Tödliche Mutterliebe. Kirsten Sawatzki

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Название Tödliche Mutterliebe
Автор произведения Kirsten Sawatzki
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783939434269



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das hier war etwas anderes, hier ging es um Mord.

      Als sie gestern Abend zum Tatort in der alten Hildebrandschen Mühle in Weinheim gekommen war, war ihr erster Blick auf zwei junge Kollegen gefallen. Sie standen fröstelnd vor dem ehemaligen Fabrikgebäude. Ihre aschfahlen Gesichter wirkten durch das Flackern der Blaulichter der Streifenwagen noch bleicher. Gespenstisch. Der Kleinere von beiden hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen und trat von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten. Der Größere rauchte. Sie sah, wie er zittrig die Hand hob, um den nächsten Zug zu nehmen. Sie wollte gerade an ihnen vorbeigehen, als ein Fahrzeug hinter ihr hielt. Sie drehte sich um. Ackermann stieg aus seinem Wagen.

      „Ich hoffe, es ist wichtig, ich hatte ein verdammt heißes Date“, grunzte er, während er die Tür seines schwarzen BMWs zuschlug. In dem langen schwarzen Wollmantel, mit dem roten Wollschal und den schwarzen Lederhandschuhen wirkte er noch adretter als in der Kleidung, die er im Dienst normalerweise trug, befand Laura, als er auf sie zukam. „Schauen wir mal, was die Kollegen gefunden haben!“ Sie hatte sich den Abend auch anders vorgestellt und sich auf einen gemütlichen Fernsehabend mit ihrer Katze gefreut. Emma war eh schon sauer, weil ihr Frauchen so selten zu Hause war. Meistens rächte sie sich damit, ihr Geschäft auf Lauras Lieblingsteppich zu machen. Heute wäre Emma glücklich gewesen. Kuscheln mit Frauchen auf der Couch. Sicherlich wäre für sie etwas von Lauras Thunfischsandwich abgefallen. Nun, der Kuschelabend fiel aus, ebenso das Thunfischsandwich. Laura würde vorsichtshalber erst einmal den Teppich untersuchen, wenn sie nach Hause käme.

      Ihr Blick wanderte an der historischen Fassade des Haupthauses der Mühle hoch. Aus dem angrenzenden Siloturm mit seinen Zinnen und den vier Ecktürmchen wuchsen junge Birken. Einige Gebäude waren verfallen und sahen aus, als drohten sie jeden Moment einzustürzen. Der Zahn der Zeit, Wind und Wetter hatten die einst so beeindruckende Fassade der schon seit Jahrzehnten leer stehenden Mühle stark beschädigt. Hier und da hatten sich Graffitikünstler verewigt. Viele Türen oder Fenster waren mit groben Steinen zugemauert worden und in den wenigen noch verbliebenen Glasscheiben spiegelte sich das pulsierende Blaulicht der Einsatzfahrzeuge.

      Laura erinnerte sich, in der Zeitung gelesen zu haben, dass einige Teile der Mühle in den nächsten Monaten abgerissen werden sollten und dass das ganze Areal zu modernem Wohnraum umgebaut werden würde.

      Ackermann blieb kurz vor dem Gebäude stehen.

      „Wer hat eigentlich die Leiche gefunden?“

      „Ein paar Jugendliche fanden, dass die Mühle ein toller Ort für eine Party wäre. Sie haben die Leiche gegen zweiundzwanzig Uhr entdeckt, sind dann zu einem der umliegenden Häuser gelaufen und haben von dort aus die Kollegen verständigt.“

      Sie zeigte auf die Häuser an der Hauptstraße. In vielen Fenstern brannte noch Licht, manche waren bereits mit Osterdekoration geschmückt. In dem einen oder anderen Fenster sah Laura die Silhouetten von Anwohnern, die neugierig aus dem warmen Haus heraus hinüber zur Mühle starrten. Passanten und Nachbarn standen in Grüppchen auf der Straße, angelockt durch das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge. Hier war etwas Schreckliches passiert, das wusste nun auch die Nachbarschaft.

      Gemeinsam liefen sie über den Parkplatz, der mit Müll und Glas übersät war, überall wucherten Pflanzen aus den Rissen im Asphaltboden.

      „Die Natur holt sich ihr Terrain zurück“, dachte Laura.

      Vor dem Eingang der ehemaligen Mühlenvilla stand ein weiterer Beamter, der wie seine Kollegen die Gesichtsfarbe gewechselt hatte.

      „Hallo, Kollegen“, sagte er.

      Mit vielsagendem Blick sah er sie an: „Wollt ihr euch mal so richtig gruseln? Dann geht die Treppe rauf und dann rechts, die Spusis sind schon da. Aber vorher zieht die Überschuhe an!“ Laura hatte die Fahrzeuge der Spurensicherung und das mit der Aufschrift „Rechtsmedizin“ schon vor dem Fabrikgebäude stehen sehen.

      Als sie hinter Ackermann die marode Treppe hochstieg, fragte sie sich, was sie wohl erwarten würde. Was die jungen, sonst so flapsigen Kollegen derart hatte verstummen lassen. Sie spürte den kalten Luftzug, vermischt mit dem Geruch von Blut. Sie hörte das Stimmengewirr der Beamten, die schon dabei waren, den Tatort zu inspizieren. Als ihr Vordermann das Stockwerk erreichte, stoppte er so abrupt, dass sie beinahe auf ihn aufgelaufen wäre. Ackermann schnaufte geräuschvoll aus und streckte die Schultern, bevor er weiterging. Oben angekommen spürte Laura, wie sich die Härchen in ihrem Nacken stellten und Gänsehaut ihre Arme überzog. Sie hörte, wie die Kollegen von der Spurensicherung Fotos schossen. Ein Kollege filmte den Tatort und kommentierte ihn entsprechend. Ihr selbst verschlug das Bild, das sich ihr bot, die Sprache. Während ihrer Zeit beim Drogen- und Sittendezernat hatte sie nicht allzu viele Leichen zu Gesicht bekommen. Auch während ihrer Ausbildung, wo sie, wie jeder andere Polizeianwärter, für ein paar Monate bei der Mordkommission eingesetzt worden war, hatte man zwar Bilder von grotesken Leichenfunden gezeigt, aber das vor ihren Augen ging weit über die Fotos im Lehrsaal hinaus. Laura blieb stehen. Geschockt rang sie nach Atem.

      Im Scheinwerferlicht der Spurensicherung hing eine Frau an Seilen mitten in dem ansonsten leeren, kahlen Raum. Es wirkte, als würde sie schweben. Wäre da nicht der Flaschenzug gewesen, der an einem rostigen Stahlträger hing. Ihre Arme und Füße waren zusammengebunden und so an einem Haken aufgehängt, dass sie zur Decke zeigten. Ihr Körper war nackt und mit groben Seilen geschnürt wie ein Paket. Der Kopf baumelte schlaff und überdehnt Richtung Boden. Ihre langen braunen Haare hingen blutverklebt herunter. Unter der Frau hatte sich ein gefrorener See aus Blut gebildet. Man hatte ihr vermutlich die Kehle durchgeschnitten. Sie ging näher heran, hörte wie Ackermann tief einatmete. „Scheiße, wer macht denn so was?“

      „Bondage-Liebhaber“, erwiderte Laura, ohne den Blick von der Frau zu nehmen. Der Körper war übersät mit blutigen Striemen, die aussahen wie Kratzer von riesigen Krallen. An ihrem linken Oberarm war ein großer, blutverkrusteter Fleck zu sehen.

      „Hä?“, Ackermann schaute sie verwundert an.

      „Woher weißt du denn so etwas?“ Laura ging weiter, versuchte jedes Detail zu registrieren. „Na ja, bei der Sitte habe ich schon den einen oder anderen Fall gehabt, wo Leute ihren Fetischismus ausleben wollten und es zu Unfällen kam, die sie nicht überlebt haben.“

      „Fetisch? Aber das hier war doch eindeutig kein Unfall.“

      „Stimmt“, sagte eine Frau im weißen Overall der Gerichtsmedizin. Sie drehte sich zu ihnen um. Ihre schwarzen langen Locken hingen über ihre Schultern und verdeckten das Namensschild. Laura war der Frau mit dem mediterranen Teint und der offensichtlich griechischen Nase noch nie begegnet. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Mit Blick auf das Opfer erklärte sie: „Diese unglückliche Frau wurde zuerst stranguliert, dann schnitt ihr der Täter oder die Täterin die Kehle durch.“

      „Hatte sie Sex?“, fragte Laura. „Ja, sieht ganz danach aus. Ob einvernehmlich oder nicht, kann ich derzeit noch nicht sagen. Alles Weitere erfahren Sie dann bei der Obduktion. Ich sehe Sie morgen früh um acht in meinem Obduktionssaal.“

      Mit diesen Worten wandte sich die Pathologin ab, nahm ihre Tasche und verließ den Tatort. Der Beamte, der die ganze Szene fotografierte, fragte: „Wieso liegt da ein Lolli?“

      Bevor Laura den Türöffner an der Wand betätigte, warf sie einen schnellen Blick durch das eckige Glasfenster in der Tür. Zu ihrer Erleichterung war die Leiche noch mit einem Tuch abgedeckt. Eine kurze Gnadenfrist, bevor die grausigen Einzelheiten der Tat zum Vorschein kämen. Sie grüßte kurz in die Runde. Die Pathologin von gestern Abend hob den Kopf, um zu sehen, wer durch die Tür getreten war. Sie überprüfte gerade die Instrumente, die ihr ein Mitarbeiter auf einem Tablettwagen bereitgelegt hatte. Heute konnte Laura das Namensschild erkennen. „Dr. Elena Salonis“ las sie. Nun wusste sie, wer diese Ärztin war, denn von der zierlichen Pathologin mit griechischen Eltern hatte sie schon gehört.

      Dr. Salonis war bekannt für ihre Präzision und Rationalität. Sie duldete keine Fehler, weder bei sich noch bei anderen. Ebenso duldete sie keine Witze in ihrem Sektionssaal. Sie behandelte die Toten mit Respekt und sollte jemand auf die Idee kommen, in ihrer Gegenwart einen dummen Kommentar