Mein Sprung in ein neues Leben. Kira Grünberg

Читать онлайн.
Название Mein Sprung in ein neues Leben
Автор произведения Kira Grünberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783990011881



Скачать книгу

was nicht. Versuche doch mal, deine Arme zu bewegen!“ Ganz allmählich war ein leichtes Heben zu bemerken, das von der Schulter ausging. „Na bitte, die Arme funktionieren ja.“ Ich konnte seinen Optimismus nicht ganz teilen, hatte ich mir doch vorgenommen, eine Faust zu machen …

      In meiner Erinnerung war ich diejenige, die Mama aufforderte, die Rettung anzurufen. Aber in der Hektik fiel uns die korrekte Notrufnummer nicht ein. „Ruf halt 133, irgendwer wird schon abheben“, hoffte ich. Wie nicht anders zu erwarten, landete meine Mutter beim Polizeinotruf, der die wichtigsten Daten aufnahm und ihr die Nummer der Rettung mitteilte. Die war bereits informiert, als Mama den Sachverhalt durchgeben wollte, und wies sie nur mehr an, sich außerhalb der Halle zu postieren, um den Einsatzkräften den Weg zur günstigsten Zufahrt zu zeigen. „Sie sollen sich beeilen“, gab ich den Einsatzkräften mit auf den Weg, die sich nicht lange bitten ließen. Sieben Minuten später rollten zwei Kranken- und ein Notarztwagen in die Leichtathletikhalle. Noch schneller war nur die Polizei an Ort und Stelle gewesen.

      In Ausnahmesituationen wie dieser funktioniert man wie ein Roboter, hinterfragt nicht viel. Möglich, dass meine Mutter dem Wunsch der Beamten sonst nicht nachgekommen wäre, das Video von meinem Unglückssprung vorzuführen, während die Rettungsleute alle Hände voll zu tun hatten, mich aus dem Einstichkasten zu bergen. Die Amtshandlung gipfelte nach einer kurzen Befragung, ob zum Zeitpunkt des Unglücks weitere Personen anwesend waren, in der Erkenntnis, dass nach derzeitigem Ermittlungsstand ein Fremdverschulden nicht sehr wahrscheinlich war. Da waren Freude und Erleichterung natürlich groß.

      Auch bei den Rettungskräften musste alles seine Ordnung haben. Auf Nachfrage ratterte ich anstandslos meine Versicherungsnummer herunter, nur die e-card hatte ich nicht griffbereit. Die war sicher in der Geldtasche in meinem Auto verwahrt, von wo sie Mama umgehend herbeischaffte. Ich kann mich an keinen Moment aufkommender Panik erinnern, sehr wohl aber an die Frage, die ich an mich selbst richtete: „Wie wird mein Leben jetzt wohl weitergehen?“ Ich vergoss auch keine Tränen, glaube aber, dass man in solchen Momenten viel zu sehr damit beschäftigt ist, einfach am Leben zu bleiben. Denn selbiges hing, ohne dass ich es wusste, an einem seidenen Faden. Oder eigentlich an zwei. Denn von den vier Arterien, die das Gehirn mit Blut versorgen, pumpten zu diesem Zeitpunkt nur mehr die beiden Arteriae carotides internae, die inneren Halsschlagadern. Die zwei Arteriae vertebrales (Wirbelarterien) hingegen waren durch den Aufprall gequetscht und abgeklemmt worden. Eine Schmalspurversorgung, die im schlimmsten Fall zum Hirntod führen kann. Doch auch die plötzliche Öffnung einer der Wirbelarterien hätte mich in akute Gefahr bringen können. Das Eindringen eines Blutpfropfens ins Gehirn löst im Normalfall einen Schlaganfall aus.

      Gut, dass ich von diesen Szenarien erst viel später erfuhr – am Beginn der Rehabilitation. Und deswegen die längste Zeit blutverdünnende Mittel verschrieben bekam. Ich wäre im Lauf des Rettungseinsatzes wohl noch ein bisschen angespannter gewesen, hätte auch nicht die Muße gehabt, der Konversation meiner Mutter mit der Notärztin zu lauschen. Die nette Medizinerin berichtete, mich aus der Zeitung zu kennen, erst unlängst einen Artikel über mich gelesen zu haben. Und dass es ihr leidtäte, mich unter solchen Umständen wiederzusehen. Mir auch, das konnte sie mir glauben. Ein Sanitäter verpasste mir eine Plastik-Halskrause, die Notärztin legte mir einen Zugang zur Vene, über den mir, so vermutete ich zumindest, Beruhigungs- und Schmerzmittel gespritzt wurden. Prophylaktisch eher, denn von Schmerzen war ich keineswegs geplagt. Wie denn auch, wenn man vom Hals abwärts nichts spürt?

      Was ich aber sehr wohl als äußerst unangenehm empfand, war dieses Kribbeln auf der Haut meiner Arme, das sich bei jeder Berührung verschlimmerte. Zum ersten Mal fiel mir diese Wahrnehmung auf, als mich Mama kurz nach dem Unfall streichelte, um mir gut zuzureden, mir Mut zu machen. Es fühlte sich an, als würden Ameisen über meine Arme laufen, als würde meine Haut regelrecht explodieren. Die Empfindung blieb für die nächsten zwei Wochen meine unliebsame Begleiterin.

      Für die sieben Sanitäter entpuppte sich die Bergung als ganz schön schwierige Übung. Die für derartige Fälle vorgesehene ausklappbare Liege erwies sich im Einstichkasten als unbrauchbar, die Matten links und rechts verhinderten, dass sie zur Entfaltung kam. Rund 15 Minuten dauerten die Versuche, mich aus meiner Notlage zu befreien und in den Krankenwagen zu hieven. Am Ende trugen mich die Rettungskräfte buchstäblich auf Händen. Als alles verstaut war und dem Abtransport nichts mehr im Wege stand, bemerkte ich, dass Clemens von meiner Seite gewichen war. So hieß jener Sanitäter, der Papa als meine „Kopfstütze“ abgelöst hatte. Zu ihm hatte ich in den vergangenen Minuten scheinbar eine Art Vertrauensverhältnis aufgebaut. Mein Wunsch, dass er mich, zusätzlich zu meiner Mutter und anstelle eines Sanitäters, den ich bisher nur aus der Ferne wahrgenommen hatte, im Rettungsauto begleiten möge, stellte die Einsatzleitung vor gewisse organisatorische Probleme, zumal Clemens einer anderen Rettungsorganisation zugehörig gewesen sein dürfte als der Krankenwagen, in dem ich mich befand. Am Ende wurde meiner Bitte doch entsprochen, und der Tross setzte sich Richtung Landeskrankenhaus in Bewegung.

      Unterdessen hatte Mama bereits unser nächstes Umfeld über die unerfreulichen Entwicklungen informiert – und auch niemanden im Unklaren gelassen, mit welcher Diagnose zu rechnen sei. Zuerst alarmierte sie Angie, die Mutter eines meiner Trainingskollegen, die als Sprechstundenhilfe für unseren Vertrauensarzt Christian Hoser arbeitet. Sie muss ihn umgehend erreicht und er alles stehen und liegen gelassen haben, traf er doch ziemlich gleichzeitig mit uns im Uniklinikum, seiner ehemaligen Arbeitsstätte, ein. Der zweite Anruf galt meinem Freund Christoph, der in seiner Wohnung in Graz saß und an der Bachelorarbeit feilte. Der dritte meinem Manager Tom Herzog, der vierte meiner Schwester Brit. „Brauchst aber nicht zu kommen“, legte Mama ihr nahe, weil sie offenbar fand, dass man das Leid nicht auf noch mehr Personen verteilen müsse. Brit dachte nicht daran, untätig zu Hause auf Nachrichten zu warten, und brach auf, wurde unterwegs aber von Mama zur WUB-Halle umdirigiert. Dort hatte Papa, der per Pkw ins Krankenhaus hätte nachkommen sollen, ebenso fieberhaft wie vergeblich nach dem Autoschlüssel gesucht. Als Brit mein Trainingsdomizil betrat, sah sie die Schlüssel auf dem Stabhochsprungkissen liegen und Papa ein wenig konfus umherirren. Womit ihr augenblicklich klar wurde, dass es ohnedies besser sei, ihn in diesem Zustand nicht ans Steuer zu lassen.

      Es waren 43 Minuten seit meiner Bruchlandung vergangen, als wir in der Notaufnahme eintrafen. Auf die holprige Fahrt mit Blaulicht und Sirene hätte ich durchaus verzichten können. Die Federung des Rettungsautos übertrug jede Bodenwelle, jedes auf den ungeteerten Wegen des WUB-Areals befindliche Schlagloch auf mich, und ich machte mir zunehmend Sorgen, dass sich meine Verletzung durch das permanente Durchgerütteltwerden weiter verschlimmern könnte. Wenigstens war ich durch Mamas Telefongespräche abgelenkt, ich hatte ihr noch aufgetragen, meinen Vorgesetzten beim Bundesheer, Vizeleutnant Hechenberger, über den Stand der Dinge zu informieren. Im Krankenhaus schob man mich sogleich in den Schockraum und bettete mich auf eine Krankenhausliege um. Mama musste draußen warten, und ich freute mich über das vertraute Gesicht von Christian Hoser, der kurz mit mir sprach, sich nach meinem Befinden erkundigte.

      Unverzüglich wurde ein CT von Kopf und Halswirbelsäule angefertigt, das Aufschluss darüber geben sollte, wie es tatsächlich um mich stand. Alsbald begannen die Vorbereitungen für eine Operation, eine Notoperation, eine Operation als lebenserhaltende Maßnahme, wie meinem Manager später als Input für seine erste offizielle Aussendung mitgeteilt wurde. Bei mir verfehlten die diversen Medikamente und Mittelchen indessen ihre Wirkung nicht. Vieles von dem, was mir seit Jahren aufgrund der Anti-Doping-Bestimmungen bei Strafe verboten war, wurde nun in rauen Mengen in mich hineingepumpt. Und obwohl ich nicht auf die Idee kam, Einspruch zu erheben, so schoss mir doch zwischenzeitlich der Gedanke ein: „Wenn jetzt die Dopingkontrolleure kämen, hätten sie’s lustig mit mir.“

      Nicht minder skurril gestaltete sich die Konversation mit dem medizinischen Personal. Eine Assistentin eröffnete mir, dass mein T-Shirt für die Operation aufgeschnitten werden müsse. Ich führe es auf mein wegen der Halskrause sehr eingeschränktes Blickfeld und auf meine Sedierung zurück, dass ich heftig protestierte, weil ich der irrigen Auffassung war, dasselbe coole, weiße Michael-Kors-Leibchen mit aufgedruckter rosa Brille zu tragen, das ich frühmorgens vor dem Weg zur Physiotherapie übergestreift hatte. Die Krankenhaus-Bedienstete versicherte mir, mein Lieblings-T-Shirt vorsichtig an der Seitennaht aufzutrennen, damit es später problemlos zusammengenäht werden könne. Zurück bekam