Letzte Erfahrungen. Hermann Pius Siller

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Название Letzte Erfahrungen
Автор произведения Hermann Pius Siller
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429060534



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zu unseren Bedürfnissen, ohne ihn in seine Souveränität wieder frei zu geben, die Gott überhaupt erst ausmacht. Die Selbstmächtigkeit und Selbstzufriedenheit dieser Atmosphäre hat etwas von der Kühle an sich, der auch auf den Systemen wie Markt, Verwaltung und Information liegt.

      Auf den liberalen Adressaten geht Newman auch mit der Erzählung von der Hagar aus der Abrahamsgeschichte zu: „Als Hagar vor ihrer Herrin in die Wüste floh, hatte sie die geheimnisvolle Erscheinung eines Engels, der sie zurückkehren hieß. Zugleich aber mit diesem unausgesprochenen Verweis für ihre Verzagtheit sprach er zu ihr ein Wort der Verheißung, sie zu ermutigen und sie zu trösten. In der Mischung von Beschämung und Freude, die sie empfand, erkannte sie die Gegenwart ihres Schöpfers und Herrn, der sich den Seinen stets in dem zweifachen Lichte kundgibt: einem strengen, weil er heilig ist, und einem milden, weil er von überfließender Erbarmung ist. Darum rief sie zu ihm, der sich ihr kundgetan hatte: ‚Du, o Gott, siehst mich‘ (Gen 16,13).“ Newman will sagen: Der Engel mahnt nicht „Richte deine Augen auf Gott“, sondern er stellt an den liberalen Adressaten eine ungeheure Zumutung: Du stehst in Gottes Aufmerksamkeit, er ist gegenwärtig, er sieht dich. Das ist ein Trost von anderer Qualität. Der Trost lautet nicht: Gott steht deinen Bedürfnissen zu diensten, wenn du deinen Blick auf ihn richtest. Sondern dir zuvorkommend hat er sich dir schon längst zugewandt. Nur weil er keine funktionale Verlängerung deiner Bedürfnisse ist, er also einen dir gegenüber souveränen Willen hat, nur deshalb ist er von unausdenkbarer überfließender Erbarmung.

      Um die Bedeutung des Ausrufes „Du, o Gott, siehst mich“ nochmals weiter zu explizieren, will ich eine phänomenologische Annäherung versuchen. Der phänomenologische Blick lautet: „Ich sehe dich.“ Die phänomenologische Perspektive hat einen Standpunkt, einen umgrenzten Horizont, einen Ausschnitt von Sichtbar-gemachtem aus einer größeren Menge von Nicht-sichtbar-gebliebenem. Das „ich sehe dich“ reduziert, weil es anderes verbirgt und verschließt. Die dabei leitende Intention wählt aus und konstituiert eine Vorstellung, projektiert eine Gestalt. „Ich sehe dich“ heißt immer auch: „Ich mache mir ein von anderen unterschiedenes Bild von dir“. Und: „Ich wirke an einem Bild von Dir mit“, „Ich mache das Bild“. Dabei dürfte die Schwierigkeit des Gesehenen bleiben, sich in einem Bild, das ein anderer von ihm macht, wiederzufinden und sich als dieser anzuerkennen. Die Differenz potenziert sich noch, weil auch das Selbstbild dessen, der sich von einem anderen gesehen weiß, nur ein Ausschnitt seiner Wahl, ein Projekt ist, das ihn nicht erschöpft. Es stoßen also zwei Konstrukte aufeinander: das Bild, das ein anderer von mir macht, und das Bild, das ich selbst von mir mache. Auf diesem Hintergrund ist die Erfahrung zu sehen, die in dem Ausruf laut wird „Du, o Gott, siehst mich“. Was Hagar erfahren hat, ist, dass Gottes Sehen, anders als ein endliches Sehen, nicht den begrenzten Standpunkt eines selektiven Sehens einnimmt; es abstrahiert keinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Gottes Sehen erfasst über alle reduzierten Selbst- und Fremdbilder hinweg mich in meiner auch für mich selber und für jeden anderen unüberschaubaren Komplexität. Er erkennt mich in meiner komplexen und umfassenden Bedingtheit durch viele andere, in einer von vielen mitgestalteten und einer von mir selber mitgestaltenden Lebensgeschichte. Das ist die Erfahrung, die in dem Wort Providenz angesprochen wird. Gottes Providenz ist äußerst konkret und konkretisierend, gerade weil sie umfassend ist. Das dürfte die beglückende Einsicht Newmans sein. Der Glaube, unter Gottes Augen zu leben, kann sich deshalb in dem befreienden Ruf Luft machen: „Du, o Gott, siehst mich.“ Früher als mein Sehen ist: Ich bin gesehen. Der Glaube an dieses Sehen, an die Providenz ist imstande, sich von den immer verkürzten Selbst- und Fremdbilder zu distanzieren, die eigenen oder von anderer Seite zugedachten Lebensprojekte in Klammer zu setzen oder vom Sockel zu stürzen. Der Glaube an die Providenz öffnet definitive Verstehensweisen, verunsichert Selbstbilder und Fremdbilder, schafft Bereitschaft, Neues und Anderes für möglich zu halten, auf Rufe und Winke zu merken. Der Glaube, dass Gott mich sieht, realisiert, dass ich noch einmal anders bin, als andere und ich selber es für möglich gehalten hätten.

       Der uns teilnehmend behütet

      Newman macht Providenz denkbar konkret: „Als der ewige Sohn in unserm Fleisch auf Erden erschien, sahen die Menschen ihren unsichtbaren Herrn und Richter; er offenbarte sich nicht mehr bloß im Walten der Naturkräfte oder in dem verschlungenen Lauf der Menschheitsgeschichte, sondern er offenbarte sich wie einer von uns: ‚Gott, der aus der Finsternis Licht aufgehen ließ, hat auch unsere Herzen erleuchtet, dass uns das Licht der Erkenntnis Gottes im Antlitz Jesu Christi leuchte‘ (2 Kor 4,6), also in sichtbarer Gestalt eines persönlichen Einzelwesens. Es war in gewissem Sinn eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht.“