Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt. Thomas P Fenner

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Название Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt
Автор произведения Thomas P Fenner
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199044



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und die Grösse150 einer Anglo-Swiss, verfügte dafür über wissenschaftlich fundiertes technisches Wissen und vermochte damit eine Marke mit hoher fachlicher Anerkennung aufzubauen.151 Nestlé operierte zwar mit bescheideneren Umsatzzahlen als die Anglo-Swiss, dafür aber mit höheren Gewinnmargen.152

      Bereits 1878 erhielt der Angriff der Anglo-Swiss auf das Kindermehl der 1875 in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Farine Lactée Henri Nestlé153 allerdings einen argen Dämpfer: Ein Jahr nach der Übernahme brannte die Kindermehlfabrik in Flamatt ab, womit die Diversifikationsanstrengungen der Anglo-Swiss auf diesem Gebiet geplatzt waren.154 Ebenso scheiterte der Versuch, Nestlé zu kaufen, während George Page das Angebot einer gemeinsamen Fusion kategorisch ablehnte.155

      Weit gravierender war jedoch, dass sich die Nestlé den Angriff auf ihr Kindermehl nicht bieten liess und im Gegenzug ins Kerngeschäft der Anglo-Swiss vordrang, indem sie ebenfalls gezuckerte Kondensmilch zu produzieren begann. Von diesem Moment an entbrannte ein erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den beiden Unternehmen: Die Anglo-Swiss versuchte aufgrund ihrer Skalenerträge, Nestlé in einen Preiskampf zu verwickeln, und senkte ihre Preise um 2 Franken 40 Rappen pro Kiste, worauf das Unternehmen aus Vevey mit einem noch tieferen Preis konterte, was sich das Unternehmen aus Vevey aufgrund der Gewinne mit Kindermehl leisten konnte. Ausserdem strahlte die starke Marke, welche sich Nestlé im Bereich des Kindermehls aufgebaut hatte, auch auf das Kondensmilchgeschäft aus. Umgekehrt gelang es der Anglo-Swiss nicht, eine gut durchdachte Werbekampagne zu organisieren. Viele Detaillisten beklagten sich über die nervöse Preis- und Markenpolitik der Anglo-Swiss und wandten sich vom Unternehmen ab, was sich auch auf die Umsatzzahlen niederschlug: Zwischen 1885 und 1890 konnte Nestlé ihren Kondensmilchumsatz verdreifachen und auf Kosten der Anglo-Swiss Marktanteile gewinnen, während der Absatz des Chamer Unternehmens in derselben Zeitspanne um einen Drittel einbrach.156

      Der Konkurrenzkampf zwischen Nestlé und der Anglo-Swiss zeigt, dass Skalenerträge alleine noch kein Erfolgsrezept sein mussten und technisches Wissen und der Aufbau von starken Marken mindestens ebenso wichtig sein konnten. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, schlitterte die Anglo-Swiss durch die Defizite in den beiden letztgenannten Bereichen immer mehr in die Krise, die schliesslich zur Fusion mit Nestlé führte.

      Durch die Urbanisierung, neue ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse und Konservierungstechniken entwickelte sich die Milch im «Zeitalter des Hochkapitalismus»157 zum modernen Massenprodukt,158 was zu rasanten Veränderungen des Marktumfelds führte: Die Dauermilchproduktion trat Ende des 19. Jahrhunderts in ihre Wachstumsphase. Die Zahl der Konkurrenten stieg.159 Dabei verpasste es die Führung der Anglo-Swiss, wichtige Neuerungen im Bereich der Milchkonservierung frühzeitig zu erkennen: die Entwicklungen der keimfreien, ungezuckerten Kondensmilch und der sterilisierten Flüssigmilch.160

      Nachdem die Anglo-Swiss nach dem verunglückten Eintritt ins Kindermehlgeschäft zu Beginn der 1880er-Jahre auch mit der Lancierung von Malzextrakten wenig Erfolg gehabt hatte, wurde George Page gegenüber neuen Produkten zunehmend kritisch. So lehnte er beispielsweise die Idee seines Mitarbeiters Johann Meyenberg ab, eine sterile, ungezuckerte Kondensmilch auf den Markt zu bringen. Dieser wanderte daraufhin nach Amerika aus, wo sich die ungezuckerte Kondensmilch als «Evaporated Milk» zu einem äusserst erfolgreichen Produkt entwickelte.161

      Eine zusätzliche Konkurrenz erwuchs der gezuckerten Kondensmilch zudem mit der sterilisierten Flüssigmilch, welche um 1890 zur Verpflegung der europäischen Dampfschifffahrtsgesellschaften rasch bedeutend wurde. Aus dieser Entwicklung gingen unter anderem die 1892 gegründete Berneralpen Milchgesellschaft in Konolfingen und 1895 die Centralschweizerische Natur-Milch Exportgesellschaft in Hochdorf hervor.162

      Einsichtig geworden, folgte die Anglo-Swiss 1894 ebenfalls diesem Markttrend, indem sie eine sahnehaltige Kondensmilch unter dem Namen Ideal Cream auf den Markt brachte und 1896 die norwegische Anglo-Scandinavian Condensed Milk Company mit Fabriken in Hamar und Sandesund übernahm, die sterilisierte Flüssigmilch und ungezuckerte Kondensmilch herstellte.163

      Im Gegensatz zu Nestlé, der Berneralpen Milchgesellschaft164 und der Schweizerischen Milchgesellschaft Hochdorf165 versäumte es die Anglo-Swiss zudem, sich am Aufstieg der Schweizer Milchschokolade um die Jahrhundertwende zu beteiligen, welcher mit der erstmaligen Verfügbarkeit eines geschmacklich befriedigenden Milchpulvers in direktem Zusammenhang stand.166 Vorläufer der Milchschokolade wie Cocoa & Milk und Chocolate & Milk blieben für das Chamer Unternehmen Nebenprodukte, deren Weiterentwicklung nicht als Kernaufgabe angesehen wurde.167 Stattdessen war es Daniel Peter, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Nestlé an der Herstellung eines Milchkaffee- und Milchkakaopulvers tüftelte und Ende der 1880er-Jahre erstmals eine feste Milchschokolade herstellte.168 1904 stieg Nestlé über eine Kooperation mit Peter ebenfalls ins aufstrebende Schokoladegeschäft ein: Das Milchunternehmen verpflichtete sich, das Kapital der Société Générale du Chocolat Peter & Kohler um eine Million Schweizer Franken zu erhöhen, dem Schokoladefabrikanten Milch zu liefern169 und den Verkauf der Schokolade im Ausland zu übernehmen. Umgekehrt war Peter & Kohler für die Schokoladeproduktion zuständig und verpflichtete sich, ebenfalls Schokolade unter der Marke Nestlé herzustellen.170 1905 kam die erste Milchschokolade unter der Marke Nestlé auf den Markt, die damals vor allem in Grossbritannien verkauft wurde.171

      Statt auf Innovation und Diversifikation setzte die Anglo-Swiss auf geografische Expansion. Ihren neuen Entwicklungsschwerpunkt sah sie in den Vereinigten Staaten, wo sie ihre Produktionskapazitäten in den 1880er-Jahren mit gewaltigen Fabrikationsanlagen erweiterte:172 1878 erstmals in Amerika tätig geworden, versuchte sie während der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung in den Vereinigten Staaten, mit Hilfe von Grössenvorteilen die dortigen Kondensmilchmärkte zu erobern. Nachdem das Chamer Unternehmen 1882 eine erste Milchfabrik in Middletown erstellt hatte, baute sie 1889 in Dixon die damals grösste Kondensmilchfabrik der Vereinigten Staaten auf.173

      Der US-amerikanische Kondensmilchmarkt war allerdings weit umkämpfter als der europäische. Neben Borden hatten auch andere Unternehmer das Kondensmilchgeschäft entdeckt. Die rasche Ausweitung des Angebots durch den Bau grosser Fabriken führte zu einer Marktsättigung und brachte Überkapazitäten mit sich, die auf die Preise und Margen drückten. Statt der erhofften Gewinne durch Skalenerträge wurde die grosse Fabrik in Dixon bald zur finanziellen Belastung für das Unternehmen.174 Damit die Warenvorräte nicht übermässig anwuchsen, musste die Produktion gedrosselt werden. Ausserdem konnte Borden als «First Mover» den Marktanteil seiner Qualitätsmarke Eagle-Brand mühelos verteidigen, indem in rascher Folge billige «Kampfmarken» auf den Markt gebracht wurden,175 welche die Preise der Konkurrenz unterboten und diese aus dem Markt drängten.

      Auch die Anglo-Swiss reagierte auf dem US-Markt mit Billigmarken, welche die eigene Qualitätsmarke Milkmaid vor Preisabschlägen schützen und gleichzeitig den Kondensmilchumsatz des Unternehmens ankurbeln sollten. Da die Marke Milkmaid in den Vereinigten Staaten allerdings noch nicht etabliert war, hatte diese Marketing-Strategie den unerwünschten Nebeneffekt, dass der Marktanteil der eigenen Billigmarken innerhalb kurzer Zeit grösser war als derjenige der Hauptmarke Milkmaid. Eine langfristige Bindung des Kunden an die Marke Milkmaid wurde dadurch verhindert. Die Kampfmarken schwächten deshalb – anders als bei Borden – nicht die Konkurrenz, sondern in erster Linie die Marktstellung der Anglo-Swiss selbst.176

      Die Misswirtschaft im US-Geschäft177 liess den Gewinn des Unternehmens innerhalb von fünf Jahren auf einen Drittel einbrechen, die Börsenkurse sanken, Aktionäre gerieten in Panik und verkauften ihre Unternehmensanteile. Die schlechten Ergebnisse spalteten die Eigentümer der Anglo-Swiss in den 1890er-Jahren in zwei Fraktionen: Auf der einen Seite die Aktionäre aus England und Amerika, welche die Expansion in den Vereinigten Staaten forcieren wollten. Auf der anderen Seite die Schweizer Aktionäre und Finanzinstitutionen, welche das Hauptgeschäft des Unternehmens in Europa sahen und deshalb heimlich eine Unternehmensverschmelzung mit Nestlé suchten. In diesem Interessenskonflikt