Ich hab gelacht und gefragt: ,Hab ich mich wirklich so sehr verändert?’“

      Ihr Bruder hatte sie in den Arm genommen, hatte sie aufs Haar geküsst und gesagt, sie müsse sich jetzt um nichts mehr Gedanken machen. „Du hast alles richtig gemacht.“ Sie hatte sich geschämt vor ihrem Bruder.

      „Schade, dass mein älterer Bruder damals schon tot war und mich nicht abholen konnte. Ich wünschte, er hätte mich in den Arm genommen und hätte, die Stirn in Falten, ,Lass gut sein!’ gesagt. ,Hör auf zu grübeln. Du hast alles richtig gemacht.’“

      Negar wäre lieber wieder ins Hotel gegangen, hätte sich gern dort auf die Terrasse gesetzt. Parinusch hatte Gefallen an dem Restaurant gefunden.

      „Ist doch schön hier, lass uns noch bleiben. Schau, wie gut gelaunt die Leute sind!“

      Ein junger Mann hatte gesungen und sich auf der Gitarre begleitet. Den Kellner, der gefragt hatte, ob sie noch etwas wünschten, hatte Parinusch mit einem üppigen Trinkgeld bedacht, hatte sich dann geräuschvoll in eine Papierserviette geschnäuzt und gelächelt. ,Sie sollte viel öfter lächeln’, war Negar durch den Kopf gegangen. Wenn sie lächelte, sah man ihr keine einzige Sorge mehr an. Das hatte sie Parinusch gesagt. Und die wusste das, weil es auch ihren Mithäftlingen aufgefallen war. „Ich hatte mich so an sie gewöhnt. Als ich entlassen wurde, haben sie mich zum Abschied alle umarmt, der Reihe nach. Und sie haben mir ein Andenken geschenkt.“ Sie hatte ein Armband aus ihrer Handtasche hervorgekramt, handgemacht, aus Dattelkernen.

      „Es ist mir zu eng geworden. Deshalb trag ich’s in der Handtasche bei mir.“

      An dieses Andenken hatte Negar sich erinnert, als sie Datteln aß. Hamid war aufgestanden und hatte eine Gebetskette aus seiner Kommode geholt. Auch er habe ein Andenken, hatte er gesagt. Selbst gemacht. ,Warum zeigst du mir das erst jetzt?’, hatte Negar ihn gefragt. Er hatte geantwortet, dass er’s ihr sehr wohl gezeigt, sie sich aber nie wirklich dafür interessiert hatte.

      Negar berichtete weiter, der Gitarrist habe ein trauriges Lied gespielt, und sie hätte sich am liebsten ein anderes Stück gewünscht. Parinusch habe Kette geraucht. Rasieh, die jüngste und schweigsamste von allen, hatte sich nicht eingereiht, war nicht mit den anderen angetreten, um Parinusch zu verabschieden. „Sie war knapp siebzehn. Ihr ernstes Gesicht machte sie nicht älter. Immer stand sie dicht an irgendeiner Wand und brachte mit einer Hand die Fingergelenke der anderen, knack-knack, zum Knacksen.“ Parinusch hatte sich die nächste Zigarette angezündet und ihre Tränen geschluckt.

      „In letzter Sekunde, als ich schon fast zur Tür raus war, kam sie gerannt, hat mich umarmt und mir was ins Ohr geflüstert. Erst hab ich gar nicht richtig verstanden, was.“

      Hamid aß nicht weiter. Er hörte Negar zu. Wollte genau wissen, wie die Geschichte weiterging und sah plötzlich verblüffend blass aus. Als sehr ernster Mensch ließ er sich nur selten anmerken, wie ihm zumute war. Jetzt lauschte er sogar gespannt. Und weil er so aufmerksam war, gab Negar sich beim Erzählen mehr Mühe. Parinusch hatte sich die nächste Zigarette angezündet.

      „In dem Moment wusste ich, ich werde sie nie wiedersehen.“

      Auch