Die halbe Bevölkerung von Havanna schien auf den Beinen zu sein. Sam Roskill hätte nicht geglaubt, daß ihn soviele auf seinem letzten Weg begleiten würden. «Tod allen Piraten!» brüllte jemand. Andere fielen in den Ruf ein. Der Mob drängte und stieß, doch vor den Hellebarden der Uniformierten verließ die meisten der Mut. Sam Roskill suchte nach vertrauten Gesichtern. Noch ließ er die Hoffnung nicht sinken. Aber niemand gab ihm ein Zeichen. Vor ihm ragte der Galgen auf. Unwillkürlich verhielt er seine Schritte, wurde vorwärts gestoßen, stolperte. Zwei Stufen führten aufs Podest hinauf. Nie waren Sam zwei Schritte so schwergefallen. Unter der Schlinge blieb er stehen…
Capitán Pigatto riß die Luke auf und stieg als erster die schmalen Tritte hinunter. Beklemmend legte sich der Qualm auf seine Lungen. Er mußte husten und wedelte hilflos mit den Armen, ohne jedoch den Rauch vertreiben zu können. Die Sicht blieb miserabel. Zwei oder drei Kerle folgten ihm beim Erkundungsgang zur Vorpiek. Das Spill für den Buganker lag vor ihnen. Dem Capitán fiel das Atmen zunehmend schwerer. Er hatte das Gefühl ersticken zu müssen. Tränen schossen ihm in die Augen, die zu brennen begannen. Der Qualm war überall. Pigatto wollte einen Befehl zu den Männern hinter sich rufen, aber es wurde nur ein keuchender Husteanfall daraus. Er taumelte ans Spill und klammerte sich daran fest wie ein Ertrinkender. Der Schwelbrand war wieder aufgeflackert! Aber ließ sich die Glut noch löschen…?
Ein deutlich zu vernehmendes Kratzen erklang vom achteren Grätingsdeck her. «Diesmal kriege ich dich!» versprach Old Donegal und pirschte nach achtern. Er sagte es wohl mehr, um sich selbst und Paddy Rogers seinen Mut zu beweisen. Die Pistole im Anschlag schlich er weiter. Er schoß in dem Moment, als wie aus dem nichts heraus ein Schatten neben der Hecklaterne auftauchte – eine bucklige Kreatur, so schwarz wie die Nacht und folglich der Hölle entsprungen. Die Laterne stürzte um, Old Donegals Kugel zertrümmerte zu allem Überfluß das Glas. Der Docht flackerte kurz auf, als ersticke er im Öl. Ein dumpfes Platschen erklang von außenbords. «Ha!» rief Old Donegal. «Hab ich dich endlich, du Geist…!»
Al Conroy, der Stückmeister der Arwenacks, kam zur Sache. Lange genug war der Verband der Pilgrims von der Rabauken-Karavelle beschattet worden. Jetzt hatten die Kerle die Masken fallen lassen und die «Pilgrim» angegriffen. Da gab der Seewolf den ersehnten Feuerbefehl, und der Stückmeister ließ die Culverinen sprechen. Ein mächtiges Donnerwetter brach über die Rabauken herein. Der erste Schuß kappte den Papageienstock der Karavelle und ließ das Besansegel fliegen, weil die Schot gebrochen war. Ein Hagelgeschoß mit gehacktem Blei zerfetzte das Großsegel, eine Kettenkugel brachte gleich darauf den Großmast zu Fall. Ein Schuß in die Bordwand lag zu hoch, aber der andere saß in der Wasserlinie, genau dort, wo ihn Al Conroy hatte haben wollen. Gurgelnd ergoß sich die See in das gezackte Loch…
Der Profos entzündete die Lunten der Flaschenbombe, während er an den Totempfählen vorbeihastete. Dünne Pulverspuren schlängelten sich über den Waldboden. In Gedanken zählte Carberry bis drei, dann schleuderte er die mit Pulver, gehacktem Blei und Nägeln gefüllte Flasche einfach hinter sich. «Ar-we-nack!» brüllte er und warf sich rechter Hand in die Büsche. Batuti tat es ihm auf der anderen Seite gleich. Die Höllenflasche detonierte, bevor die Rothäute heran waren. Lediglich die vordersten wurden von Schrot getroffen und von den Beinen gefegt. Ihre Verwundungen waren aber nicht so schlimm, daß sie nicht ein frenetisches Geheul hätten anstimmen können. Ringsum zischte und krachte es plötzlich. Keine zehn Yards hinter den Indianern zuckten grelle Entladungen zwischen den Bäumen auf…
Sie nannten das Eiland, vor dem ihre «Respectable» aufgelaufen war, großspurig «Elizabeth Castle» und bildeten sich ein, dort einen «Flottenstützpunkt» errichten zu können. Dementsprechend hatten die Schiffsknechte Bäume zu fällen und wurden weiterhin schikaniert. Doch sie revanchierten sich. Im Unterholz überfielen sie den Ersten Offizier, Lord Hyram Scaleby, von hinten und stülpten ihm blitzschnell einen Sack über den Kopf, so daß er nicht mehr sehen konnte, wer von dem «Pack» es wagte, Hand an ihn zu legen. Die Kerle stießen ihn hin und her und johlten dazu. Als er stürzte, droschen sie mit den Fäusten auf ihn ein – mit einer Wucht, als gelte es, einen Stier totzuschlagen. Lord Hyram Scaleby, der mit «Durchlaucht» angeredet zu werden wünschte, empfing die Dresche seines Lebens…
Bill, einst Moses der Arwenacks, bemerkte am Felsrand eine Bewegung, aber sie verlief so schnell, daß er sich ebenso gut getäuscht haben konnte. Er tastete nach der in seinem Gürtel steckenden Pistole. Augenblicke später fand er den Inder. Der Mann gehörte zur Leibgarde des Sultans. Bill erinnerte sich. Der Mann war tot. Jemand hatte ihm von hinten einen langen schmalen Dolch ins Herz gestoßen. Da war plötzlich ein Rascheln. Dicht neben Bill. Er wirbelte herum, doch bevor er die Pistole ziehen konnte, krachte etwas Hartes gegen seine Schläfe. Vergebens versuchte er, sich auf den Beinen zu halten. Er sah ein bärtiges, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht vor sich, das er zu kennen meinte – von der «Cabo Mondego» her, der portugiesischen Karavelle…
Vielleicht war es der Styx in der Unterwelt, der Old Donegal O´Flynn mit sich schwemmte. Ringsum brandete ein Rauschen und Tosen auf, als tobe ein Sturm auf offener See. Aber er befand sich in den Kavernen der verdammten Schwefelmine. Die Strömung wurde heftiger. Dagegen anzukämpfen war inzwischen so gut wie unmöglich. Old Donegal beschränkte seine Kräfte darauf, sich über Wasser zu halten. Das kühle Naß an sich war eine Wohltat, die den Dreck und den Ärger der letzten Zeit vergessen ließ, aber die Umstände waren nicht dazu angetan, in Jubel auszubrechen. Das Tosen des unterirdischen Flusses schwoll zum ohrenbetäubenden Dröhnen an. Old Donegal tauchte endgültig in den Strudeln unter. Er sah noch das riesige ausgezackte Loch auf sich zuschießen, im nächsten Moment hüllte ihn völlige Finsternis ein. Er hatte das Gefühl, in unendliche Tiefen zu stürzen…
Das Trompeten eines Elefanten schreckte die Arwenacks auf. Augenblicke später trampelte der Dickhäuter heran. Ein zweites Tier mit mächtigen Stoßzähnen folgte ihm. Beide Elefanten wurden von Mahauts gelenkt. Sie walzten nieder, was ihnen im Wege stand. Damit hatte niemand gerechnet. Ben Brighton riß seine Muskete hoch und legte auf den Führer des vorderen Tieres an, doch sein Schuß ging fehl und peitschte wirkungslos ins Laubdach. Der erste schleuderte dem Dickhäuter die nutzlos gewordene Muskete entgegen, warf sich herum und floh zum Fluß. Daß die Waffe wie ein dünner Bambußspross zertrampelt wurde, sah er schon nicht mehr. Die Arwenacks stoben nach allen Seiten auseinander. Zu spät erkannten sie, daß sie in eine perfekt aufgebaute Falle geraten waren…
Dem ersten Soldaten, der die Flinte auf ihn anlegte, stieg der Profos gehörig auf die Zehen. Der Mann brüllte auf, als habe ihn ein Elefant getreten. Das wiederum behagte dem Profos nicht. Er schlug zu. Mit beiden Pratzen gleichzeitig. Von rechts und links. Der Inder mußte sich fühlen, als sei er zwischen die zusammenkrachenden Becken einer Militärkapelle geraten. Er verdrehte die Augen und ließ die Flinte fallen. Auf seinen Wangen zeichneten sich die kräftigen Abdrücke von zehn Fingern ab, die nach einiger Zeit wohl alle Farben aufweisen würden. Carberry lüftete den Mann von den Füßen und benutzte ihn als lebenden Rammbock, um die anderen zurückzudrängen. Fünf Kerle verloren nacheinander den Halt und klatschten rücklings ins Hafenbecken…