Letzte Erfahrungen. Hermann Pius Siller

Читать онлайн.
Название Letzte Erfahrungen
Автор произведения Hermann Pius Siller
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429060534



Скачать книгу

durch Sigmund Freuds und George Herbert Meads Identitätsverständnis nachhaltig desillusioniert. Das schlägt inzwischen auch im Lebensgefühl – manchmal vielleicht schon zu stark – durch. Jeder von uns trägt – das wissen wir – auch Fremdbestimmendes in sich, mit dem er sich ständig auseinander zu setzen hat. In die Identität gehört neben der Selbstbestimmung auch das Fremdbestimmende.6 Wer einer sein kann und sein will, muss er erst in konkreten Situationen herausbekommen. Insofern ist uns Newmans Konflikt Selbstbestimmung versus Providenz so völlig fremd nicht.

       Die Zeit der anglikanischen Reformbewegung und ihres Scheiterns

      Die akademische Karriere war gut auf den Weg gebracht, als sich schon wieder ihr Ende, aber langsam auch ein neuer vielversprechender Horizont abzeichnete. Die Zeit um das Jahr 1827 war im Leben Newmans so etwas wie eine Achsenzeit. Seine ehrenvolle Bestellung als Examinator an der Universität musste er wieder zurückgeben, weil er einen physischen Zusammenbruch erlitt. Die von Newman und den befreundeten Fellows am Oriel-College beim neuen Vorsteher eingeforderte Studienreform in Gestalt eines reformierten Tutorats wurde effektiv zum Scheitern gebracht. Zeitlich parallel betraf ihn eine schwere wirtschaftliche Belastung und vor allem der Tod seiner jüngsten Schwester Mary. Der theologische Liberalismus, dem er durch seinen Lehrer Whately am Oriel nahe gekommen war, schien all dem nicht gewachsen gewesen zu sein. Dazu kam als positive Herausforderung das intensive Studium der Kirchenväter und die Freundschaft mit Richard Hurrell Froude. Mit Froude eröffnet sich für Newman ein neuer Horizont auf, in dem sich eine kritischere Distanz zu den reformatorischen Kirchen, eine Bewunderung der römischen Kirche, Distanz zum politischen und theologischen Liberalismus und eine asketische, vom Breviergebet bewegte Spiritualität abzeichneten. Dazu kam vor allem, dass Froude eine freundschaftliche Nähe zwischen John Keble und Newman vermittelte. Aus der Perspektive einer akademischen Studienreform entwickelte sich langsam die Einsicht in die Notwendigkeit einer Kirchenreform. 1830 gab Newman in einer Predigt seiner Ahnung Ausdruck, was ihm bevorstehen könnte: „Abraham gehorchte dem Ruf und machte sich auf den Weg, ohne zu wissen, wohin. So werden auch wir, wenn wir der Stimme Gottes folgen, Schritt für Schritt in eine neue Welt geführt, von der wir vorher keine Ahnung gehabt haben. Sein gütiges Walten über uns geschieht so: Er gibt in Weisheit nicht alles auf einmal, sondern nach Maß und Zeit … Wir müssen von vorn beginnen“ (DP VIII, 198f.).

      „Führ liebes Licht, im Ring der Dunkelheit

      führ du mich an …

      du führ an

      den Weg zu schauen, zu wählen war mir Lust

      Hochsensibilisiert zuhause angekommen und am folgenden Sonntag von John Kebles Predigt entzündet bekam das Werk, das auf ihn wartete, Umrisse. Eine Lawine der „Tracts for the Times“ rollt los. In einem seiner Vorträge reflektierte er seinen spirituellen Zustand in Hinsicht auf die providentielle Führung und fragte sich: „Wie viel muss man auf Vertrauen hin annehmen, um etwas zu erreichen! Wie wenig kann man verwirklichen, außer mit Anstrengung des Willens; wie viel Freude kommt dadurch, dass man sich fügen kann, zustande!“ (Proph. Off. 400)

      Vor allem in den Predigten dieser Zeit suchte er seine Providenzerfahrung für sich und seine Hörer aufzuarbeiten. Eine seiner wunderbaren Predigten zum Thema „Gott führt jeden“ knüpft an Gen 16,13: „Darum rief Hagar, als ihr der Engel in der Wüste erschien, zum Herrn: ‚Du, o Gott, siehst mich‘“ (DP III, 127–141). Newmans Providenzerfahrung war eine Erfahrung Aug in Auge. Davon soll noch die Rede sein. Providenz und Berufung stehen in engem Zusammenhang. Dies meditiert er an 1 Sam 3,10: „Der Herr kam und stand vor ihm und rief: ‚Samuel Samuel!‘ Da antwortete dieser: ‚Rede, Herr, dein Diener hört.‘“ Dementsprechend suchte Newman die Berufungsgeschichten der Evangelien konkret im Leben seiner Hörer zu festzumachen: „Jene, die ein frommes Leben führen, erfahren, wie ihnen dann und wann Wahrheiten mit Macht vor Augen treten, die sie vorher nicht erkannten oder deren Erwägung sie nicht für notwendig erachteten“ (DP VIII, 23–38). Berufung und Providenz sind für Newman nicht weltenthoben und geschichtslos. Gott stößt einen sozusagen mit der Nase auf etwas, was man zuvor in seinem Leben übersehen hat.

      Nachdem sich die Anglikanische Kirche in ihrer Gebundenheit an den englischen Staat bewegungsunwillig oder -unfähig gezeigt hat, nachdem auch ein Teil der Oxfordbewegung dem Tract 90 nicht mehr folgen wollte, nachdem für Newman die „Via media“ als nicht gangbar und unter kirchengeschichtlicher Perspektive als falsch einsichtig geworden war und er schließlich die Katholizität und Apostolizität nur noch in der römischen Kirche finden konnte, spitzte sich für Newman die persönliche Situation zu. „Am Schluss habe ich mich feierlich Gott hingegeben, dass er über mich verfüge, wie er will, dass er aus mir mache, was er will, dass er mir auferlege, was er will“ (SB 288f.). Zu den Freunden entstand Distanz. Vielleicht am ungeschütztesten und vertrauensvollsten hatte er bis zuletzt im Briefverkehr mit Keble sein Erschrecken geäußert, sein Erschrecken vor den verborgenen Wegen der Providenz, sein Erschrecken vor der Ungeborgenheit, in die diese Providenz ihn geführt hatte (CK 225, 301, 315, 317; ähnlich an Faber ebd. 253; vgl. sein Gebet um Klärung CK 314–318). Er erklärte sich zu allem bereit, was die Providenz zeigt (AM II, 343).

       Die katholische Zeit

      Was der Übertritt in eine andere Glaubensgemeinschaft im Zeitalter konfessionalistischer Milieus für einen Konvertiten bedeutete, davon kann man sich vom Standort eines pluralistischen Individualismus aus kaum eine zureichende Vorstellung machen. Für Newman war der Abbruch mancher Freundschaft besonders schmerzhaft. Selbst das Gespräch mit John Keble versiegte. Newman fand sich in einer anderen Welt; er hatte sich an andere Erwartungen, an andere Umgangsformen, an andere Instanzen zu gewöhnen. Auch die kirchlichen Probleme stellten sich in der katholischen Binnensicht anders dar als vorher in der anglikanischen Außensicht. Schmerzhaft war für Newman, dass sich gerade diejenigen, die den gleichen Weg gegangen waren, nun in der katholischen Kirche auf dem ultramontanen Flügel eingeordnet hatten und nun seine Gegner geworden waren.