Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive (E-Book). Regina Scherrer

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Название Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive (E-Book)
Автор произведения Regina Scherrer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783035506914



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gewachsenen, integralen Bestandteil von Gesellschaft zu bestimmen:

      «Wenn man die Frage nach der idealen, von zeitlichen und räumlichen Umständen völlig unabhängigen Bildung an den Anfang stellt, so nimmt man damit implizit an, dass es ein Bildungssystem als eigene gesellschaftliche Wirklichkeit in keiner Weise gibt. Es wird dann nicht als eine Gesamtheit von Praktiken und Einrichtungen erkennbar, die sich im Laufe der Zeit allmählich organisiert haben; die auf alle anderen sozialen Institutionen abgestimmt sind und diese ausdrücken; die sich demzufolge nicht nach Belieben verändern lassen, sondern nur bei gleichzeitiger Veränderung der Gesellschaftsstruktur selbst. […] Es ist müssig zu glauben, wir könnten unsere Kinder nach unserem freien Ermessen aufziehen. Es gibt Gebräuche, an die uns anzupassen wir gehalten sind.» (Durkheim 1985, S. 44 f.; Übers. M. R.)

      Diese Formulierungen wirken zögernd, fast als wäre sich der Verfasser seiner Sache nicht ganz sicher. Er konstruiert den Begriff der Bildung als gesellschaftliche Institution in Abgrenzung von den seiner Einschätzung nach zu seiner Zeit vorherrschenden, idealistischen oder aber auf individuellen Nutzen bezogenen Auffassungen von Bildung, in deren Rahmen ein Begriff von Bildung als einer gesellschaftlichen Einrichtung oder eben einer sozialen Institution noch nicht einmal gedacht werden konnte.2

      Wesentlich für Durkheims (neuen) Begriff ist zunächst die Vorstellung, dass der in einer bestimmten Epoche vorherrschende Typ der Bildung und Erziehung, das heisst die ihm entsprechenden Auffassungen und Praktiken, als Produkte historischer Entwicklung zu verstehen sind, die sich aus den Erfordernissen des gesellschaftlichen Lebens insgesamt herleiten:

      «Nicht wir als Individuen haben die Gebräuche und Ideen hervorgebracht, welche diesen Typ bestimmen. Sie sind Produkt des gesellschaftlichen Lebens und Ausdruck seiner Anforderungen. Sie sind gar zum grösseren Teil das Werk früherer Generationen. […] Allein schon um ein vorläufiges Verständnis des Bildungsbegriffs zu bekommen, um die Sache zu bestimmen, die man mit diesem Begriff bezeichnet, erscheint deshalb eine historische Betrachtung als unumgänglich.» (Durkheim 1985, S. 46 f.; Übers. M. R.)

      Wie wird nun dieses Bündel von «Gebräuchen und Ideen» in sich näher beschrieben und zum gesellschaftlichen Ganzen in Beziehung gesetzt? Hier formuliert Durkheim eine fundamentale Spannung, die für die Bildungsinstitution kennzeichnend ist – auch unabhängig vom Typ der sich in einer bestimmten Epoche vorfinden lässt:

      «Es gibt, um es so auszudrücken, keine Gesellschaft, in der das Bildungssystem nicht einen Doppelcharakter hat. Es ist zugleich einheitlich und mannigfaltig. […] In der Tat kann man in einem gewissen Sinn sagen, dass es so viele unterschiedliche Arten der Bildung gibt wie unterschiedliche Milieus innerhalb einer Gesellschaft vorkommen.» (Durkheim 1985, S. 47; Übers. M. R.)

      Betrachtet man die Antike, die feudale mittelalterliche Welt oder auch die indische Kastengesellschaft, lassen sich, so Durkheim, stets Unterschiede der Formen und Einrichtungen der Erziehung finden, so etwa zwischen Patriziern und Plebejern, Rittern und Menschen gemeiner Herkunft, Angehörigen verschiedener Kasten. Aber auch in jüngeren Epochen, so argumentiert er weiter, gibt es solche Unterschiede, etwa zwischen Bürgertum und Arbeitern, Berufsständen, Stadt und Landgebieten. Allerdings steht dieser Mannigfaltigkeit gemäss Durkheim stets auch das gegenüber, was er als «einheitlich» bezeichnet, womit er vor allem das für alle Gemeinsame meint:

      «Aber welches auch immer die Bedeutsamkeit dieser besonderen Spielarten der Bildung sein mag, machen diese doch nicht die ganze Bildung aus. [W]o auch immer man sie betrachtet, unterscheiden sie sich erst ab einem bestimmten Punkt voneinander, bis zu dem sie sich ähnlich sind. Sie beruhen alle auf einer gemeinsamen Grundlage. Es existiert kein Volk, in dem es nicht eine bestimmte Anzahl von Ideen, Wahrnehmungen und Praktiken gibt, welche in der Erziehung ohne Unterschied allen Kindern beigebracht werden müssen, welcher gesellschaftlichen Kategorie sie auch immer angehören. Eine Gesellschaft ist nur lebensfähig, wenn unter ihren Mitgliedern ein hinreichendes Mass an Homogenität besteht. Anderseits jedoch wäre ohne eine gewisse Diversität Kooperation unmöglich: Das Bildungswesen stellt diese Diversität dadurch sicher, dass es sich selber diversifiziert und spezialisiert.» (Durkheim 1985, S. 88 f.; Übers. und Hervorh. M. R.)

      Zieht man ein Zwischenfazit aus dieser Darstellung des Bildungswesens als sozialer Institution, so verdienen zwei Dinge besonders hervorgehoben zu werden: Erstens lässt sich diese Institution anscheinend nur dann angemessen erfassen, wenn man sie als ein Produkt historischer Entwicklung begreift und sie zugleich in ihrer Abstimmung mit einer gegebenen historischen Gesellschaft versteht. Institution und Institutionalisierung, der Zustand, der zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben ist, und der Prozess, der dahin geführt hat, gehören somit unweigerlich zusammen. Zweitens scheint es ein Strukturmerkmal zu geben, das die Institution unabhängig von ihrem jeweiligen Entwicklungsstand zu charakterisieren scheint, nämlich die erwähnte eigentümliche Spannung zwischen Gemeinsamkeit und Mannigfaltigkeit, zwischen Homogenisierung im Sinne der Vermittlung eines allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsamen Grundstocks an Werten und Weltanschauungen, einer gemeinsamen Kultur also, und Differenzierung im Sinne eines Herstellens von Ungleichheit zwischen ihnen mittels unterschiedlichen Lehrprogrammen und Zertifikaten, die in der Gesellschaft als unterschiedlich wertvoll angesehen werden (vgl. Kapitel 4).

      Frühformen organisierter Bildungsprozesse hat es, was Europa betrifft, bereits in der Antike und im frühen Mittelalter gegeben. Sie zielten damals jedoch entweder auf die Kultivierung einer kleinen Elite oder dann auf die ‹Einweihung› ausgewählter Personen, beispielsweise Priester, in nicht allgemein zugängliche Wissensbestände meist religiösen Inhalts. Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz kam es zwar schon ab dem späten 12. Jahrhundert zur Gründung von Stadt- und Ratsschulen (Gymnasien) und einzelne städtische Behörden erlaubten auch die Eröffnung von muttersprachlichen Schulen für Lesen, Schreiben und Rechnen, die zu Vorläufern der späteren Volksschulen wurden (Historisches Lexikon der Schweiz4). Für die grosse Mehrheit der Bevölkerung jedoch fand die Weitergabe von Wissen nicht in schulähnlichen Einrichtungen statt, sondern gleichsam nebenbei, im Rahmen des ganz normalen Alltagslebens der Familien und lokalen Gemeinschaften. Dies änderte sich ab dem 16. Jahrhundert; zu dieser Zeit kam ein Prozess in Gang, an dessen Ende die Bildungsinstitution als ein komplexes Gefüge von spezialisierten Organisationen, Rollen und Verwaltungsstrukturen wie auch von eigenen Normen und Regelungen stand.

      Der Beginn dieser Entwicklung fällt nicht zufällig in die Zeit der Reformation. Sie hat offensichtlich mit der Spaltung Europas in zwei konfessionelle Lager zu tun. Hüben wie drüben war man darauf bedacht, innerhalb der eigenen Territorien eine bestimmte Sicht der Welt – eben entweder die katholische oder reformierte – zu verankern. Was die höhere Bildung anbelangt, begründete Johannes Calvin in der protestantischen Republik Genf 1559 das Collège. 1599 erschien die Schrift Ratio atque Institutio Studiorum Societatis Iesu, kurz Ratio Studiorum, in welcher Ignatius von Loyola die grundlegende Ausrichtung der jesuitischen Kollegien in den katholischen Gebieten formulierte.5 Für die protestantischen Städte Bern und Zürich vermeldet der Historiker Pietro Scandola:

      «Die beiden Stadtstaaten Zürich und Bern führten beide 1523/1525 resp. 1528 die Reformation in ihrem Staatsgebiet ein. In der Folge bauten sie ein eigenständiges höheres Bildungssystem auf, das der Ausbildung eines reformierten Pfarrernachwuchses dienen sollte: 1525 die ‹Propezey› (später Collegium Carolinum) in Zürich und 1528 die ‹Hohe Schule› in Bern. Als Grundlage der beiden neu gegründeten Akademien wurden die bestehenden städtischen Lateinschulen ausgebaut. Der Pfarrerberuf wurde bald ein Privileg der städtischen Bürgerschaften der Haupt- und Munizipalstädte, die ebenfalls über eigene, kleinere Lateinschulen verfügten. […] Die Lateinschulen waren Schulen der ganzen Bürgerschaft, waren also mehr als nur Vorbereitungsanstalten auf das Pfarrerstudium und vermittelten im 16. Jh. ein breites humanistisches Wissen» (Scandola 1991, S. 589).

      Es