Systemische Beratung jenseits von Tools und Methoden. Bernd Schmid

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2008; Schmid/Messmer 2005, Kap. 11). Letzterer kann dann z. B. auch als Coach-Pool-Manager tätig werden oder die Coaching-Perspektiven in allen Unternehmensprozessen vertreten, ohne auf das klassische Repertoire eines Beraters zugreifen zu müssen, um sich als Coach zu fühlen. Eine solche professionelle Identität ist universeller und nicht an bestimmte Konkretisierungsformen gebunden.

      Von systemischer Professionalität sprechen wir, wenn bei einer Professionalisierung nicht nur ein konventionelles Berufsbild mit einem bestimmten Repertoire an Konzepten und Methoden erworben wird, sondern auch die damit verbundenen Prozesse bewusst durchlebt und parallel dazu von einem Meta-Standpunkt aus verstanden werden. Bei diesem umfassenden Lernvorgang werden dann vielfältige Kompetenzen erworben, mit denen man sich selbst und andere Menschen in Professionalisierungsprozessen unterstützen kann.

      Es ist damit zu rechnen, dass immer mehr Menschen im Laufe ihres Berufslebens mehrere professionelle Neuorientierungen durchlaufen müssen. Daher wäre es wünschenswert, wenn die Lernprozesse bei ersten Professionalisierungen so gestaltet werden, dass sie möglichst umfassend und kreativ auf künftige übertragen werden könnten. Zusätzlich müssen immer mehr Professionelle andere Menschen bei professionellen Neuorientierungen unterstützen beziehungsweise in Organisationen entsprechende Prozesse mitgestalten. Daher ist der Erwerb von Professionalisierungskompetenzen über das Erlernen eines bestimmten Berufes hinaus ein wichtiger Zusatznutzen, manchmal sogar der entscheidende Lerngewinn.

      Es genügt eben heutzutage nicht mehr, dass beispielsweise ein Bäcker es versteht, nur Brezeln zu backen. Er muss auch bedenken, wer seine Kunden sind und wie und womit neue dazu gewinnen kann und was ihre Bedürfnisse sind. Seine hervorragend schmeckenden, knusprigen Brötchen und Brezeln sowie seine leckeren Sahnetorten nützen ihm nichts, wenn sich sein Geschäft gegenüber einer großen Seniorenanlage befindet. Hier wären für Gebissträger und Diabetiker geeignete, weiche Backwaren wahrscheinlich eher ein Gewinn als wenn sich das Geschäft gegenüber einem großen Schulzentrum befände. Unser professioneller Bäcker würde wahrscheinlich ebenfalls den Markt beobachten, sich evtl. mit anderen zusammenschließen und mit seinen bissgerechten Backwaren außerdem Krankenhäuser beliefern. Dafür muss er Kontakte herstellen und überzeugen können. Er muss berechnen, ob sich der neue Aufwand personell und finanziell lohnt. Vielleicht braucht er eine gewisse Kreativität, um durch Originalität aufzufallen. Er muss spüren, was andere wünschen usw. Und vielleicht wird ihn die Bäckerinnung aufgrund seiner vielfältigen Erfahrungen und Fähigkeiten zum Aus- oder Fortbilder weniger erfolgreicher Bäcker machen.

      Professionalisierung bedeutet aus systemischer Sicht also mehr als nur Kompetenzerwerb in der Ausübung eines bestimmten Berufs. Systemische Professionalisierung umfasst alle Lernprozesse, die Menschen in die Lage versetzen, ihre fachlichen und persönlichen Kompetenzen zu immer wieder neuen beruflichen Identitäten und neuen Varianten beruflicher Praxis zusammenzufügen und damit immer wieder neu im Unternehmen oder auf den Arbeitsmärkten erfolgreich zu sein.

      Systemische Professionalisierung beinhaltet die Bereitschaft und Kompetenz, sich selbst und andere in die Lage zu versetzen, sich beruflich immer wieder neu zu finden. Hierzu gehören Klärungen vielfältiger Fragen, von denen wir wieder einige zum Reflektieren Ihres eigenen Unternehmens Beruf anbieten:

      Vielleicht erfordern diese Fragen etwas Übersetzungsarbeit, weil beispielsweise Lehrer ihre Schüler nicht unbedingt als Kunden und ihren Unterricht nicht als Produkte verstehen. Wir haben bewusst eine unternehmerische Sprache gewählt, da sie unternehmerisches Denken und unternehmerische Verantwortung für unser Berufsleben nahe legt. Außerdem haben wir Fragen der eigenen Lebensphilosophie formuliert. Beide Bereiche gehören eben zusammen. Denn systemische Professionalität bedeutet auch, diese Zusammenhänge zu gestalten.

      Die Zeiten, in denen ein Beruf ein sowohl qualitativ als auch quantitativ gut abgegrenzter Lebensbereich bleiben konnte, sind für die meisten Professionellen vorbei. Man mag die erhöhten Anforderungen und die oft damit einhergehende Leistungsverdichtung beklagen, doch müssen Professionelle auf absehbare Zeit lernen, damit umzugehen, und ein möglichst abgeklärtes und verantwortetes Verhältnis dazu finden.

      In den meisten Märkten ist ein Angebotsüberschuss zu verzeichnen. Daher ist es kaum möglich, sich dort ohne ein enormes Engagement zu bewähren. Andererseits erwarten auch Unternehmen von ihren außertariflichen Mitarbeitern volles Engagement. Hier sind 60 bis 70 Stunden Arbeitszeit pro Woche keine Seltenheit. Hinzu kommen die gestiegenen Belastungen durch gesteigerte Dynamik, Tätigkeitsmenge und Tätigkeitsvielfalt sowie das vermehrte Mitwirken in Teams und Prozessen und den hier wechselnden Rollen als dies früher der Fall war. Oft müssen noch Anforderungen an Mobilität, internationale Reisetätigkeit, Sprachkompetenzen und interkulturelle Kooperation hinzugerechnet werden.

      Gleichzeitig müssen sich junge Menschen schon sehr viel früher als noch vor wenigen Jahrzehnten mit ihrem künftigen professionellen Profil und ihrem Erfolg in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt auseinandersetzen. Hierfür leisten Schule und Hochschule bislang wenig Hilfestellung. Dies hat neben den reformbedürftigen Strukturen und Kulturen wohl auch damit zu tun, dass die Handelnden in diesen Institutionen selbst oft nicht gelernt haben, sich diesen Thematiken zu stellen.

      Aus vielen Gründen scheinen die Entscheidungsnöte bezüglich der richtigen Studien- und Berufswahl bei jungen Menschen sehr viel größer geworden zu sein. Das Damoklesschwert, zum Heer der Nutzlosen in unserer Gesellschaft zu gehören, bereitet untergründig Angst und Unruhe. Wer sich hier Zeit lassen will für eine Berufung, für ein interessantes Studium, für Lehrer, denen man sich anvertrauen will und für alle anderen Lebensinteressen, bekommt Druck. Andere absolvieren währenddessen zielstrebig praxis- und abschlussorientierte Studiengänge, machen Praktika, erwerben Zusatzqualifikationen und vertiefen Sprach- und Kulturkenntnisse bei Auslandsaufenthalten. Wo bleibt da der Raum, um mit guten Gefühlen tastende Schritte ins Leben zu machen und sich dabei womöglich noch ohne unmittelbare Verwertungsinteressen gemeinnützig oder kulturell zu engagieren?

      Unternehmen legen zwar mittlerweile durchaus Wert auf ein Engagement außerhalb von Schule und Studium und auf eine gewisse Breite der Persönlich- keitsbildung, möchten aber gleichzeitig möglichst junge, vielfältig erfahrene, einsatzbereite und zielstrebige Mitarbeiter einstellen. Hier muss man auf neue Positionierungen der Zuständigen hoffen, dass die Last solcher Balanceakte nicht ganz auf die jungen Menschen verschoben wird.

      Wünschenswert wäre auch, dass die dafür zuständigen Institutionen lernen, angemessene Bildung anzubieten, die sowohl die betroffenen Menschen, wie auch die organisationsintern Zuständigen für all diese Herausforderungen frühzeitig kompetent macht. Der Versuch, jungen Menschen in Konkurrenz zu ihren Mitlernenden immer größere Mengen an Wissen einzutrichtern, anstatt ihnen Kooperation, kollegiales Lernen und Urteilsfähigkeit für die wesentlichen Dinge sowie Lebenskunst beizubringen, führt zu Überlastungen und in Sackgassen. Fortschritte in Lernkultur und Didaktik könnten helfen, unnötige Belastungen junger Menschen wegen Orientierungslosigkeit und Beurteilungsnotstände zu minimieren. Viele Gleichgewichtsstörungen und Krisen der mittleren Lebensjahre haben mit Versäumnissen auf diesem Gebiet zu tun und die entsprechenden Lernbedürfnisse müssen vermutlich noch auf längere Zeit im Bereich der Erwachsenenbildung verspätet versorgt werden.

      Auf der anderen Seite des Lebensbogens entstehen neue Herausforderungen, Voraussetzungen und Bedürfnisse bei den Menschen jenseits der Lebensmitte. Weil damit zu rechnen ist, dass Menschen auch in akademischen Berufen künftig sehr viel länger arbeiten müssen, wird auch für sie immer dringlicher, sich von Zeit zu Zeit weiterzuqualifizieren und neu