Название | Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive (E-Book) |
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Автор произведения | Regina Scherrer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783035506914 |
Bildung als soziale Institution: Prozesse und Formen der Institutionalisierung 1
Moritz Rosenmund
Wenn sich die Soziologie mit Schule und Bildung befasst, so tut sie es namentlich aus zwei Blickwinkeln. Entweder richtet sie den Blick auf das, was man gemeinhin das Bildungs-, Erziehungs- oder Schulwesen nennt, also auf die Gesamtheit der Einrichtungen, die in der einen und anderen Weise Beiträge zur Bildung von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen und älteren Menschen leisten. Anders als jene Disziplinen, die sich mit dem Unterrichten und Lernen befassen, interessiert sie sich in diesem Zusammenhang für die gesellschaftlich verankerte Ordnung, in deren Rahmen Lehr- und Lernprozesse stattfinden.
Aus einer zweiten Perspektive interessiert sich die Soziologie für Bildung als ein gesellschaftlicher Wert: Bildung wird in unserer Welt als etwas Erstrebenswertes angesehen; dies sowohl aus Sicht der einzelnen Menschen wie auch aus Sicht der ganzen Gesellschaft. Entsprechend bemühen sich nationale und im Falle der Schweiz kantonale Bildungsverwaltungen sowie Lehrpersonen darum, das Gut ‹Bildung› hervorzubringen. Und ein wachsender Teil der Bevölkerung ist damit beschäftigt, sich Bildungsgüter anzueignen, also Kompetenzen und Qualifikationen zu erwerben und Abschlusszertifikate zu erlangen. Neben Fragen, wie dies am besten zu bewerkstelligen sei, stellen sich in diesem Zusammenhang auch Fragen der Verteilung. Wer soll wie viel von dem kostbaren Gut erwerben können? Welche Ursachen sind für eine ungleiche Verteilung verantwortlich und welche Folgen ergeben sich aus dieser?
Während dieser zweite Aspekt später ausführlich behandelt wird (vgl. Kapitel 3), wird in diesem Kapitel dargelegt, wie sich Bildung in der ersten Perspektive als soziale Institution beschreiben lässt. Dazu ist es zunächst erforderlich, den Begriff mit Inhalt zu füllen und ihn sodann zu Schule und Bildung in Beziehung zu setzen (Abschnitt 1). Dabei erweist es sich als nützlich, den Institutionsbegriff aus zwei Blickwinkeln zu bestimmen, nämlich einerseits aus einer Perspektive ‹von unten›, die sich für den alltäglichen Handlungszusammenhang menschlicher Subjekte interessiert (Abschnitt 1.1), anderseits ‹von oben›, das heisst ausgehend von einem Blick auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang (Abschnitt 1.2).
Dabei wird rasch deutlich werden, dass sich die Bildungsinstitution kaum angemessen beschreiben und verstehen lässt, wenn man nicht auch ihre Entstehung und historische Entwicklung in Betracht zieht. Der zweite Teil des Kapitels vermittelt deshalb einen kurzen Abriss der Institutionalisierung, das heisst der Entwicklung und Verfestigung des Bildungswesens als eines eigenen Bereichs der Gesellschaft, über die vergangenen fünf Jahrhunderte. Dabei geht es nicht um die möglichst lückenlose Darstellung einer Chronologie, sondern darum herauszuarbeiten, wie sich einige Grundmerkmale des uns heute vertrauten Bildungswesens über die Zeit hinweg herauskristallisiert und verfestigt haben. Die Darstellung erfolgt in vier Schritten: Auf die Beschreibung der Herausbildung eines dreigeteilten Schulwesens in der ständischen Gesellschaft (Abschnitt 2.1) folgt eine Diskussion des Wandels, dem es im Übergang zu einer offeneren Gesellschaftsordnung und im Rahmen der Nationenbildung unterworfen war (Abschnitt 2.2). Die beiden folgenden Abschnitte thematisieren die ‹Erfolgsgeschichte› der Bildung im 20. Jahrhundert, nämlich einerseits deren Erweiterung um Formen sekundärer und tertiärer Bildungseinrichtungen (Abschnitt 2.3) und andererseits die Institutionalisierung von Bildung im globalen Massstab (Abschnitt 2.4).
Der letzte Teil (Abschnitt 3) führt wieder zum Ausgangspunkt zurück. Dabei wird versucht, den Begriff der sozialen Institution als soziologisches Konzept etwas systematischer zu fassen. Wenn dabei von einer «sozialen Institution» die Rede ist, so bezeichnet dieser Begriff über das ganze Kapitel hinweg nicht etwa solche Organisationen, die sich in irgendeiner Weise besonders um benachteiligte Menschen kümmern: Das Beiwort «sozial» ist vielmehr gleichbedeutend mit «gesellschaftlich». Wie man noch sehen wird, kann es sich auf Einrichtungen unterschiedlichster Art beziehen.
1Zwei Ansichten sozialer Institutionen
Wer sich mit dem Begriff der sozialen Institution befasst, sieht sich mit einem Paradox konfrontiert. Auf der einen Seite handelt es sich dabei um eine sehr gebräuchliche, häufig verwendete Wortverbindung, anderseits aber sind deren Konturen äusserst unscharf, weil sie in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen auftauchen. Dies gilt gewiss für die Alltagssprache, in der zuweilen so unterschiedliche Dinge wie die AHV, die Familie oder das Stimm- und Wahlrecht, aber auch ein Jugendheim oder eine Pädagogische Hochschule als ‹Institutionen› charakterisiert werden. Es gilt jedoch auch für die Soziologie, für die der Institutionsbegriff zwar eines der zentralen Konzepte darstellt, der es jedoch nicht gelungen ist, sich auf eine einzige, überzeugende Definition zu verständigen.
Ein Hauptgrund dafür dürfte darin zu suchen sein, dass das, was der Begriff aus Sicht des Fachs bezeichnet, vom Blickwinkel abhängig ist, den man beim Versuch einnehmen kann, die ‹Architektur› von Gesellschaft zu beschreiben. Das vorliegende erste Kapitel versucht dies exemplarisch an zwei Zugängen aufzuzeigen, die im Verlauf der soziologischen Theorieentwicklung ausgearbeitet wurden. Es handelt sich zum Ersten um die Theorie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, die den Institutionsbegriff ausgehend vom elementaren Handlungszusammenhang von zunächst zwei, später dann mehreren Menschen entwickeln, zum Zweiten um den Vorschlag von Émile Durkheim, der soziale Institutionen als gegeben annimmt und ganze Gesellschaften als Zusammenhang und Zusammenwirken solcher Institutionen untersucht.
Es kann sich bei der Gegenüberstellung der beiden Ansätze nicht darum handeln, ‹die› angemessene soziologische Definition des Begriffs der sozialen Institution herauszudestillieren. Vielmehr soll deutlich gemacht werden, dass sich Phänomene, die sich im Zusammenhang mit Schule und Bildung beobachten lassen, aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben lassen und dass daraus auch unterschiedliche Darstellungen und Erklärungen von ein und demselben Phänomen resultieren können. Wer nach einer einzigen, in Fachkreisen allgemein anerkannten Definition des Institutionenbegriffs sucht, sieht sich enttäuscht. Dafür ist der begrifflich zu bestimmende Gegenstand zu vielgestaltig und komplex. Wie im Schlussabschnitt des Kapitels noch zu zeigen ist, lassen sich aber immerhin ein paar grundlegende Merkmale benennen, die für Institutionen charakteristisch sind.
1.1 Institutionalisierung im sozialen Mikrokosmos
Beginnen wir mit der Erzählung einer Begebenheit, die sich tatsächlich so zugetragen hat: Die ehemaligen Schülerinnen und Schüler einer Primarschulklasse begegnen sich anlässlich eines Klassentreffens nach 20 Jahren wieder. Etwa 25 Frauen und Männer versammeln sich zunächst zu einem Aperitif im einstigen Klassenzimmer. Anschliessend geht es mit dem Bus zu einem Restaurant auf dem Land. Wie nicht anders zu erwarten, drehen sich die Gespräche darum, wer welchen Beruf erlernt, wer bereits eine Familie gegründet hat und wer nicht. Und natürlich werden Erinnerungen an die Schulzeit ausgegraben. Gleichsam parallel dazu ereignet sich jedoch Merkwürdiges; etwas, womit man nicht unbedingt rechnen würde, wenn sich erwachsene, fest in ihrem je eigenen Leben stehende Menschen begegnen: Die ehemaligen Klassenkameraden und -kameradinnen ‹spielen›, ohne sich dessen gewahr zu werden, nochmals 6.