Letzte Erfahrungen. Hermann Pius Siller

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Название Letzte Erfahrungen
Автор произведения Hermann Pius Siller
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429060534



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Allmacht; darum bewirkt es häufig, was es nicht will. „Die Folgen und Nebenfolgen entziehen sich seiner Kontrolle; sie werden unverfügbar.“56 Das Gutgemeinte ist oft nicht das Gute. Skeptischer und im Gegensatz zu Kants Vorsehungsüberzeugung formuliert Marquard: „Planung ist – jedenfalls häufig – Fortsetzung des Chaos unter Verwendung anderer Mittel. Das ist die List der Unvernunft: Die Machensallmacht des Menschen wiederermächtigt das Unverfügbare, das Verhängnis: ihr autonomer Kontrafatalismus entpuppt sich als konterautonomer Fatalismus; indem sie – machtselig – das Fatum vertreiben, rufen sie es gerade herbei.“57 Wir sind genötigt, bei aller mit Marquard gemeinsamen Kritik der Ausgangslage eine Unterscheidung zu treffen: Seine Refatalisierung ist noch nicht einmal ein gedanklicher Fortschritt. Die göttliche Vorsehung wohl. Die Refatalisierung negiert wiederum auf abstrakte Weise das abstrakte Ideal. Die Vorsehung dagegen geht an den idealen und konkreten Bedingungen des Handelns nicht vorbei.

       Schleiermacher

      Eine so durchgreifende Strömung wie der Liberalismus lässt natürlich auch das Christentum und die Theologie nicht unberührt. Selbst an der katholischen Kirche und Theologie ging sie nicht spurlos vorbei, nicht in England, nicht in Frankreich, Holland, Italien und Deutschland. Der Modernismus und die Reaktionen von Pius IX. und Pius X. waren nur die deutlichsten Zeichen. Die antiliberale Signatur der römischen Kurie war so nachhaltig, dass man sich das bis heute fast nicht anders vorstellen kann. Andererseits zeigte das Zweite Vatikanische Konzil, dass sich die katholische Kirche wesentliche Anliegen des Liberalismus längst zu eigen gemacht hat; ohne dass freilich die liberalistischen Frontstellungen, die an der Kirche ständig hochgezogen werden, seltener werden. Dabei hatte die Theologie eine große Blüte des Liberalismus zuerst in der deutschen protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts hervorgebracht und dadurch selber zum Liberalismus einen wesentlichen Beitrag geliefert. Die historisch-kritische Bibelwissenschaft stand dabei über weite Strecken im Vordergrund. Eine andere, vornehme und bis heute nachhaltige Antwort auf den Liberalismus hat Friederich Schleiermacher formuliert. Ich will versuchen, ihn in seiner zentralen Denkfigur kurz zu kennzeichnen.

       Du, o Gott, siehst mich

      „Geradeso ist es heute mit uns“ – ich zitiere aus der Predigt –. „Man spricht wohl im allgemeinen von Gottes Güte, seinem Wohlwollen, seinem Mitleid, seiner Langmut; aber man stellt sich dies vor wie eine Atmosphäre, welche die Welt umhüllt, oder wie sich das Sonnenlicht über das ganze legt – nicht wie eine sich stets wiederholende Tätigkeit eines wissenden, lebendigen Geistes, der sich bewusst ist, wem er sich kundgibt, und mit seinem Wirken auf etwas hinzielt. Darum wissen die Menschen, wenn sie in Trübsal geraten, nichts anderes zu sagen als: ‚Alles ist zum Guten, Gott ist gut‘ und dergleichen mehr, und davon fällt nur ein frostiger Trost auf ihre Seele, der ihre Leiden nicht mindert.“

      Newman holt uns genau dort ab, wo wir liberalen Christen uns vorzüglich aufhalten: in einer unpersönlichen Atmosphäre, in einer Weltanschauung. Eine Person, ein fremder Wille, der uns behaften