Название | Letzte Erfahrungen |
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Автор произведения | Hermann Pius Siller |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783429060534 |
Schleiermacher
Eine so durchgreifende Strömung wie der Liberalismus lässt natürlich auch das Christentum und die Theologie nicht unberührt. Selbst an der katholischen Kirche und Theologie ging sie nicht spurlos vorbei, nicht in England, nicht in Frankreich, Holland, Italien und Deutschland. Der Modernismus und die Reaktionen von Pius IX. und Pius X. waren nur die deutlichsten Zeichen. Die antiliberale Signatur der römischen Kurie war so nachhaltig, dass man sich das bis heute fast nicht anders vorstellen kann. Andererseits zeigte das Zweite Vatikanische Konzil, dass sich die katholische Kirche wesentliche Anliegen des Liberalismus längst zu eigen gemacht hat; ohne dass freilich die liberalistischen Frontstellungen, die an der Kirche ständig hochgezogen werden, seltener werden. Dabei hatte die Theologie eine große Blüte des Liberalismus zuerst in der deutschen protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts hervorgebracht und dadurch selber zum Liberalismus einen wesentlichen Beitrag geliefert. Die historisch-kritische Bibelwissenschaft stand dabei über weite Strecken im Vordergrund. Eine andere, vornehme und bis heute nachhaltige Antwort auf den Liberalismus hat Friederich Schleiermacher formuliert. Ich will versuchen, ihn in seiner zentralen Denkfigur kurz zu kennzeichnen.
Der spätere Schleiermacher schreibt zum erstenmal eine Dogmatik als Darstellung des „christlichen Glaubens“, also nicht direkt der Glaubensinhalte; das meint, dass diese Dogmatik sich zwar an die Grundsätze der evangelischen Kirche halten möchte, aber sie entfaltet weniger ihre Lehre, als vielmehr die Auffassungen davon in den „christlichen frommen Gemütszuständen“58. Schleiermacher sucht eine Rekonstruktion der christlichen Religion aus der kirchlichen Frömmigkeit. Diese ist weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des „Gefühls“ oder – was damit gemeint ist – des „unmittelbaren Selbstbewusstseins“.59 So kommt Schleiermacher zu einem maßgeblichen Leitsatz, an dem sich seine Theologie orientiert: Religion ist das „Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit“, das „Betroffensein durch das Transzendente als Unendliches und Unbedingtes“60. „Gefühl“ darf freilich nicht sentimental missverstanden werden. Nach Steffens definiert es die Auffassung der unmittelbaren Gegenwart „des ganzen, ungeteilten Daseins“61. Schleiermacher charakterisiert die möglichen Sätze einer Glaubenslehre als Beschreibung menschlicher Lebenszustände. Alle Aussagen über die Welt und unser Handeln haben darin ihre Grundbedingung. Die Beschreibung der menschlichen Zustände ist für Schleiermacher die dogmatische Grundform. Alles andere ist nur zulässig, sofern es sich aus Sätzen dieser Grundform entwickeln lässt. „Wenn nun alle der christlichen Glaubenslehre angehörigen Sätze in der Grundform unstreitig ausgedrückt werden können und Sätze, welche Eigenschaften und Beschaffenheiten der Welt aussagen, doch erst auf Sätze von jener Form zurückgeführt werden müssen, … so scheint es, dass die christliche Glaubenslehre nur jene Grundform folgerecht durchzuführen habe, um die Analyse der christlichen Frömmigkeit zu vollenden.“62 Die Sätze müssen in Formeln für bestimmte Gemütszustände umformuliert werden, denen innere Erfahrungen entsprechen. So scheint mir, dass bei Schleiermacher das kirchliche Glaubensbekenntnis sein Kriterium und seinen verbindlichen Auslegungshorizont in der Beschreibung eines anthropologischen Zustandes, eben in einer „Erfahrung“ haben.63
Newman hat Schleiermacher und die deutschen liberalen Theologen selbst nicht gelesen, aber er hat die liberale Theologie in ihrem Grundriss adäquat verstanden. Er nimmt in ihr eine paradoxe Verwandtschaft mit den Evangelikalen wahr.64 Von den Evangelikalen sagt Newman: „Der Glaube oder die geistliche Gesinnung wird als Ziel der Religion angesehen. Der größere Nachdruck liegt auf dem Glauben statt auf dem Gegenstand des Glaubens, auf dem Trost und auf der Überzeugungskraft der Lehre statt auf der Lehre selbst.“65 So kommt es, „dass die Religion mehr in der Selbstbetrachtung als in der Betrachtung Christi bestehe; dass sie nicht einfach auf Christus schaue, sondern auf unsere Gewissheit.“66
Der Liberalismus belässt es nicht bei dieser evangelikalen Veränderung der Blickrichtung auf den geistlichen Nutzen, sondern formuliert daraus eine Kritik der Offenbarung, sowohl der biblischen Tradition als auch der Lehre. In der Biglietto-Rede lautet Newmans Darstellung der liberalen Theologie so: „Geoffenbarte Religion ist keine Wahrheit, sondern eine Sache des Gefühls und des Geschmacks, sie ist kein objektives Faktum, gehört nicht in den Bereich des Wunderbaren. Jeder einzelne hat darüber hinaus das Recht, ihr die Aussagen zuzuschreiben, die ihm gerade an ihr gefallen. Frömmigkeit gründet nicht notwendig auf Glauben.“67 So hat Newman wohl als einer der frühesten ernst zu nehmenden Kritiker die liberale theologische Denkstruktur deutlich erkannt und exakt angesprochen, ein halbes Jahrhundert vor dem großen Schleiermacherkritiker und Schleiermacherbewunderer Karl Barth.68
Wie bewältigt Newman den Liberalismus theologisch? Ich wiederhole: Der theologische Liberalismus war ihm zwar in seiner deutschen Version nicht unmittelbar vertraut, wohl aber die englische Variante aus seiner Zeit am Oriel. Diese Form des Liberalismus bestimmte zeit seines Lebens befruchtend und kritisch sein theologisches Denken. Um dies zu verdeutlichen, halte ich mich an eine Predigt, die er am 5. April 1835 gehalten hat,69 und suche in vier Abschnitten darüber zu meditieren, jedenfalls nicht historisch zu argumentieren.
Du, o Gott, siehst mich
„Geradeso ist es heute mit uns“ – ich zitiere aus der Predigt –. „Man spricht wohl im allgemeinen von Gottes Güte, seinem Wohlwollen, seinem Mitleid, seiner Langmut; aber man stellt sich dies vor wie eine Atmosphäre, welche die Welt umhüllt, oder wie sich das Sonnenlicht über das ganze legt – nicht wie eine sich stets wiederholende Tätigkeit eines wissenden, lebendigen Geistes, der sich bewusst ist, wem er sich kundgibt, und mit seinem Wirken auf etwas hinzielt. Darum wissen die Menschen, wenn sie in Trübsal geraten, nichts anderes zu sagen als: ‚Alles ist zum Guten, Gott ist gut‘ und dergleichen mehr, und davon fällt nur ein frostiger Trost auf ihre Seele, der ihre Leiden nicht mindert.“
Newman holt uns genau dort ab, wo wir liberalen Christen uns vorzüglich aufhalten: in einer unpersönlichen Atmosphäre, in einer Weltanschauung. Eine Person, ein fremder Wille, der uns behaften