Mein Sprung in ein neues Leben. Kira Grünberg

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Название Mein Sprung in ein neues Leben
Автор произведения Kira Grünberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783990011881



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Stand überwindet. Der Schmerz, als ich mit der Außenkante des rechten Fußes über die Hürde rollte, verhieß nichts Gutes. Zumal auch das Eintauchen in einen Kübel mit kaltem Wasser keine Linderung brachte. Ich war auf die Diagnose „Bänderriss“ gefasst, als ich in der Praxis von Dr. Christian Hoser, meinem langjährigen medizinischen Begleiter, Freund der Familie und sogar zeitweiligen Trainingspartner (der Masters-Mehrkämpfer überwindet mit dem Stab Höhen von vier Metern!) vorstellig wurde. Ein Röntgenbild und eine Ultraschalluntersuchung später war es ärgerliche Gewissheit: Ligamentum fibulotalare anterius gerissen, Ligamentum fibulocalcaneare eingerissen. Klingt unheilvoll, war es auch.

      Von der Leichtathletik-WM im Olympiastadion von Peking trennten mich nur noch sechs, vom Limitschluss nur mehr vier Wochen. Anspruchsvolle 4,50 Meter hatte der Internationale Leichtathletikverband IAAF als Richtmarke festgesetzt, fünf Zentimeter über meiner Anfang März in Prag erzielten Bestleistung. Das versetzte mich keineswegs in Panik. Ich hatte die Leistungen der internationalen Konkurrenz stets im Auge behalten, war mir sicher, dass man am Ende auf mich als erste oder zweite Nachrückerin zurückgreifen würde, um das angepeilte Feld von 30 Athleten aufzufüllen. Ich aber wollte mich aus eigener Kraft qualifizieren und das idente Olympialimit gleich mit abhaken.

      Also switchte ich noch am gleichen Tag in den Therapiemodus, ließ mir von Dr. Hoser eine Schiene verpassen – eine kleinere für untertags, eine größere für die Nachtlagerung – und wählte die Nummer des Physiotherapeuten meines Vertrauens. Klaus Ullmann hatte meine müden Knochen, Muskeln und Sehnen noch jedes Mal auf Vordermann gebracht, und das von meinem 14. Lebensjahr an. Er ließ mich auch diesmal nicht hängen, beorderte mich zwecks Akutbehandlung an dem gleichen Abend zu einem Gasthof in Rum, wo er einen Teil des Skisprung-Nationalteams um sich geschart hatte. Die Lymphdrainagen an diesem und dem nächsten Tag sorgten dafür, dass die Schwellung keine allzu imposanten Ausmaße annahm.

      Den Rest besorgten die Sporttherapie Huber in Rum, die sich des Stabilisationstrainings annahm – und ich. Bei jeder Gelegenheit lagerte ich die Beine hoch, pappte Topfen auf die schmerzenden Körperstellen, schmierte Salben drauf, legte Verbände an. Und veranlasste meinen Vater Frithjof, unseren 5,5 mal 2,5 m kleinen Pool mit Wasser zu befüllen. Für meine nächste Therapieeinheit: Aquapaddling, auf der Luftmatratze liegend, während mir die Sonne auf den Rücken schien. So eine Zwangspause hatte zweifellos auch ihre guten Seiten. Zumal sich ihr Ende früher ankündigte als befürchtet. Vielleicht lag es an den netten Genesungswünschen, die mir das österreichische Team von der Leichtathletik-U20-EM im schwedischen Eskilstuna übermittelt hatte. Die Botschaft blieb für zwei Wochen der letzte Eintrag in meiner Facebook-Aktivitätenliste. Und sie war nicht schlecht gewählt:ihrer zeitlosen Aktualität wegen.

      An diesem 18. Juli, drei Tage nach dem Bänderriss, entledigte ich mich der „Familienkrücken“, ließ sie vorsichtshalber aber noch nicht in dem schwarzen Loch hinter der Dachbodentür verschwinden. Meinem Manager Tom Herzog schickte ich als Beweis meiner zurückkehrenden Fitness ein Selfie-Video, das meine Füße zeigte, wie sie sich ohne jede Unsicherheit, ohne jedes Wackeln Schritt für Schritt vorwärts bewegten. Mussten sie auch, denn ein paar Stunden später waren sie einer beachtlichen Belastungsprobe ausgesetzt. Wir hatten Papa zum 57er eine Paintball-Session geschenkt, die es einen Tag nach dem Geburtstag einzulösen galt. Dr. Hoser hatte mir für den Spaß grünes Licht gegeben. „Solange du die Schiene trägst und nur robbst, sollte es kein Problem geben.“ Die Schiene habe ich artig getragen, und gerobbt bin ich auch. Ab und zu zumindest. Und überhaupt: Das Band war ohnehin schon gerissen. Was sollte denn noch Schlimmeres passieren?

      Der Zustand des Sprunggelenks verbesserte sich trotzdem stetig, und exakt eine Woche nach dem Fehltritt wagte ich mich wieder in die WUB-Trainingshalle in Innsbruck. Das Krafttraining für den Oberkörper hatte ich ohnehin nie unterbrochen, jetzt aber schreckte ich, geschützt durch eine schnittige Aircast-Schiene, auch vor ersten Trainingssprüngen nicht zurück. Von einem Sprungkasten zwar, aber immerhin. Der ersparte mir die Belastung des Anlaufs, denn die zwei Schritte reichen problemlos, um viele technische Komponenten des Sprunges durchzuspielen. Am übernächsten Tag, dem 24. Juli, war ich noch ein wenig kecker, ließ die Schiene Schiene sein und bestritt das Training lediglich mit einem getapten Sprunggelenk. Auch diese Belastungsprobe verlief zu meiner vollsten Zufriedenheit. Worauf ich einen weiteren Tag später auf den Kasten verzichtete und meinem rekonvaleszenten Bein den Anlauf auf dem Betonboden mit aufgelegten Tartan-Läufern zumutete. Nicht die vollen 16 Schritte, wie ich sie seit dieser Saison zwecks Geschwindigkeitsmaximierung in Wettkämpfen praktizierte, aber zumindest die Hälfte. Und zwei Tage später schon zwei Drittel. Üblicherweise beinhaltete mein Trainingsprogramm nur zwei Stabeinheiten pro Woche, doch nach dem Bänderriss galt es, verlorenes Terrain zurückzuerobern, das richtige Gefühl aufzubauen. Meine Taktik schien zu greifen, die Sprünge fühlten sich jedenfalls richtig vielversprechend an, und so war meine Entscheidung alsbald in Stein gemeißelt. Die Union Leichtathletik Gala am 1. August auf der Linzer Gugl sollte Schauplatz meines Comebacks, im Idealfall meines erfolgreichen Limitversuches sein. Kein schlechter Boden für mich, hatte ich doch dort 2014 den österreichischen Freiluftrekord zwischenzeitlich auf 4,41 Meter geschraubt.

      An meiner unmittelbaren Wettkampfvorbereitung hatte ich über viele Jahre herumexperimentiert, bis sich schlussendlich ein ganz simples Timing als für mich am zweckmäßigsten herauskristallisiert hatte: drei Tage vor dem Tag X das letzte Training, rund 24 Stunden davor eine kurze Krafteinheit, um den Muskeltonus und damit die nötige Spritzigkeit für den Ernstfall aufzubauen. So wollte ich es auch diesmal wieder handhaben – bis mir mein Vater per Anruf eröffnete, berufsbedingt einen Tag länger in der Schweiz bleiben zu müssen. Ein unbedeutendes Detail, wäre mir Papa nicht mein ganzes Stabhochsprungleben lang als Coach zur Seite gestanden. Das Abschlusstraining ohne ihn zu bestreiten kam so gar nicht infrage. Es musste also am Morgen des 30. anstatt des 29. Juli über die Bühne gehen. Keine große Affäre, ich war erfahren und selbstsicher genug, um mich von so einer kleinen außerplanmäßigen Änderung nicht ansatzweise aus der Ruhe bringen zu lassen. Wir waren schon viele Male von meinem bevorzugten Timing abgewichen – wetterbedingt zum Beispiel, oder weil wir sehr spät am Wettkampfort angekommen waren, ich aber noch die Stabhochsprunganlage austesten wollte.

      Der Tag, der mein Leben so tiefgreifend und nachhaltig verändern sollte, begann denkbar unspektakulär. Wie üblich riss mich mein Wecker um 6.15 Uhr aus einem tiefen, ungestörten Schlaf, in den 55 Minuten bis zum Verlassen des Hauses galt es, die Trainingstasche zu packen, Morgentoilette, Frühstück (wie so oft Hirse mit Obst und Nüssen) und einen kurzen Check, was der befreundete Teil der Welt über Nacht so alles auf Facebook abgesondert hatte, unterzubringen. Mein erster Weg führte mich zum mittlerweile sechsten Mal seit dem Außenbandriss zur Sporttherapie Huber, wo die für mich zuständige Physiotherapeutin bereits in den Startlöchern scharrte. Auf dem Weg zu ihr hatte ich mich bei meiner Dienststelle, dem Heeres-Leistungssportzentrum 06, gemeldet. Vizeleutnant Walter Hechenberger, der Kommandant des HLSZ in Innsbruck, schätzte es über alle Maßen, die zu genehmigende telefonische Standeskontrolle zwischen 7.45 und 8.00 Uhr entgegenzunehmen.

      Als ich das Therapiezentrum in Rum Richtung Innsbruck verließ, kündigte sich ein eher unfreundlicher, windiger Julitag an, der kälteste in diesem Jahrhundertsommer 2015. Eine undurchdringliche Wolkenschicht hing schwer über dem Inntal, kein Wunder, dass sich auch die Temperatur nicht aus der Reserve locken ließ. Nicht einmal über die 15-Grad-Grenze. Früher hätte ich mich auf eine erfrischende Trainingseinheit auf dem Sport-Campus der Universität Innsbruck einstellen müssen, doch seit 2013 stand uns Leichtathleten mit der WUB-Halle (auf dem Areal der früheren Wagnerschen Universitäts-Druckerei) eine provisorische, aber durchaus passable Indoor-Homebase zur Verfügung, die 2016 durch einen Neubau ersetzt wurde. Ich nützte die Möglichkeit weidlich aus, nicht nur bei Schlechtwetter. Die Halle steigerte signifikant die Trainingseffizienz. Keine abgebrochenen Sprungversuche wegen plötzlich auftretender Windböen, keine Ablenkung, kein aufwendiges Hin- und Hertransportieren des 20 Kilo schweren Trainingsequipments, zu dem auch mehrere der rund zwei Kilo schweren Stäbe gehörten. All das hatte ich in der Halle jederzeit griffbereit.

      Als ich um 9.15 Uhr eintraf, herrschte in der Trainingsstätte erwartungsgemäß keinerlei Betrieb. Die Sportkollegen fanden sich zumeist erst nachmittags und abends ein, viele hatten ihre Wettkampfsaison ohnedies schon beendet, andere befanden sich bereits auf Urlaub. Störte mich