Mein Sprung in ein neues Leben. Kira Grünberg

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Название Mein Sprung in ein neues Leben
Автор произведения Kira Grünberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783990011881



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Crush auf dem Handy spielen, Müßiggang, die Batterien aufladen – so und nicht anders wäre der Tag vor der Abreise nach Linz in weiterer Folge verlaufen. Ich begann mit meinem Aufwärmprogramm: Dehnen, Laufübungen, Lauf-ABC. Letzteres beinhaltete unter anderem koordinative Übungen, seitliches Übersteigen, Skipping und Hopserläufe. Während des Warm-ups trudelten meine Eltern ein. Auch meine Mutter hatte längst einen fixen Part innerhalb des Teams eingenommen. Sie war während der Trainings für das Videomanagement zuständig, zeichnete jeden meiner Sprünge auf. Als Hilfestellung für unmittelbare Korrekturen und als Instrument profunder Analysen in der Nachbereitung. Papa wiederum konzentrierte sich zur Gänze auf die Trainingsgestaltung und die Ausführung meiner Versuche.

      Am Beginn jeder Einheit stand ein Austausch hinsichtlich der abzuarbeitenden Trainingsinhalte. Papa hatte mich zu einer mündigen Athletin erzogen, die viel hinterfragte, die den Nutzen dieses oder jenes Elementes begreifen wollte. Und die auch mal zu diskutieren anfing, wenn ihr der tiefere Sinn dieser oder jener Übung verborgen blieb. An diesem 30. Juli gab es nichts zu diskutieren. Im Fokus stand, mich an die Wettkampfsprünge heranzutasten, ein positives Gefühl abzuspeichern, mich optimal vorzubereiten. Der Schlüssel dazu: ein paar gelungene Vorübungen. Ich begann mit vier Schritten Anlauf, verwendete dafür einen starren Stab, an dem man nach dem Absprung mehr oder minder nur dranhängt, landete wie geplant einmal auf den Füßen, einmal im Sitzen, einmal auf dem Rücken und einmal auf dem Bauch. Alles im grünen Bereich, keine Wiederholungen nötig. In der Folge war ausgemacht, nach jeweils zwei gut gelungenen Versuchen die Anlauflänge um vier Schritte zu erhöhen. Beginnend mit acht, dann zwölf, bis zu meiner damals maximalen Schrittzahl von 16.

      Ich wählte einen weichen Stab, der sich auch mit nur acht Schritten vortrefflich biegen lässt, begann mit der Vorbereitung auf den Sprung, sprühte ein wenig Klebeharz auf die Hände, um mehr Grip zu erhalten, und richtete mir das Schweißband am linken Handgelenk, um die obligatorischen blauen Flecken zu vermeiden. Dann setzte ich mich in Bewegung. Ein letztes Mal.

      Gleichzeitig drückte Mama die „Record“-Taste der Videokamera. Es war exakt 9.40 Uhr. Aufnahme lief. Etwa 15 Sekunden lang. Cut.

      Ich habe das Unfallvideo mittlerweile sicherlich zehnoder zwölfmal gesehen. Selten mit Trauer oder Wehmut, viel öfter mit detektivischer Neugier, was um alles in der Welt bei diesem Sprung so derart schiefgelaufen ist. Ohne eine befriedigende Antwort erhalten zu haben. Das Video per se hinterlässt den Betrachter keineswegs schockiert. Zumindest wenn man den Ton ausgeschaltet lässt. Die Schreie, die ich nach dem Überqueren der Schnur in vier Meter Höhe und beim Aufprall auf dem Boden von mir gab, sind nicht jedermanns Sache. Es hört sich an, man möge mir den drastischen Vergleich nachsehen, als ob ein Schwein abgeschlachtet würde. Zu sehen aber sind nur Anlauf, Absprung, Flugphase – und dass ich nicht dort lande, wo ich hätte landen sollen. Im Einstichkasten nämlich und nicht auf der Matte. Dieser Einstichkasten jedoch ist durch die Seitenteile der Matte verdeckt. Ich verschwinde gewissermaßen spurlos darin. So wie sich meine ganze Sportkarriere, von ein paar nackten Zahlen in den Rekord- und Ergebnislisten abgesehen, in Sekundenbruchteilen in Nichts aufgelöst hat.

      Es gibt Möglichkeiten zuhauf, einen Versuch vorzeitig abzubrechen. Indem man den Stab kurz vor dem Absprung wegwirft und durchläuft, wenn sich abzeichnet, dass die Anlauflänge nicht gepasst hat. Indem man nicht aufrollt, sich an den Stab klammert und loslässt, sobald man sich über der Matte befindet, wenn beim Absprung Unvorhergesehenes eintritt. Oder sich, wenn der Sprung weiter fortgeschritten ist, vom Stab in der Luft Richtung Matte abstößt. Ich machte von keiner dieser Optionen Gebrauch. Weil sich der Versuch beim Absprung gut angefühlt hatte. Erst in der Streckphase beschlich mich das Gefühl, dass es dem Sprung an Tiefe fehlen könnte. Aber abbrechen? Ich hatte bestimmt schon 50 Sprünge dieser Art im Laufe meiner Karriere ohne gravierende Blessuren überstanden. Weil man äußerst selten kerzengerade vertikal nach unten fällt, sich daher zumeist auf einen Seitenteil der Matte retten kann.

      Gravierender Fehler lässt sich keiner feststellen, das bestätigte mir auch Weltrekordler Renaud Lavillenie, der mich in der Reha in Bad Häring besucht hat. Zumindest keiner, der diese Folgen erklärbar macht. Wenn überhaupt, dann hatten sich mehrere kleine Unzulänglichkeiten summiert. Vielleicht fehlte mir nach dem Bänderriss durch die verpassten Lauftrainings der letzten Tage noch eine Nuance zur gewohnten Geschwindigkeit, vielleicht hatte ich für diesen Speed um eine Spur zu hoch gegriffen, dem Stab beim Absprung zu wenig Energie gegeben, zu wenig mit den Armen, mit den Schultern gearbeitet. Und dennoch: Ich hatte die Schnur, die man im Training anstelle einer Latte verwendet, überquert, um dann, allen physikalischen Gesetzmäßigkeiten zum Trotz, im Flug die Richtung zu ändern. Als mir über der Schnur bewusst wurde, wohin die Reise gehen würde, war es für Korrekturen längst zu spät. Es schien, als würde mich eine geheimnisvolle Kraft von der Matte wegziehen.

      Ein Bewegungsablauf aus dem Lehrbuch endet klarerweise auf dem Stabhochsprungkissen. Als Faustregel gilt: je weicher der Stab, desto weiter weg vom Einstichkasten erfolgt die Landung. Im Extremfall kommen die Fersen in ausgestreckter Rückenlage einen Meter von der Mattenkante entfernt zum Liegen. Bei der Verwendung von harten Stäben können die Beine bereits ab der Kniekehle von der Sprungmatte baumeln. Ich aber verfehlte bei meinem letzten Karrieresprung diese „Landebahn“ um 1,2 bis 2,2 Meter. Eine Welt.

      Welche „Maßarbeit“ andererseits nötig war, in der Absprungzone zu liegen zu kommen, lässt ein Blick auf die Form derselben erahnen. Der 1,2 Meter lange, trapezförmige Einstichkasten aus Metall (wie in der WUB-Halle) oder Hartplastik weist an der dem Anlauf zugewandten Seite eine Breite von 60, an der der Matte zugewandten Seite eine solche von nur mehr 15 Zentimetern auf. Durch die Neigung des Innenlebens von 11,3 Grad findet sich am Ende des Einstichkastens auch der tiefste Punkt, 20 Zentimeter unterhalb der Oberkante. Er leitet den Athleten bzw. den Stab damit gewissermaßen zum idealen Absprungpunkt. Innen- und Außenmaße divergieren wegen der Aufbauten stark. Die Breite beträgt an der Außenkante 84 (Anlaufseite) bzw. 65 Zentimeter (Mattenseite). Mit einem Abstand von rund zehn Zentimetern zu den Seitenteilen der Matte ergibt sich ein an der engsten Stelle etwa 85 Zentimeter breites Loch, in das ich aus vier Meter Höhe zielsicher und krachend hineinstürzte. Nicht kopfüber, wie die ersten Medienberichte signalisierten, sondern, wie bei jedem geglückten Sprung auch, horizontal. Aber so unglücklich, dass ich mit dem fünften Halswirbel auf die vorderste Kante des Einstichkastens prallte, die das Rückenmark auf Höhe des sechsten Halswirbels massiv beschädigte. Die Kräfte, die bei einem Aufschlag auf einer Metallkante aus dieser Höhe frei werden, kann man sich ausmalen. Die Folgen, die eine ebensolche schwere Quetschung oder gar Durchtrennung des Rückenmarks auf Höhe des zweiten Halswirbels, zwei, drei Zentimeter weiter oben, nach sich gezogen hätte, ebenso. Fazit: Game over.

      Mein Kopf ragte also über die Absprungvorrichtung hinaus, berührte vermutlich am Scheitel die Matte; Rumpf, Arme und Beine waren, da wo sie reinpassten, im 20 Zentimeter tiefer liegenden Einstichkasten positioniert; alles, was dort keinen Platz fand, ruhte auf den Aufbauten rundherum. Ein riesiger blauer Fleck Höhe der linken Niere zeugte von der Wucht des Aufpralls. In dieser misslichen Lage fanden mich meine Eltern, die von ihrer seitlichen Beobachterposition zur Unglücksstelle gesprintet kamen. Es ist schwer zu rekonstruieren, welche Gedanken in den Momenten nach dem Aufprall durch meinen Kopf rasten, aber ich nahm instinktiv wahr, dass mein Leben nach dem 30. Juli 2015 ein anderes sein würde als davor. Allem voran deuteten die gut spürbaren letzten Nervenzuckungen in meinen Beinen darauf hin. „War’s das?“, fragte ich meine Eltern, ohne heute zu wissen, was genau ich mit „das“ gemeint haben könnte. Die Karriere? Das Leben?

      Mein Vater bedeutete mir, mich zunächst einmal gar nicht zu bewegen. Er machte sich daran, Kopf und Rücken zu stabilisieren, mich in eine annähernd horizontale Liegeposition zu bringen. Nachdem seine Kräfte nach ein paar Minuten zu schwinden begonnen hatten, gelang es meiner Mutter, mir Kleidungsstücke unterzuschieben, um meine Schultern zu entlasten, die auf dem harten Metall der Kastenumrandung lagen. Ich bat Mama, mir die Sportschuhe auszuziehen. Irgendwie hatte ich abgespeichert, dass das in solchen Situationen zu tun sei. Obwohl es für mich keinerlei Unterschied machte. „Bewege einmal deine Beine“, forderte mich Papa auf. „Bewegst du schon?“, frage er kurz darauf, und ich bejahte. „Gut machst du’s“, lobte er, aber ich sah nur allzu deutlich, dass sich meine Beine überhaupt nicht rührten. Jeder von uns wusste, was das zu bedeuten hatte, und ich