Tödliche Mutterliebe. Kirsten Sawatzki

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Название Tödliche Mutterliebe
Автор произведения Kirsten Sawatzki
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783939434269



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David!“

      Ich liege auf meinem Bett und starre zur Zimmerdecke. Versuche, ihre Stimme zu überhören. Durch das geöffnete Fenster höre ich den Lärm der belebten Straße. Irgendwo bellt ein Hund. Autos fahren vorbei. Menschen unterhalten sich. Menschen, die an meinem Fenster vorbeigehen. Menschen, die nicht ahnen, wer ich bin. Menschen, die nicht wissen, wer in diesem Haus lebt. Welches Grauen sich hinter diesen Mauern verbirgt. Sicher, der eine oder andere Nachbar wird sich schon gefragt haben, wer hier wohnt. Welche Leute hier eigentlich leben. Vielleicht haben sie auch schon mal die Köpfe zusammengesteckt und hinter vorgehaltener Hand über uns getuschelt. Über die Leute in dem alten Haus mit dem verwilderten Vorgarten, der bröckelnden Fassade und den verwitterten Holzfenstern, die schon lange einen neuen Anstrich benötigt hätten. Leute, die nur selten das Haus verlassen und die man eigentlich nie sieht. Und doch sind wir da.

      „David, David, wo bist du?“

      „Ich bin doch hier, du alte Schabracke“, murmle ich.

      Ich drehe mich mit dem Gesicht zur Wand und betrachte die vergilbten Farben der alten Tapete. Ich möchte nicht aufstehen! Ich will nicht zu ihr! Ich will nicht in dieses Zimmer gehen!

      Ich schließe die Augen und versuche, ihre quengelnde Stimme zu ignorieren. Aber ich höre sie. Ihre Stimme wird immer fester und lauter. Wie ein Mantra.

      „David! David!“

      Immer lauter. Bis sie nur noch ein Dröhnen in meinem Kopf ist. Ich stehe auf, gehorche. So wie ich es immer getan habe. Ich gehe den Flur entlang. Gehe über denselben alten Teppich wie schon vor vierundzwanzig Jahren. Das geometrische Blumenmotiv des abgetretenen Persers ist kaum noch zu erkennen, aber ich weiß, dass es da ist. Es ist in meine Netzhaut eingebrannt. Die rote Grundfarbe ist einem schmutzig-gelben Braunton gewichen. Das blaue Muster gleicht eher schwarzen Farbklecksen. Ich gehe weiter. Ich zähle die Schritte.

      Dreizehn.

      Immer sind es dreizehn Schritte. Schon vor vierundzwanzig Jahren waren es dreizehn Schritte. Ich kann noch so langsam gehen, es sind immer dreizehn Schritte von meinem Zimmer bis zu ihrem. Ich komme näher, nähere mich der Tür zu ihrem Zimmer. Sie ist nur angelehnt und ich kann ihre Atemgeräusche hören. Ich höre, wie sie gierig die Luft einsaugt, als gehöre sie nur ihr allein. Ich gehe auf die Tür zu. Meine zittrige Hand greift nach der Türklinke. Sie ist schweißnass und doch drücke ich die Klinke nach unten. Die Tür öffnet sich mit leichtem Quietschen.

      Ich weiß, dass sie weiß, dass ich es bin, und doch fragt sie: „David, bist du es?“

      „Fahr doch, Mann, ich komme zu spät!“, zischte Laura durch zusammengebissene Zähne. Sie umklammerte das Lenkrad ihres alten Golfs, sodass sich ihre Fingerknöchel weiß abzeichneten. Sie wusste, dass der Fahrer des Mercedes vor ihr sich an die zugelassene Höchstgeschwindigkeit hielt, aber heute konnte sie das kaum aushalten. Zudem beschlich sie das Gefühl, dass der Wagen immer langsamer wurde. „Typisch Mercedes-Fahrer“, fluchte sie und nestelte mit der rechten Hand am Sendersuchlauf des Radios herum. Vielleicht würde bessere Musik ihre Stimmung heben. Erfreut hörte sie die Stimme von Phil Collins aus den Lautsprechern. Genesis, Land of Confusion, das war genau das, was sie brauchte. Als hätte der Fahrer vor ihr gemerkt, dass es hinter ihm jemand eilig hatte, machte er nun endlich Anstalten, die Fahrbahn zu wechseln und sie vorbeizulassen.

      „Geht doch“, murmelte Laura, „wurde aber auch Zeit.“ Während sie an dem neuen silbernen Mercedes vorbeifuhr, sah sie zu dem Fahrer hinüber. Der ältere Herr blickte sie grimmig an, während sich ihr klappriger Golf an ihm vorbeischob. Er machte eine Geste, als wenn er sagen wollte: „Nun mal langsam mit den jungen Pferden!“ Sie würdigte ihn keines weiteren Blickes. Ihre Gedanken waren immer noch bei der vergangenen Nacht. Sie hatte kaum geschlafen. Aber als der Wecker wie jeden Morgen um halb sieben geklingelt hatte, war sie glockenwach gewesen. Schon während sie ins Bad gegangen war, um zu duschen, hatten ihre Gedanken wieder um die Ereignisse der letzten Nacht gekreist. Um den neuen Fall. Lange hatte sie sich von dem heißen Wasser berieseln lassen, und als sie endlich aus der Dusche gestiegen war, hatte sie gedankenverloren vor dem großen Badezimmerspiegel gestanden und sich selbst angestarrt. Sie war jetzt dreiunddreißig Jahre alt und hatte braunes, schulterlanges lockiges Haar. Wie fast jede Frau hatte sie Probleme mit ihrer Figur, sie fand sich zu dick und hätte viel dafür gegeben, etwas größer zu sein. Ihre männlichen Kollegen sahen auch so schon auf sie herab. Laura bildete sich ein, dass dies anders wäre, wenn sie nur zehn Zentimeter größer wäre. Aber sie hatte gelernt, so viel Autorität wie möglich in ihr Auftreten zu legen, um ihre Körpergröße zu überspielen. Für gewöhnlich war ihre Stimme fest und sie verfügte über einen messerscharfen Verstand. Sie war noch nicht lange bei der Truppe. Vor drei Monaten war sie vom Sitten- und Rauschgiftdezernat zur Mordkommission versetzt worden. Ihr Partner Falk Ackermann behandelte sie respektvoll. Er war Anfang dreißig, wirkte aber mit seinem widerspenstigen, kurzen blonden Haar, den Sommersprossen, der schlaksigen Figur und seinem breiten Grinsen, das sehr ebenmäßige Zähne zeigte, wie ein großer Lausbube. Die meisten Kolleginnen himmelten ihn an. Laura nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn mochte. Seine ständige gute Laune ging ihr einfach nur auf die Nerven. Sie war ein Morgenmuffel und brauchte morgens erst einmal einen anständigen Kaffee, um auf Touren zu kommen. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum sie immer noch Single war. Sie wollte morgens ihre Ruhe, und Typen, die sie vor dem Frühstück schon totquatschten, konnte sie überhaupt nicht gebrauchen. Ihre Beziehung zu Ackermann war rein dienstlich und das war ihr mehr als recht. Sie war ihm zugeteilt worden und sie hatten damals beide keine Wahl gehabt. Einige Kollegen hatten schon die Bemerkung gemacht, dass sie nur zur Mordkommission hatte wechseln können, weil der Leiter des Dezernates der Meinung war, dass es zu wenige Frauen in der Abteilung gab. Sie hatte das Gefühl, dass jeder ihrer Schritte gnadenlos beleuchtet und jede Niederlage sofort registriert wurde. Wenn es nach ihrer Mutter ginge, dann gäbe es sowieso keine weiblichen Polizeibeamten. Als sie ihr damals mitgeteilt hatte, für welchen Beruf sie sich entschieden hatte, hatte sie angestrengt versucht, Laura von dieser Idee abzubringen. Sie war der Meinung, dass eine Frau einen so gefährlichen Beruf nicht ausüben sollte. Außerdem würden die meisten Frauen ohnehin heiraten und Kinder bekommen und dann zu Hause bleiben, da wäre eine langjährige Ausbildung nur Zeitverschwendung. Sie sollte doch lieber gleich arbeiten gehen und Geld verdienen. Aber Laura hatte sich durchgesetzt. Allen Widerständen zum Trotz hatte sie die Ausbildung bei der Polizei absolviert.

      Nun fuhr sie mit ihrem alten Golf über die A 656 nach Heidelberg zum rechtsmedizinischen Institut. Die Obduktion der Leiche war für acht Uhr angesetzt. Sie musste sich sputen, um nicht die Letzte zu sein, denn sie wollte auf keinen Fall in der hintersten Reihe stehen müssen. Entschlossen drückte sie das Gaspedal durch. Dabei dachte sie an die junge Frau, die nun auf dem Obduktionstisch lag und in ein paar Minuten alle Blicke auf sich ziehen würde. Auch die Bilder vom Fundort der Leiche schoben sich immer wieder vor ihr inneres Auge.

      Auf dem Parkplatz des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg ergatterte sie die letzte freie Parklücke. Sie stieg schnell aus dem Auto und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Für Mitte März war es definitiv zu kalt. Die Wettervorhersage hatte Schnee angekündigt und Laura hoffte, dass die Meteorologen sich irrten. Schnee im März hatte sie schon seit Jahren nicht mehr erlebt. Ihr Atem bildete weiße Dampfwolken, während sie zum Gebäude eilte. Froh, im Warmen zu sein, winkte sie im Vorbeigehen dem Portier zu. Ein bekanntes Gesicht. Er hob die Hand und grüßte zurück.

      Im Vorraum zum Sektionssaal wühlte sie in den Regalen nach passender Schutzkleidung. Sie erschauderte bei dem Gedanken an das, was jetzt kommen würde. Als sie einen Anflug von Übelkeit verspürte, wünschte sie sich, sie hätte doch schnell an der Tankstelle gehalten, um sich ein Croissant zu kaufen, das sie während der Autofahrt hätte essen können. Sie hatte keine Zeit zum Frühstücken gehabt und außerdem war sie viel zu aufgeregt gewesen. Zum ersten Mal hatte man ihr die Leitung eines Mordfalles übergeben, sie musste das einfach gut machen.

      Ihr erster großer Fall.

      Vor der Tür des Autopsiesaales atmete sie ein paarmal durch. Während ihrer Zeit beim Drogen- und Sittendezernat hatte sie durchaus hin und wieder Leichen gesehen. Die irgendeines Junkies, der sich zu Tode gespritzt hatte,