Название | Letzte Erfahrungen |
---|---|
Автор произведения | Hermann Pius Siller |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783429060534 |
A Erfahrung von Providenz
1. John Henry Newmans biographische Erfahrungen2
Die nationale Religion Englands
Im ersten Teil seiner Zustimmungsgrammatik beschrieb John Henry Newman die „Religion Englands“ kritisch als eine Religion bloß begrifflicher Zustimmung (Z 37–40).3 Damit meinte er, dass die Leute den Sätzen einer Religion ihre Zustimmung so geben, wie sie am Anfang des Lebens den durch ihre Erziehung vermittelten Prinzipien, Werten, Normen und Lebensauffassungen überhaupt zustimmen, indem sie vorhandenes Wissen, Allgemeinbildung und Weltanschauungen zunächst einfach übernehmen. „Bloß begrifflich“ nannte Newman diese angelernte Religion, weil ihre Zustimmung meist nur den angelernten Begriffen gilt. Sie umfasst selten auch die damit gemeinte Wirklichkeitsbehauptung, wie es die Dogmen und die sakramentalen Riten tun. Diesen liegt eine reale und nicht nur eine begriffliche Zustimmung zugrunde, eine Zustimmung also, die auf eine Wirklichkeit vorzugreifen, eine Wirklichkeitserfahrung zu realisieren sucht. Das Subjekt stimmt, sich persönlich bestimmend, zu. Weil die nationale Religion Englands in diesem Sinne sich also selten und nur schwach auf Wirklichkeit beziehe, deshalb bleibe sie zumeist im Begrifflichen oder im subjektiven Gefühl befangen.
Die Schwäche und Stärke dieser nationalen Religion bestehe auch darin, dass sie „Bibelreligion“ bleibe. Die Bibel wird in der Kirche, in der Familie und privat gelesen. Sie habe den Geist des Volkes auf religiöse Gedanken gestimmt, ihm einen sittlichen Maßstab gegeben, ihn zu großen Werten inspiriert. Weil sie Bibelreligion sei, darum sei sie auch „nicht eine Religion von … Glaubensakten und unmittelbarer Andacht, sondern von heiligen Szenen und frommen Gefühlen. Sie ist verhältnismäßig sorglos dem Bekenntnis und dem Katechismus gegenüber, und hat infolgedessen wenig Sinn gezeigt für die notwendige Übereinstimmung ihrer Lehrgegenstände miteinander.“ (Z 40) Aber eine Ausnahme sieht Newman: „Was die Schrift besonders darlegt von ihrer ersten Seite bis zur letzten, ist Gottes Providenz, und das ist nahezu die einzige Lehre, die von der Masse religiöser Engländer mit einer realen Zustimmung gehalten wird.“ Newman ist also der Ansicht, wohl aus seiner persönlichen Anschauung und Erfahrung, dass in dieser englischen „Leutereligion“ und in ihrer Bibelpraxis wenigstens zu einem kirchlichen Glaubenssatz eine reale Zustimmung vollzogen wird: nämlich zu Gottes Providenz.
Wen zählt Newman zu dieser „nationalen Religion Englands“? Nicht nur den calvinistischen Puritanismus, nicht allein die Evangelikalen (Low Church), nicht nur die anglikanische High Church. Das seien nur einzelne Schulen und Parteiungen. Im Auge hat Newman dabei die Masse fromm gesinnter und rechtschaffen lebender Leute aller Stände, also die gesamten unterschiedlichen Erscheinungsformen der Religion des englischen Volkes. Von dieser behauptet Newman, bei aller sonstigen Kritik, voll Anerkennung, dass sie in einem Punkt lebendig sei, voll realer Zustimmung: in der Lehre von der Providenz. In der Religion, in die er selber hineingeboren und hineinerzogen wurde, gab es mit ihrem Glauben an die Providenz einen lebendigen Pulsschlag.4
Biographische Realisierungen
Newmans Sicht der Religion Englands bleibt nicht in einer distanzierten soziologischen oder religionswissenschaftlichen Beobachterperspektive. Von realer Zustimmung, die eben auch in der „Leutereligion“ möglich ist, lässt sich adäquat nur aus einer Teilnehmerperspektive sprechen. So legt sich dem Historiker nahe, nach dem Ort Newmans früher Begegnung mit der Religion Englands zu suchen. Vermutlich ist dies das Haus seiner Großmutter Elisabeth Good-Newman in Fulham. Dort verbrachte er frühe Kindheitsjahre und Ferien. Dort bekam er die Bibel und den Katechismus in die Hand. „Was immer an Gutem in mir ist, schulde ich, nächst der Gnade, der Zeit, die ich in jenem Hause … verbracht habe. Ich vergesse nicht ihre (der Großmutter H.P.S.) Bibel und die Bilder darin“ (AM II, 448). Hier also wird Newman mit der Religion der Engländer und deshalb auch mit „Providenz“ vertraut. Wie eine Bestätigung dieser Annahme liest sich ein Segenswunsch der Großmutter an ihren Enkel: „dass der allmächtige Gott mit dir sein möge, wie er mit Josef (von Ägypten) war“ (LD I, 19). Die biblische Josefserzählung ist ja bekanntlich eine Geschichte göttlicher Führungen und Fügungen in einem Leben voller Anschläge und Intrigen.5
Eine einmalige Entscheidung genügt allerdings nicht, um die begriffliche Zustimmung zu der Lehre von der Providenz in eine reale Zustimmung zu überführen. Die Realisierung solcher Glaubenssätze muss in der Lebensgeschichte in immer neuen Schüben und in unterschiedlichen Situationen geschehen, wie auch die Dogmen in der Lebensgeschichte je neuer Realisation bedürfen (DP III, 127–142). So reklamiert die Rede von der Providenz Gottes Gegenwart im Leben. Der religiöse Mensch hat das Walten der Providenz in seinem Leben jeweils zu realisieren (DP IX, 380–385). Eine besondere Art, die reale Zustimmung zu der in seiner Lebensgeschichte wirkenden Providenz zu vollziehen, ist Newmans autobiographisches Werk. Im Schreiben seiner Tagebücher und autobiographischen „Bekenntnisse“ realisiert er existentiell, nicht nur theoretisch, die in seinem Leben tragenden Providenzerfahrungen: Dogma im Lebensvollzug. Die Predigt von 1837 zum Thema „Gottes Führung im Rückblick auf unser Leben“ (DP IV, 289) ist vor diesem Hintergrund zu lesen. Newman kann im Rückblick auf sein Leben die religiösen Impulse, die er bekam, die theologischen Herausforderungen an sein Denken, Wahrnehmen und Handeln, die umwerfenden Zumutungen an seine Lebenskonzeptionen als providentiell „realisieren“.
Die akademische Wegstrecke
Das Jahr 1816 war für Newman ein ereignisreiches Jahr: der wirtschaftliche Zusammenbruch der väterlichen Bank, eine Krankheit, die in den autobiographischen Schriften nur angedeutet wird, die an seiner Schule in Ealing verbrachten Sommerferien, der in dieser Zeit durch seinen Lehrer Mayers ausgeübte evangelikale Einfluss, den er als „Bekehrung zu Gott“ erlebt und beschrieben hat, und damit verbunden, die Aufnahme dogmatischer Eindrücke, „die durch Gottes Güte niemals ausgelöscht und getrübt wurden“ (A 22). Im Dezember des Jahres 1816, brachte ihn sein Vater nach Oxford, um ihn im Trinity-College immatrikulieren zu lassen. Ein Jahr später bewarb er sich dort um ein Stipendium. In seinem Tagebuch betete er: „Gott, lass nicht zu, dass ich durch diese Erwartung (den erwarteten Erfolg dieser Bewerbung H.P.S.) von Dir getrennt werde. Gewähre, meinen Geist so in Zucht zu halten, dass ich nicht enttäuscht bin, wenn es schlecht ausgeht; sondern deinen Namen lobe und preise, weil du besser weißt, was für mich gut ist“ (SB 204). Damit wird ein Konflikt angesprochen, der für die folgenden Jahre kennzeichnend blieb: der Konflikt zwischen Eigenwille, Eigensinn, Ehrgeiz, zu wenig Selbstverleugnung, zu viel Freude am Erfolg einerseits und Gottvertrauen, Frieden des Herzens, Geborgenheit im Willen Gottes, Glaube an Gottes Providenz andererseits. Sein persönliches Gegenbild wurde das selbstgerechte Verhalten Sauls (SB 219; DP III, 39–54). Vor dem dann für ihn selber doch nicht zufriedenstellend gelungenen Abschlußexamen schrieb er: „Ich will nicht um den Erfolg beten, sondern um das Gute“ (SB 54f.). Und in einem Tagebucheintrag: „Ich bitte nicht um Erfolg, sondern um den Frieden des Herzens“ (SB 208). Vor der Prüfung bei der Bewerbung um eine Fellowstelle am Oriel-College betete er an seinem Geburtstag: „Du siehst, wie versessen und, ich fürchte, abgöttisch meine Sehnsucht danach ist, im Oriel-College Erfolg zu haben. Nimm all meine Hoffnung weg, warte keinen Augenblick, o mein Gott, wenn ich dabei deinen Geist gewinne“ (SB 237). Aus der Zeit vor seiner Diakon- und Priesterweihe gibt es ähnliche Äußerungen.
Dieser spirituelle und asketische Konflikt war für eine Religiosität insbesondere des vergangenen 19. und 20. Jahrhunderts oder für ein Bildungsverständnis, das sich als Selbstverwirklichung versteht, unschwer nachvollziehbar. Hier stand die Providenz dem Interesse an sich selber wie eine fremde Macht gegenüber. Aber inzwischen ist uns, den Menschen