Название | Letzte Erfahrungen |
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Автор произведения | Hermann Pius Siller |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783429060534 |
Die Zeit der anglikanischen Reformbewegung und ihres Scheiterns
Die akademische Karriere war gut auf den Weg gebracht, als sich schon wieder ihr Ende, aber langsam auch ein neuer vielversprechender Horizont abzeichnete. Die Zeit um das Jahr 1827 war im Leben Newmans so etwas wie eine Achsenzeit. Seine ehrenvolle Bestellung als Examinator an der Universität musste er wieder zurückgeben, weil er einen physischen Zusammenbruch erlitt. Die von Newman und den befreundeten Fellows am Oriel-College beim neuen Vorsteher eingeforderte Studienreform in Gestalt eines reformierten Tutorats wurde effektiv zum Scheitern gebracht. Zeitlich parallel betraf ihn eine schwere wirtschaftliche Belastung und vor allem der Tod seiner jüngsten Schwester Mary. Der theologische Liberalismus, dem er durch seinen Lehrer Whately am Oriel nahe gekommen war, schien all dem nicht gewachsen gewesen zu sein. Dazu kam als positive Herausforderung das intensive Studium der Kirchenväter und die Freundschaft mit Richard Hurrell Froude. Mit Froude eröffnet sich für Newman ein neuer Horizont auf, in dem sich eine kritischere Distanz zu den reformatorischen Kirchen, eine Bewunderung der römischen Kirche, Distanz zum politischen und theologischen Liberalismus und eine asketische, vom Breviergebet bewegte Spiritualität abzeichneten. Dazu kam vor allem, dass Froude eine freundschaftliche Nähe zwischen John Keble und Newman vermittelte. Aus der Perspektive einer akademischen Studienreform entwickelte sich langsam die Einsicht in die Notwendigkeit einer Kirchenreform. 1830 gab Newman in einer Predigt seiner Ahnung Ausdruck, was ihm bevorstehen könnte: „Abraham gehorchte dem Ruf und machte sich auf den Weg, ohne zu wissen, wohin. So werden auch wir, wenn wir der Stimme Gottes folgen, Schritt für Schritt in eine neue Welt geführt, von der wir vorher keine Ahnung gehabt haben. Sein gütiges Walten über uns geschieht so: Er gibt in Weisheit nicht alles auf einmal, sondern nach Maß und Zeit … Wir müssen von vorn beginnen“ (DP VIII, 198f.).
Von dem kranken Hurrell Froude und seinem Vater eingeladen unternahm Newman mit diesen zusammen 1832/33 eine Mittelmeerreise. Als Hurrell und sein Vater nach England zurückkehrten, konnte sich Newman noch nicht von Süditalien und Sizilien trennen. Beim Ausbruch einer Epidemie wurde er lebensgefährlich krank. Da spürte er in einer auch für ihn bedrohlichen Situation, in der „rings um ihn die Leute starben“, eine unerledigte Aufgabe, die in England auf ihn wartete. Oft berichtete er später: „Ich glaubte, Gott habe noch ein Werk für mich zu tun“ (SB 153; LD III, 314). An der Dringlichkeit der sich abzeichnenden Aufgabe erlebte er eine deutliche Berufung. Die Reform seiner Kirche wartete auf ihn. Aus dieser Sicht nimmt sich sein einsamer Ausreißer in Sizilien als Eigenwilligkeit aus, als „Kampf gegen Gott“, als eine Verweigerungshaltung vergleichbar dem Verhalten Sauls (SB 152; CK 314–318).7 In zahlreichen Briefen und Berichten kam Newman auf dieses Schwellenerlebnis zurück.8 Es bezeichnete für ihn einen biographischen Einschnitt und einen kirchenreformerischen Ausgangspunkt, dessen er sich bis ins Alter hinein immer wieder versichern musste. Die Providenz, das innere Motiv seiner Lebensgeschichte, gewann dabei einen neuen Akzent und eine Konkretion über die innerseelische Auseinandersetzung zwischen Eigenwille und Hingabe an den göttlichen Willen hinaus. Providenz heißt nun vor allem Führung in eine unabsehbare Zukunft. Das literarische Zeugnis, das er auf der Heimreise verfasste und mit dem er sich paradoxerweise in die anglikanische Frömmigkeitsgeschichte einschrieb, beginnt:
„Führ liebes Licht, im Ring der Dunkelheit
führ du mich an …
du führ an
den Weg zu schauen, zu wählen war mir Lust
doch nun: führ du mich an.“9
Hochsensibilisiert zuhause angekommen und am folgenden Sonntag von John Kebles Predigt entzündet bekam das Werk, das auf ihn wartete, Umrisse. Eine Lawine der „Tracts for the Times“ rollt los. In einem seiner Vorträge reflektierte er seinen spirituellen Zustand in Hinsicht auf die providentielle Führung und fragte sich: „Wie viel muss man auf Vertrauen hin annehmen, um etwas zu erreichen! Wie wenig kann man verwirklichen, außer mit Anstrengung des Willens; wie viel Freude kommt dadurch, dass man sich fügen kann, zustande!“ (Proph. Off. 400)
Vor allem in den Predigten dieser Zeit suchte er seine Providenzerfahrung für sich und seine Hörer aufzuarbeiten. Eine seiner wunderbaren Predigten zum Thema „Gott führt jeden“ knüpft an Gen 16,13: „Darum rief Hagar, als ihr der Engel in der Wüste erschien, zum Herrn: ‚Du, o Gott, siehst mich‘“ (DP III, 127–141). Newmans Providenzerfahrung war eine Erfahrung Aug in Auge. Davon soll noch die Rede sein. Providenz und Berufung stehen in engem Zusammenhang. Dies meditiert er an 1 Sam 3,10: „Der Herr kam und stand vor ihm und rief: ‚Samuel Samuel!‘ Da antwortete dieser: ‚Rede, Herr, dein Diener hört.‘“ Dementsprechend suchte Newman die Berufungsgeschichten der Evangelien konkret im Leben seiner Hörer zu festzumachen: „Jene, die ein frommes Leben führen, erfahren, wie ihnen dann und wann Wahrheiten mit Macht vor Augen treten, die sie vorher nicht erkannten oder deren Erwägung sie nicht für notwendig erachteten“ (DP VIII, 23–38). Berufung und Providenz sind für Newman nicht weltenthoben und geschichtslos. Gott stößt einen sozusagen mit der Nase auf etwas, was man zuvor in seinem Leben übersehen hat.
Nachdem sich die Anglikanische Kirche in ihrer Gebundenheit an den englischen Staat bewegungsunwillig oder -unfähig gezeigt hat, nachdem auch ein Teil der Oxfordbewegung dem Tract 90 nicht mehr folgen wollte, nachdem für Newman die „Via media“ als nicht gangbar und unter kirchengeschichtlicher Perspektive als falsch einsichtig geworden war und er schließlich die Katholizität und Apostolizität nur noch in der römischen Kirche finden konnte, spitzte sich für Newman die persönliche Situation zu. „Am Schluss habe ich mich feierlich Gott hingegeben, dass er über mich verfüge, wie er will, dass er aus mir mache, was er will, dass er mir auferlege, was er will“ (SB 288f.). Zu den Freunden entstand Distanz. Vielleicht am ungeschütztesten und vertrauensvollsten hatte er bis zuletzt im Briefverkehr mit Keble sein Erschrecken geäußert, sein Erschrecken vor den verborgenen Wegen der Providenz, sein Erschrecken vor der Ungeborgenheit, in die diese Providenz ihn geführt hatte (CK 225, 301, 315, 317; ähnlich an Faber ebd. 253; vgl. sein Gebet um Klärung CK 314–318). Er erklärte sich zu allem bereit, was die Providenz zeigt (AM II, 343).
Die katholische Zeit
Was der Übertritt in eine andere Glaubensgemeinschaft im Zeitalter konfessionalistischer Milieus für einen Konvertiten bedeutete, davon kann man sich vom Standort eines pluralistischen Individualismus aus kaum eine zureichende Vorstellung machen. Für Newman war der Abbruch mancher Freundschaft besonders schmerzhaft. Selbst das Gespräch mit John Keble versiegte. Newman fand sich in einer anderen Welt; er hatte sich an andere Erwartungen, an andere Umgangsformen, an andere Instanzen zu gewöhnen. Auch die kirchlichen Probleme stellten sich in der katholischen Binnensicht anders dar als vorher in der anglikanischen Außensicht. Schmerzhaft war für Newman, dass sich gerade diejenigen, die den gleichen Weg gegangen waren, nun in der katholischen Kirche auf dem ultramontanen Flügel eingeordnet hatten und nun seine Gegner geworden waren.
Newman nahm sich Zeit für eine Neuorientierung. Zwar stellte er fest: „dass man mir noch nicht gerecht geworden ist. Aber ich muss all das ihm überlassen, der weiß, was tun mit mir“ (LD XII, 32).10