Dem Tod davongelaufen. Suzanne Maudet

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Название Dem Tod davongelaufen
Автор произведения Suzanne Maudet
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783862416370



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die deutsche Ausgabe. Ein Freund von mir, der Historiker Ralph Klein, der als Aktivist des »Arbeitskreises Angreifbare Traditionspflege« (AK) seit 2002 Gedenk-, Aufklärungs- und Protestveranstaltungen gegen die Traditionstreffen der Gebirgsjäger in Mittenwald mit organisierte, um auf die Kriegsverbrechen dieser Wehrmachtselitetruppe hinzuweisen, überreichte mir bei einem Besuch das schmale Bändchen Neuf femmes jeunes qui ne voulaient pas mourir mit den Worten: »Du kannst doch Französisch.«

      Ich las die Geschichte, und die Unerschrockenheit, mit der die jungen Frauen ihr Leben riskierten und gleichzeitig ihre Angst mit einer unglaublichen Portion Humor verscheuchten, ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich entschloss mich, den Text zu übersetzen. Normalerweise hätte ich als Erstes einen Verlag suchen müssen; argumentieren, wie außergewöhnlich ich den Text – gleichermaßen ein Jugendbuch wie ein Buch für Erwachsene – finde. Doch ich befürchtete, jemand könnte mir mein Projekt ausreden. Irgendwann, Zeile für Zeile, begann ich an dem Text zu arbeiten.

      Die fertige Übersetzung schickte ich meinen Freunden bei Assoziation A, die ich schon lange kenne. Ich hatte vor Jahren Bücher des Stadtsoziologen Mike Davis für den Verlag übersetzt. Mit engagiertem Support von Theo Bruns und Beate Kirst, meinen Lektor*innen, die die Außergewöhnlichkeit des Textes sofort erfassten, ist Dem Tod davongelaufen nun erschienen. Danke an alle, die mir bei meinem Vorhaben geholfen haben. Dank auch an die Historikerin Susanne Heim, die auf die Geschichte des NS und des Holocaust spezialisiert ist, dass sie sich die Zeit zur Durchsicht genommen und uns zur Veröffentlichung ermutigt hat.

       Dem Tod davongelaufen

      Karte der Fluchtroute

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       1. Tag

      SAMSTAG, 14. APRIL 1945, LEIPZIG-SCHÖNEFELD, ZWEI UHR MORGENS.

      Die tiefdunkle Nacht erfasst uns, noch halb benommen, hinter dem starken Scheinwerfer, der das Tor des Lagers ausleuchtet. Fünftausend Frauen sind, angesichts des Vormarsches der Amerikaner, in Fünferreihen von der SS auf die Straßen getrieben worden.

      Zinka klammert sich an meinen linken Arm; mein rechter Arm hängt wie eine Klette an Lon. Mena hängt sich bei Lon ein, Guillemette bei Mena. Hinter uns marschieren Christine, Jackie, Nicole und Josée und noch eine weitere Frau – wir haben alle vergessen, wie sie hieß, denn wir kannten sie nicht. Es ist alles gut gegangen: Seit der Bekanntgabe des Abmarschs, seit ungefähr vier Stunden, haben wir davor gezittert, getrennt zu werden. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr würden wir uns eng zusammenschließen, die für uns so wertvolle Reihe bilden. Klar ist, dass wir zusammen gehen würden, egal wohin, egal wie schlimm es kommen würde – und niemand weiß im Grunde, wo dieser unheilvolle Marsch hinführt –, vorausgesetzt, unsere Reihe hält, was neun Monate der Fall war, neun Monate, die wir nur durch unsere Freundschaft halbwegs überstanden haben. (Neun Monate, denen viele andere, im Gefängnis oder in verschiedenen Konzentrationslagern, vorangegangen waren, aber da kannten wir uns noch nicht.)

      Deutsches Befehlsgeschrei dringt durch die Nacht. Es scheint, als komme es aus allen Richtungen: Es ist die SS (Aufseherinnen und Posten),1 die uns bewachen soll und uns mit ihrem vertrauten Zartgefühl antreibt. Der Marsch verläuft furchtbar chaotisch: die meiste Zeit langsam, unterbrochen durch abruptes Stehenbleiben und sogar Kehrtmachen – man fragt sich ständig, warum; dann von einem Moment zum anderen das Gegenteil, jetzt unter Befehlsgeschrei in schnellem Laufschritt. Aber nach ungefähr einer halben Stunde pendelt sich der Rhythmus ein und wir sind nur noch etwa zwei Mal die Stunde Kurskorrekturen ausgeliefert.

      Die Kolonne zieht sich auseinander, wird länger und langsamer; Pausen sind nicht vorgesehen, das ist fürchterlich, wenn man »Pipi machen« muss. Es ist jedes Mal ein echtes Drama; du musst warten, bis die Kolonne vollkommen zum Stillstand kommt, was hin und wieder aus unerfindlichen Gründen, aber in regelmäßigen Abständen passiert. Dann musst du dich davon überzeugen, indem du die Ohren spitzt, dass der Lärm der rollenden Kieselsteine unter den Holzpantinen vorne nicht sofort wieder losgeht, denn nur in diesem Moment kannst du dir den Gürtel von deinem Arbeitsanzug – die lange Fabrikhose, die wir fast alle tragen – aufschnallen (»Ziemlich praktisch so eine Hose zum Reisen«, haben wir anfangs gesagt, wir können ja nicht an alles denken … Tatsächlich werden wir sie frühmorgens, wenn es Tag wird, sehr nützlich und trotzdem noch zu dünn finden). Aber jedes Mal in diesem kritischen Moment setzt sich die Kolonne wieder in Bewegung.

      Das Wetter ist schön. Sterne sind zu sehen. Unsere Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und wir suchen begierig nach Hinweisschildern. Das erste versetzt uns in Erstaunen. Es braucht noch weitere, um uns zu überzeugen, dass wir wirklich in Richtung Dresden laufen. Wir wissen, dass die russische Front nicht weit davon entfernt verläuft und hätten gedacht, man würde uns eher in Richtung Tschechoslowakei führen, die einzig mögliche Lücke zwischen beiden Frontlinien – dachten wir, aber vielleicht war das schon längst nicht mehr der Fall?

      Im Grunde genommen, so anstrengend das Gehen auf der Straße zu Anfang für unsere Beine war, weil sich wegen der kurzen Schritte die Muskeln verspannten, ist es, sobald du dich an den Marschrhythmus gewöhnt hast, nicht mehr so schlimm, ja fast angenehm: Die Nacht ist klar, eine kleine Brise weht uns durch die Haare. Wir sind so oft – in Freiheit – unter den Sternen und egal zu welcher Jahreszeit gewandert, Rucksack auf dem Rücken und Hände in den Hosentaschen. Unsere schweren Schuhe klappern auf den Wegen. Wie wir dieses Wandern lieben für all die Erinnerungen, die es uns zurückbringt. Wir sehen nicht mehr diese Schatten in Uniform auf beiden Seiten der Straße, ihre feindlichen Worte berühren uns nicht mehr und wir hören die Maschinengewehre nicht mehr ununterbrochen rattern, als wir durch die Wälder laufen. Wir marschieren wie im Traum und singen dabei aus vollem Hals unsere alten Wanderlieder. Wir vergessen, wie lange wir nicht geschlafen haben (Josée, die vorige Nacht noch in der Fabrik war, kommt zusammengezählt schon auf 36 Stunden ohne Schlaf. Ein endloser Appell morgens, stürmische Verteilung der letzten Suppe, eine sechs Stunden dauernde ununterbrochene Orchestrierung polyglotten Geschreis und Spießrutenlaufens, schließlich die Aufregung des Abmarschs, all das hat verhindert, dass jemand ein Auge zumachen konnte.) Wir marschieren immer noch, erstaunt, wie einfach es geht, und denken, das muss eine Falle sein und es wird nicht lange so weitergehen …

      Schließlich bricht der Tag an und mit ihm kommt ein extrem eisiger Wind auf; es ist eine traurige Prozession von Frauen, in ihre Wolldecken gehüllt und doch schlotternd, die bei Tagesanbruch in einer kleinen Stadt ankommt, von der wir ganz bestimmt nie den Namen erfahren werden. Dort treibt man uns auf ein Feld am Straßenrand und es sieht so aus, als ob wirklich eine Pause gemacht wird. »Das Wichtigste ist, jetzt erst mal etwas zu essen, um sich aufzuwärmen«, sagen wir uns mit einem gewissen Hang zum Selbstbetrug, denn wir wissen nur zu gut, dass wir die ganze Zeit nichts anderes als Hunger haben werden und es zwecklos und lächerlich ist, so etwas zu sagen.

      Wir haben beim Abmarsch einen überwältigenden Reiseproviant bekommen: einen Viertel Laib Brot, ungefähr 300 Gramm; die Hälfte von einem Stück Margarine, das heißt vom Volumen her etwa gleich groß wie das Brot, dazu vier Suppenlöffel einer fürchterlichen Streichwurst, die auf der Stelle gegessen werden musste, sonst drohte die sofortige Zersetzung. Da wir seit drei Tagen kein Brot bekommen hatten, mussten wir uns gut zureden, davon einen atomisierten Rest für die Reise aufzuheben, und so bestehen die zwei Brotscheiben, die wir uns zum Frühstück bewilligen, aus ungefähr zwei Millimeter Brot und eineinhalb Zentimeter Margarine. Wir trösten uns: »Glücklicherweise ist es kalt … Das ist prima, weil die Margarine dann fest ist … Gut ist auch, dass das so eklig ist, dass du gar keinen Hunger mehr hast.« Mit Magengrimmen legen wir uns, den Kopf auf unserem Gepäck, zufrieden hin. Frauen laufen um uns herum von einer Gruppe zur anderen, Frauen, die nicht müde sind und sich untereinander besuchen. Du siehst erstaunliche Dinge: Wir haben natürlich die Nacht gut überstanden, aber wir sind jung, wir sind ans Laufen gewöhnt. Doch niemand scheint wirklich müde zu sein, weder die große Raymonde, die sehr wackelig auf den Beinen ist, seit sie in einem Alptraum ganz oben vom viergeschossigen Stockbett