Das Ungetüm, das da heranraste, wurde lange vorher schon auf der Schebecke bemerkt. Es war einer von den Kaventsmännern, die nur selten auftraten und von vielen als unwahr abgetan wurden. Es sah aus wie eine Tsunami, eine Welle, wie sie nach einem heftigen Seebeben entsteht. Unaufhaltsam und immer größer werdend, begann sie auf die Schebecke zuzurollen. Keine Gewalt konnte sie aufhalten. Sie wuchs aus dem Meer, erst langsam und fast elegant dahingleitend. Dabei wurde sie immer höher und türmte sich zu einem Gebirge auf. «Da hilft nichts mehr», sagte Hasard, so ruhig er konnte. «Diesmal ist der Zusammenprall unausweichlich. Nur keine Panik, vielleicht haben wir Glück – vielleicht auch nicht…»
Siri-Tong stülpte Esmeralda blitzschnell die Schüssel mit dem Maisbrei über den Kopf und ließ der anderen Grazie den Wasserkrug auf die Füße fallen. Die Aufschreie der beiden Schlampen waren noch nicht verklungen, da spurtete die Rote Korsarin bereits zwischen den beiden hindurch und wuchtete dem immer noch in der Türfüllung stehenden Wachposten mit solcher Kraft die rechte Faust in die Magengrube, daß der Kerl regelrecht zusammenklappte. Ein paar Lidschläge später hatte sie sich in den Besitz des Messers und der Steinschloßpistole gebracht, spannte den Hahn der Waffe und richtete den Lauf auf die beiden Frauen. «Wenn ihr einen Pieps von euch gebt, schieße ich», versprach sie. «Und ihr dürft mir ruhig glauben, daß ich mit diesem Ding umzugehen verstehe…»
Fast übergangslos brannte das ganze Heck der portugisieschen Galeone, wo sie sechs Culverinentreffer der Schebecke hatte hinnehmen müssen. Hasard segelte von achtern her so dicht an ihr vorbei, daß er die entsetzten Gesichter der Portugiesen erkennen konnte. Die meisten rannten in wilder Angst über die Decks, und zwei Mann sprangen in Panik über Bord. Als sie ganz dicht an der Galeone waren, schleuderten Hasards Söhne zwei Flaschenbomben mit eiskalter Ruhe an Deck. Sie brauchten dazu nicht mal die speziellen Abschußgestelle. Eine der Flaschenbomben krepierte auf der Kuhl, die andere kollerte einen Niedergang hinunter und explodierte dort. Wildes Geschrei war zu hören. Hals über Kopf verließen entsetzte Männer das Achterdeck der jetzt steuerlos in der See treibenden Galeone…
Vielleicht war es der Styx in der Unterwelt, der Old Donegal O´Flynn mit sich schwemmte. Ringsum brandete ein Rauschen und Tosen auf, als tobe ein Sturm auf offener See. Aber er befand sich in den Kavernen der verdammten Schwefelmine. Die Strömung wurde heftiger. Dagegen anzukämpfen war inzwischen so gut wie unmöglich. Old Donegal beschränkte seine Kräfte darauf, sich über Wasser zu halten. Das kühle Naß an sich war eine Wohltat, die den Dreck und den Ärger der letzten Zeit vergessen ließ, aber die Umstände waren nicht dazu angetan, in Jubel auszubrechen. Das Tosen des unterirdischen Flusses schwoll zum ohrenbetäubenden Dröhnen an. Old Donegal tauchte endgültig in den Strudeln unter. Er sah noch das riesige ausgezackte Loch auf sich zuschießen, im nächsten Moment hüllte ihn völlige Finsternis ein. Er hatte das Gefühl, in unendliche Tiefen zu stürzen…
"Feuer frei!" rief Philip Hasard Killigrew. Al Conroy, der Stückmeister, wartete einen Atemzug lang, bis sich die Lage des Rumpfes stabilisiert hatte, dann senkte er die Lunte auf das Zündloch. Das Pulver brannte blitzesprühend ab, dann zuckte die mehr als halbarmlange Flamme aus der Mündung. Rohr und Lafette wurde zurückgeworfen, eine graue Wolke Pulverdampf stieg auf und wurde bugwärts davongetrieben. Al Conroy sprang zum nächsten Geschütz und zündete es, ohne sich um die Flugbahn des ersten Geschosses zu kümmern, aber dann blieb er stehen und schaute aus zusammengekniffenen Augen hinüber zu der Karavelle. Jawohl, Treffer! Und da zündete der Stückmeister die beiden nächsten Culverinen…
Das Trompeten eines Elefanten schreckte die Arwenacks auf. Augenblicke später trampelte der Dickhäuter heran. Ein zweites Tier mit mächtigen Stoßzähnen folgte ihm. Beide Elefanten wurden von Mahauts gelenkt. Sie walzten nieder, was ihnen im Wege stand. Damit hatte niemand gerechnet. Ben Brighton riß seine Muskete hoch und legte auf den Führer des vorderen Tieres an, doch sein Schuß ging fehl und peitschte wirkungslos ins Laubdach. Der erste schleuderte dem Dickhäuter die nutzlos gewordene Muskete entgegen, warf sich herum und floh zum Fluß. Daß die Waffe wie ein dünner Bambußspross zertrampelt wurde, sah er schon nicht mehr. Die Arwenacks stoben nach allen Seiten auseinander. Zu spät erkannten sie, daß sie in eine perfekt aufgebaute Falle geraten waren…
Auf der ankernden Dhau standen Särge mit Toten, die zum Verbrennen an Land geschafft werden sollten. Die Arwenacks hatten sich erboten, bei dieser grausigen Aufgabe zu helfen, und waren bei der Dhau längseits gegangen, auf der offenbar kranke Männer vermummt herumtorkelten. Und da passierte es. Die Vermummten rissen sich plötzlich die dunklen Umhänge und Kapuzen fort und zogen Messer und Dolche hervor. Und während sich die ersten Kerle über das eigene Schanzkleid schwangen und auf die tiefer gelegenen Decksplanken der Schebecke sprangen, flogen die Deckel der Särge hoch, und die Toten wurden mit überraschender Schnelligkeit lebendig. Da wußte jeder Arwenack, daß es jetzt ums Ganze ging. Sie waren üblen Halsabschneidern in die Falle gegangen…
Dem ersten Soldaten, der die Flinte auf ihn anlegte, stieg der Profos gehörig auf die Zehen. Der Mann brüllte auf, als habe ihn ein Elefant getreten. Das wiederum behagte dem Profos nicht. Er schlug zu. Mit beiden Pratzen gleichzeitig. Von rechts und links. Der Inder mußte sich fühlen, als sei er zwischen die zusammenkrachenden Becken einer Militärkapelle geraten. Er verdrehte die Augen und ließ die Flinte fallen. Auf seinen Wangen zeichneten sich die kräftigen Abdrücke von zehn Fingern ab, die nach einiger Zeit wohl alle Farben aufweisen würden. Carberry lüftete den Mann von den Füßen und benutzte ihn als lebenden Rammbock, um die anderen zurückzudrängen. Fünf Kerle verloren nacheinander den Halt und klatschten rücklings ins Hafenbecken…
Mehr als zehn Jahre hatte Timotheus Jakobus Patterson als letzter Überlebender auf einer der Malediveninseln gehaust, vor der seine Karavelle aufgelaufen war. In dieser Zeit war er schrullig geworden. Eines Nachts war ihm der Herr im Traum erschienen und hatte ihm befohlen, einen Kasten zu bauen. Von da an hielt sich Timotheus für Noah, der dazu auserkoren war, den Rest der Welt vor dem Untergang zu bewahren. Er sollte eine Arche bauen, und das tat er, indem er die alte Karavelle ausbesserte und wieder so hinkriegte, daß sie einigermaßen seetüchtig war. Und dann ging er mit dem vergammelten Kahn in See – samt einigen Affen, Papageien, Ziegen, Ratten und Schweinen. Als er der Schebecke der Seewölfe begegnete, beschimpfte er sie als Hurenböcke, die in sich gehen und beten sollten, denn der Weltuntergang stehe bevor…
"Die Arme schön nach oben", sagte eine Stimme in hartem Englisch, das sich wie das Knarren von Windmühlenflügeln anhörte. «Sonst habt ihr alle drei ein Loch im Kopf!» Hasard war fassungslos, so mit seinen Söhnen überrumpelt zu werden. Er wollte nach seinem Radschloß-Drehling greifen, doch er blickte genau in den Lauf einer Muskete, die aus dem Gebüsch schräg von oben auf ihn gerichtet war. In dem Mangrovengestrüpp hockte ein scharfgesichtiger Mann mit blonden Haaren und harten Augen. Einen weiteren mit einem dunkelblonden Vollbart entdeckte er etwa fünf Yard vor sich. Auch er hielt eine Muskete auf sie gerichtet. Weiter hinten bewegte sich ein dritter Musketenträger, der bis an die Hüften im Sumpf stand und schmal grinste. Der Teufel mochte wissen, wie viele Kerle hier noch im Verhau stecken mochten. Den drei Seewölfen blieb nichts anderes übrig, als mit den Fingern in den Himmel zu greifen…