Название | Letzte Erfahrungen |
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Автор произведения | Hermann Pius Siller |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783429060534 |
74 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 22.
75 Ders., Summa contra gentiles, LIII, 71–77.
4. Lebensstile unter der Providenz
Der Liberalismus hat anders als der Sozialismus kein in sich konsistentes Programm. Er hat sich als erstaunlich wandlungs- und anpassungsfähig in unterschiedlichen geschichtlichen Situationen erwiesen und sich immer wieder an anderen Gegnern neu definiert. Er ist eine Art sich globalisierender Bewegung. Deshalb stellt sich die Frage, ob es in dieser Bewegung etwas gibt, das sich durchgehalten hat, ob es einen Kern gibt, den man die eigentliche Einsicht des Liberalismus nennen könnte. Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir in dieser Sache nicht von außen her urteilen können, sind wir doch alle liberal. Die political correctness ist in unseren Breiten liberal und auch wer sich in dieser oder jener Frage davon absetzt, geht doch davon aus. Unter liberaler Lebenshaltung versteht man im Allgemeinen: aufgeklärt, progressiv, weltoffen, tolerant; negativ gewendet: beliebig, gleichgültig gegenüber der Wahrheitsfrage, fortschrittlich, eher blind gegenüber den dunklen Seiten konkreter Wirklichkeit. Nicht-liberal – was keiner so richtig sein möchte – erscheint dann leicht als nicht tolerant, nicht lernfähig, nicht reformfähig, fremdenfeindlich, unfähig zum Diskurs. Es gibt selbstverständlich eine Bandbreite von Schattierungen. Es gibt zugespitzte Klischees, die zur Sortierung und Diffamierung taugen. Oder gibt es in liberalen Lebenshaltungen vielleicht Maximen einer Selbstverständigung, die problematisierungsbedürftig sind?
Erbesein
Ein Jahr nach der Französischen Revolution entfachte Edmund Burke mit seinen Betrachtungen „Über die Französische Revolution“76 einen Streit, auf den sich ein Jahr später Thomas Payne mit seiner Schrift „Die Rechte der Menschen“ einließ. Die beiden brachten meines Erachtens die Unterschiede zwischen Liberalismus und Konservativismus im Streit um die Menschenrechte auf den Punkt. Hannah Arendt und Alain Finkielkraut haben ihn aufgenommen und fortgeführt. Burke kritisierte an der Menschenrechtserklärung, dass sie aus konkreten Menschen mit ihren vielfältigen Zugehörigkeiten abstrakte Individuen herausdestilliere. Finkielkraut fasst das so zusammen: „Im Gegensatz zur stolzen Vernunft der Aufklärung vertraut die konservative Klugheit den Toten, das heißt der in den Gewohnheiten, Institutionen und vorgefassten Meinungen verborgenen Vernunft. Der Konservative stellt den Menschen im Allgemeinen die besonderen Traditionen gegenüber, sowie der Abstraktion die Autorität der Erfahrung. Und dem schimärenhaften Individuum die tatsächliche Wirklichkeit des sozialen Wesens, den Ansprüchen der Gegenwart die Verehrung der Vergangenheit und schließlich der Philosophie die Soziologie und Geschichte.“77 Payne setzt einem solchen Konservativismus entgegen: „Ich streite für das Recht der Lebenden und dagegen, dass einer es dem anderen vermacht oder dass es durch die willkürlich angemaßte, geschriebene Autorität der Toten beherrscht oder verhökert werde.“78 Der in den Überlieferungen und Kulturen etablierten Erfahrung wird eine abstrakte Vernunft entgegengestellt. Hannah Arendt nimmt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kontroverse zwischen Burke und Payne wieder auf und sucht zu zeigen, dass ein Mensch, der nur Mensch ist, kein Mensch mehr ist. Denn das erste, was die Totalitarismen diesen Menschen antaten, war, dass sie ihrer Heimat und angestammten Kultur beraubt, entwurzelt, Staatenlose wurden. Sie (z. B. die Juden, die Roma und die Sinti) verloren mit ihren Zugehörigkeiten auch eine Macht, die ihre Rechte wahrnahm. Sie waren ein Nichts.79 Es geht Hannah Arendt nicht, wie vielleicht der Romantik, um die Eingliederung „in die substantielle Einheit irgendeines Volksgeistes“80, sondern darum, dass sie als ihrer Tradition Enterbte zu keiner Selbstbestimmung finden können. Es geht Hannah Arendt nicht um die Sehnsucht nach einer alten Ordnung oder gar um ihre Wiederbelebung und nicht um die Tradition als einer Verhaltensform. „Es geht um die Frage, wie viel Wirklichkeit auch in einer unmenschlich gewordenen Wirklichkeit festgehalten werden muss, um Menschlichkeit nicht zu einer Phrase oder einem Phantom werden zu lassen.“81 Der Mensch ist Erbe.82 Er darf um seiner Menschlichkeit willen nicht aus seinem Erbe herausgelöst werden. „Die Weitergabe ist für die Freiheit notwendig.“ Freiheit geschieht im Austausch auch mit den Alten. Die Erfahrungen der Alten und ihre Überlieferung sollen auch heute ihre Stimme behalten. Chesterton nannte „die Tradition die Demokratie der Toten.“83
Zugehörigkeiten
Der Liberalismus ist die Fiktion einer nur von sich selbst bestimmten Subjektivität, herausgelöst aus intersubjektiven Bedingtheiten, die in der Geschichte zum Tragen kommen.84 Mit dieser Fiktion scheint mir der Liberalismus in seinem Kern charakterisiert zu sein. Konkrete Freiheit löst sich nicht aus den geschichtlichen Zusammenhängen, sondern findet ihre Möglichkeiten in der Auseinandersetzung mit ihnen. Es fehlt dem Liberalismus chronisch der Sinn für das Konkrete und für die Differenzen, für die geschichtliche Bedingtheit von Vernunft und Moral. Apel sucht durch das Faktizitätsapriori, Habermas durch das Quasi-apriori der Lebenswelt diesen ungeheuren Realitätsverlust zu kompensieren. Hannah Arendt verlangt als Jüdin von den Schriftstellern, „der unheimlichen Realitätslosigkeit der reinen Menschlichkeit zu widerstehen.“85
Nochmals zurück zum Liberalismus in Religion und Theologie. Wenn es stimmt, dass der harte Kern des Liberalismus in der „Fiktion von der freien, religiösen Subjektivität“86 zu finden ist, dann werden verständlicherweise dem Liberalen die Zugehörigkeiten, etwa zu Gemeinde, Vaterland und Kirche, Geschichte, Kultur und Tradition zuwider sein. Die Zugehörigkeit zu einer besonderen partikulären Geschichte und Gemeinschaft widerspricht seiner Auffassung von sich selber und von seiner Religiosität. Das starke, aber nur historisierende Interesse des Liberalismus an der Geschichte zielt auf die kritische Abarbeitung ihres Anspruchs auf Verbindlichkeit. Fremd ist dem Liberalen auch der Wahrheitsanspruch. Bekenntnis und Dogma sind ihm deshalb widerwärtig. Schließlich kann er die unterscheidbare Deutlichkeit einer kirchengebundenen Religiosität nicht als eine Bringschuld des Christen in der Öffentlichkeit sehen. Zeugenschaft und Mission sind peinlich.
Bekehrung
Die liberale Haltung wird ganz und gar durch eine Konversion konterkariert. Der Liberalismus bietet für eine Konversion keine Voraussetzung; denn einem Konvertiten können die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, zu ihrer Tradition und Geschichte, ihre Wahrheitsansprüche und ihre Stellung in der Öffentlichkeit nicht gleichgültig sein. Newman sah sich zu einem solchen nicht-liberalen Schritt genötigt. Und er glaubte, sich dahin trotz mancher Zweifel von den geschichtlichen Voraussetzungen seiner Entscheidung, durch seine Biographie und durch die Kirchengeschichte geführt. Er sah sein Leben unter den nicht verallgemeinernden, sondern konkretisierenden Augen der göttlicher Providenz: „Du, o Gott, siehst mich.“ Ganz ähnlich hatte Augustinus in Bezug auf 1 Kor 13,12 formuliert: