Atemlos in Hannover. Thorsten Sueße

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Название Atemlos in Hannover
Автор произведения Thorsten Sueße
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827184146



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ihrer Vorlieben waren ihm bestens bekannt. Sie fuhr regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit, immerhin von Kirchrode bis in die Innenstadt. Außerdem nutzte sie das Rad für ihr Hobby Geocaching.

      Früher hatte er sich ebenfalls für einige Zeit mit Geocaching beschäftigt. Es ging darum, einen kleinen versteckten wasserdichten Behälter aufzuspüren, der ein Logbuch enthielt, in das sich der Finder mit seinem Nickname eintragen konnte. Derartige Geocaches waren inzwischen auf der ganzen Welt mit unterschiedlichen Schweregraden versteckt. Hinweise, wo sich ein Geocache befand, erhielt der Sucher, der sogenannte Geocacher, über entsprechende Internetseiten, auf denen sich Hinweise wie GPS-Koordinaten befanden. Um einen Geocache zu finden, benötigte man zumindest ein GPS-Handgerät oder ein Smartphone mit GPS-Empfänger.

      Endlich tauchte ihr Haus vor ihm auf. Es handelte sich um ein Eckgrundstück an zwei kleinen Nebenstraßen in einem Wohngebiet. Das Einfamilienhaus stand in einem Garten, der sich durch hochgewachsene Büsche und Bäume zur Straße abgrenzte. Die niedrig geschnittene Buchsbaumhecke im Vorgarten gewährte eine ungehinderte Sicht auf den Eingangsbereich des Hauses.

      Er bremste, stieg ab und schob das Fahrrad bis zu der Laterne, die sich auf dem Gehweg neben dem seitlichen Teil des Gartens befand. Ihm war bekannt, dass hier ganz in der Nähe ein Geocache versteckt sein musste.

      Um sie zu töten, brauche ich den richtigen Moment und den richtigen Ort. Geht das auf dem Grundstück? In den nächsten Tagen?

      Kein Mensch war momentan in der Nähe. Während er einige Schritte am Doppelstabmattenzaun des Gartens entlangschlenderte, versuchte er sich einen möglichst genauen Überblick vom seitlichen und hinteren Teil des Hauses zu machen, wobei die dichten Büsche nur eine eingeschränkte Sicht auf diesen Bereich zuließen.

      Ich darf mich hier nicht zu lange aufhalten. Sonst erinnert sich später ein Zeuge daran und kann mich beschreiben.

      Er hörte die Stimmen von zwei Frauen, die wahrscheinlich über die Terrasse in den Garten gingen. Dann erkannte er Nadine Odem, dunkelblonde Kurzhaarfrisur, Mitte vierzig. Die andere Frau, vermutlich gleichaltrig, konnte ihre Ehepartnerin sein.

      Die beiden haben mich sicher noch nicht bemerkt. Aber das ist ganz schön brenzlig und womöglich eine Nummer zu groß für mich.

      Er stieg auf sein Rad und fuhr los, bewusst nicht in die Richtung, aus der er gekommen war.

      Soll ich meinen Plan canceln?

      Kapitel 3

      Mittwoch, 9. Mai

      Die Versetzung von Kriminaloberkommissar Raffael Störtebecker von Hamburg nach Hannover lag jetzt gut eine Woche zurück. Andrea Renner wusste, dass er in Hamburg ebenfalls mit der Aufklärung von Tötungsdelikten zu tun gehabt hatte. Ansonsten waren sie über sein Privatleben noch nicht groß ins Gespräch gekommen. Das würde sich heute Abend vielleicht ändern.

      Andreas junge Kollegin Emma Falkenberg hatte ihr kürzlich im Vertrauen zugeraunt: „Wenn ich nicht gerade einen festen Freund hätte, wäre dieser unverschämt gut aussehende Kerl auch etwas für mich gewesen. Ich beneide dich um die enge Zusammenarbeit mit ihm.“

      Raffael und Andrea verließen gemeinsam den großen Gebäudekomplex der Polizeidirektion an der Waterloostraße 9 im zentralen hannoverschen Stadtteil Calenberger Neustadt. Im vierten Stockwerk eines weißen fünfstöckigen Gebäudes befanden sich die Diensträume ihres Kommissariates. Von hier aus waren es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zum Biergarten am Maschsee. Andrea hatte Raffael dort zum Feierabendbier eingeladen, um „ein wenig das Eis zu brechen“.

      Raffael war freundlich und sympathisch. Gerne würde Andrea das eine oder andere mehr über ihn erfahren.

      Sie schlenderten nebeneinander die Waterloostraße entlang, eine Allee, an deren Ende sie die HDI-Arena sehen konnten.

      Inzwischen waren sie, wie im Kommissariat üblich, beim „Du“ gelandet. Besonders beschäftigt hatte Andrea Raffaels merklich hörbarer hanseatischer Akzent. Anstelle der inzwischen allgemein üblichen süddeutschen Aussprache Sch-t und Sch-p sagte er konsequent S-t und S-p. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, die Schauspielerin Heidi Kabel oder Käpt’n Blaubär aus dem Kinderfernsehen hatten so gesprochen. Aber bei Andreas letzten Besuchen in Hamburg hatte sie niemanden mehr so reden hören, außer vielleicht sehr alte Leute. Und Raffael war erst Mitte dreißig, also ähnlich alt wie sie.

      Sehr behutsam sprach sie ihn darauf an.

      „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel“, begann sie vorsichtig, „aber woher kommt deine markante hanseatische Aussprache? Ich kenne niemanden mehr, der so spricht.“

      Er blickte im Gehen kurz zu ihr herüber, dann antwortete er: „Ich war als Kind häufig bei meiner Oma, zu der ich eine enge Bindung hatte. Und ich habe früher viele Jahre bei meiner Tante verbracht. Beide haben so gesprochen, und ich habe es geliebt.“

      „Und deine Eltern?“

      „Meine Mutter ist Hamburgerin, Jahrgang 1962. Sie hat den Akzent gehasst. Und mein Vater, zwei Jahre älter, ist Italiener.“

      „Störtebecker ist demnach nicht der Name deines Vaters?“, setzte Andrea nach.

      „Nein.“

      „Folglich heißt du wie deine Mutter …“

      „Meine Eltern waren nicht verheiratet, wenn du das wissen willst“, sagte er forsch. „Ist doch nicht schlimm, oder?“

      Seine Stimmung schien zu kippen.

      „Ist absolut okay“, äußerte Andrea beschwichtigend.

      „Meine Eltern haben aber viele Jahre zusammengewohnt“, brummelte er.

      Andrea verkniff sich eine weitere persönliche Frage.

      Zwischen ihnen trat eine merkwürdige Stille ein, die Raffael unvermittelt unterbrach: „Hattest du das auch schon mal? Du rufst im Beerdigungsinstitut an – sind alle Leitungen tot.“ Er lachte.

      „Wie …?“, murmelte Andrea erstaunt. „Was soll das denn?“

      „Kleiner Scherz“, strahlte ihr Gegenüber.

      Der Kollege hat eine merkwürdige Art von Humor.

      Sie erreichten die Robert-Enke-Straße und die HDI-Arena. Raffael wollte einiges zu Hannover 96 wissen.

      Am Nordwestufer des Maschsees setzten sie sich in der Nähe des Courtyard Hotels in einen Biergarten, der schon gut besucht war. Andrea hatte für sie zwei Gläser Bier besorgt. Sie saßen sich gegenüber, die Gäste auf der Bank neben ihnen waren in ihre eigenen Gespräche vertieft.

      „Störtebeker zapfen sie hier leider nicht“, grinste Andrea, und Raffael lächelte zurück.

      „Ist eh nicht meine Marke.“

      Andrea hatte einige Sätze zu ihrer eigenen privaten Situation erzählt. Sie lebte allein in einer Mietwohnung eines Mehrfamilienhauses, hatte noch zwei Geschwister und Eltern, die alle in der Region Hannover wohnten. Das Verhältnis zu ihnen war weitgehend „okay“, wobei sich der Kontakt in Grenzen hielt.

      Sie lenkte das Gespräch mit einem unverfänglichen Thema wieder in Raffaels Richtung: „Du kommst aus einer tollen Stadt wie Hamburg. Was reizt dich an Hannover, dass du dich hast hierher versetzen lassen?“

      „Niemand aus meiner Familie lebt mehr in Hamburg.“ Er machte eine kurze Pause. „Hamburg ist mir auch zu groß und unübersichtlich. Und nennenswerte Kontakte, die mich halten würden, hatte ich dort nie.“

      „Deine Familie ist auch aus Hamburg weggezogen?“

      „Mein Vater ist nach Italien zurückgekehrt, seine Heimat Südtirol. Meine Tante ist nach Lüneburg umgezogen. Großeltern habe ich nicht mehr.“

      „Und deine Mutter?“

      „Die hat Hamburg ebenfalls vor Jahren verlassen.“ Er schaute betrübt. „Sie lebt in der Schweiz.“

      „Bist du nie verheiratet gewesen?“

      „Doch,