Dem Tod davongelaufen. Suzanne Maudet

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Название Dem Tod davongelaufen
Автор произведения Suzanne Maudet
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783862416370



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ist es außergewöhnlich: Die Berichte der anderen »Transporte«, die in den letzten Tagen im Lager zu hören waren, haben uns glauben lassen, dass es das absolute Grauen ist. Kopf hoch! Das ist doch nur Stimmungsmache …

      Allerdings ist es so kalt, dass, zumal wir auf diesem Feld festsitzen, kaum an Schlafen zu denken ist und wir ungeduldig auf das Signal zum Abmarsch warten. Die SS friert genauso wie wir – es wird nicht ewig dauern. Wir marschieren gestärkt weiter und singen der aufgehenden Sonne entgegen. Mit der Zeit begreifen wir, wie unsere Bewachung organisiert ist: Der Konvoi setzt sich aus Kolonnen mit jeweils tausend Personen und einem Kolonnenchef (Maschinenpistole und Gewehr) zusammen, aufgeteilt in Untergruppen mit jeweils hundert Personen und einem Dutzend Posten (Gewehr) und einer Aufseherin (Revolver und Peitsche). Unsere hundert Personen starke Gruppe hat Glück bei der Aufteilung – außer mit einem Posten, den wir bis zum Schluss le petit salaud, den kleinen Fiesling, nennen werden. Er verteilt immer wieder Ohrfeigen und Schläge. (Nicole wird es nicht vergessen, schließlich hat sie da ihre letzten Rippenstöße von der SS bekommen.) Der andere Posten ist auch sehr jung, aber viel sympathischer; er gibt uns die wenigen Informationen, die er hat herausfinden können, weiter und macht uns Mut. Die Aufseherin, eine junge Blonde mit sportlichem Aussehen, hat ihre Peitsche beiseite getan und trägt einen langen rosafarben blühenden Pfirsichzweig in der Hand. Diese poetische Anspielung interpretieren wir als gutes Zeichen und sind ein wenig traurig, als sie den Zweig ein paar Stunden später einem Soldaten gibt, der uns auf der Straße begegnet.

      Die Landschaft ist sehr flach und wirklich nicht malerisch, aber alles kommt uns so wunderbar vor: Die Bäume blühen, die Ziegen haben Zicklein wie im Bilderbuch, die Luft duftet, es ragt keine Fabrikmauer in den blauen Himmel hinein oder das Dach einer Baracke. Aus den Häuserfenstern schauen uns kleine Mädchen mit nachdenklichem Blick hinterher, kaum drei Jahre alt und schon mit langen blonden Zöpfen über den schmalen Schultern, und weißhaarige Großmütter winken uns mit fragendem und schmerzerfülltem Gesichtsausdruck zu.

      Wir laufen lächelnd vorbei, manchmal sogar herzhaft lachend, weil wir etwas trunken sind von der frischen Luft, weil wir wissen, dass dieser Frühling bald uns gehören wird, denn immer wieder fahren an uns staubige Lastwagen vorbei, beladen mit Gepäck, Fahrrädern, wettergebräunten Männern mit langen Gesichtern, Frauen mit grellen Halstüchern, und wir wissen nach den Erfahrungen von 1940 nur zu gut, dass es Gesichter der Niederlage sind … und schließlich weil wir – wir, die Gefangenen – sehr oft eine kindliche Freude dabei empfinden, uns über die Aufmachung der freien Deutschen lustig zu machen, die wirklich an Stillosigkeit nicht zu überbieten ist.

      Gegen zwei Uhr erreichen wir Wurzen, eine kleine Stadt an der Mulde2, der Posten (genannt le Post) hat uns bereits vor einiger Zeit angekündigt, dass wir dort wahrscheinlich Pause machen werden. Als wir in die Stadt hineinkommen, drängen sich tatsächlich auf einer riesigen Wiese am Flussufer bereits eine Menge Menschen wie wir – offenbar Männer aus Buchenwald und Frauen aus dem Außenlager Taucha3. Dieser eigentlich grauenvolle Anblick von schmutzigen und müden Menschen – erstarrt in unruhigem Schlaf, erschöpft das dürftige Gepäck, das sie mitnehmen konnten, mit ihren Armen fest umklammernd – erfüllt uns dennoch mit einem gewissen Hochgefühl. Sind die Deutschen in Bedrängnis, weil sie so große Menschenmengen von Fremden planlos auf den Straßen von einer Front zur anderen eskortieren, so wie durch die Zerstörung ihres Ameisenhaufens überraschte Ameisen hektisch Eier, größer als sie selbst, in alle Richtungen wegschleifen?

      Bevor wir in der Sonne einschlafen, essen wir den Rest des Brotes und der Margarine auf, dann legen wir uns mit dem Kopf auf den Gepäckbeutel hin … (Weniger aus Bequemlichkeit als um auf den besagten Beutel aufzupassen.) Christine, die, um besser schlafen zu können, es für schlau gehalten hat, ihre Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen, wird sich nach dem Aufwachen ziemlich über ihren merkwürdigen einseitigen Sonnenbrand wundern, der untere Teil ihrer braunen Backe glühte wie ein roter Ziegelstein, die obere Hälfte sah aus wie vorher, dazwischen verlief eine akkurate und gerade Trennungslinie – so als hätte die böse Königin von Schneewittchen ihren unheilvollen Apfel präpariert: »Mit welcher Hälfte deiner Backe willst du uns wohl vergiften?«, fragen wir sie vorsichtig.

      Zwei Stunden später weckt uns ein gewaltiger Bombenangriff. Josée, die neben mir liegt, kneift wegen der Sonne ihre sanften, rehbraunen Augen zusammen und lächelt mir unter dem Maschinengewehrfeuer freundlich zu. Auf gut Glück und um nichts unversucht zu lassen, halten wir uns die Taschen über den Kopf, warten ruhig ab und stellen uns vor, wir wären ein Vogel Strauß. Natürlich ist das alles ziemlich beeindruckend, vor allem die Sirene, danach, wie abgestimmt, die Bomber im Sturzflug, gefolgt vom unerbittlichen Rattern der Maschinengewehre, aber wir können wirklich nichts anderes machen, als ruhig das Ende abzuwarten. Wir werden am Ende sehr gut gelernt haben zu warten und das in den verrücktesten Situationen … Frauen laufen panisch in alle Richtungen davon; sie haben in letzter Sekunde nichts Besseres gefunden, als sich unter die Brücke zu flüchten. Alle wissen natürlich, dass im Fall einer Bombardierung eine Brücke als letztes Ziel anvisiert wird und aufgrund dieser Tatsache den sichersten Schutz bietet.

      Man weiß nicht, warum, plötzlich wird der Befehl zum Aufbruch gegeben: Eigentlich hätte die Pause laut unserem petit Post sechs Stunden dauern sollen, aber der Bombenangriff beunruhigt unsere SS sehr, die viel lieber im offenen Feld wäre als in so einer kleinen Stadt, mit ein paar Fabriken und verziert mit einer Brücke. Unter Maschinengewehrfeuer laufen wir dicht an den Mauern entlang durch Wurzen; Blut läuft die Sprunggelenke der Pferde herab, über die Wangen der Männer in den Straßen, wir sind ein bisschen blass und wir marschieren zügig voran.

      Am Ortsausgang von Wurzen angekommen, sind keine Flugzeuge mehr zu hören und wir fragen unseren petit Post: Machen wir vor Einbruch der Dunkelheit noch einmal Pause oder laufen wir bis zum Morgengrauen durch? … Einige Frauen, die die Situation noch nicht verstanden haben, fragen sogar, ob wir etwas zu essen bekommen: Es ist eigentlich kaum zu glauben, aber wahr, dass es immer wieder Leute gibt, die nach einem Jahr oder viel länger Konzentrationslager immer noch von den »Rechten der politischen Gefangenen« sprechen … Tatsächlich ist alles Mögliche zu hören. Aber unser Posten weiß offensichtlich von all dem nichts.

      Wir marschieren bis zum Dunkelwerden und dann beginnt zweifellos die Albtraum-Nacht, unsere schlimmste Nacht in Deutschland: Marschieren … immer weiter marschieren … lautes Schrittgetrappel, das nie aufhört … dieses quälende Aufschlagen des Holzes auf dem Pflaster … blind mit der Stirn auf den Rücken der Vorderleute auflaufen … und ständig denen vor dir auf die Hacken treten … die Streitereien und die bissigen Kommentare … die Beinmuskeln, die derartig schmerzen und trotz allem automatisch ihren Dienst tun … die bloßen Füße brennen in den Holzpantinen und sind voller Blasen … und jeder Aufbruch ist so mühsam nach dem kleinsten Halt … die Augen, die unter den schweren Augenlidern trüb werden … und die Augen, die, wenn man sie öffnet, etwas sehen, was nicht existiert (warum schneidet mir der Löwe von Metro-Goldwyn-Mayer, der hinter den kurzen Holzlatten eines Fabrikwagens hervorlugt, so schreckliche Grimassen? Die ganze Nacht lang hat Jackie einen Mann gesehen, der am Straßenrand saß und seine Zeitung las: »Aber wie macht er das? Er sieht doch gar nichts«, sagte sie.) Und die Augen, die sich öffnen und nur das sehen, was wirklich da ist: die verkrampft am Straßenrand liegenden Leichen, die armen abgemagerten Leiber, die vor Erschöpfung oder im Maschinengewehrfeuer gestorben sind, die Hände noch in einer flehenden Geste vor das Gesicht gehoben.

      Aber die Erschöpfung kommt und geht; gegen zwei Uhr haben wir einen Energieschub. Christine und ich, wir laufen etwas links von der Kolonne und geben den Schritt vor, um die anderen mitzuziehen, wir singen mit lauter Stimme unsere Wanderlieder, unsere Lieder des Lebens, der Liebe und der Hoffnung. Wir wissen jetzt, dass wir uns davonmachen werden. Vielleicht wird es hart werden, aber wir wollen leben und werden es wagen, weil wir dieses wunderbare, freie, abenteuerliche Leben zurückhaben wollen, den Wind der Landstraßen, die Sonne, das Gras, die Kameradinnen, die Kameraden, und den Kampf unserer Jugend.

      Wir marschieren den Kopf im Nacken und warten angsterfüllt auf das Verblassen der Sterne, die schon lange aufgegangen sind. Wir haben den Eindruck, sie strahlen nicht mehr so hell, aber laut unserem Posten ist es erst drei Uhr. Wir sehen um uns herum fast keine SS mehr; vielleicht sind sie in